Vom Reden und Schweigen.

[58] Neben dem äußeren Eindrucke ist noch ein anderer Punkt wesentlich in Betracht zu ziehen, von dem es abhängt, ob über uns ein günstiges oder ungünstiges Urteil bezüglich unserer gesellschaftlichen Fähigkeit gefällt wird, wir meinen die Art zu reden oder zu schweigen.

Sagt doch schon ein altes Sprichwort: »Reden ist Silber, Schweigen ist Gold!« Deshalb ist die schwerste Kunst für den, der mit der Gesellschaft angenehm verkehren will, das Schweigen. Damit ist nun durchaus nicht gemeint, daß man wortkarg sein oder einsilbig auf gestellte Fragen antworten soll. Ein guter Gesellschafter muß angenehm zu plaudern wissen, sonst gerät er in den Verdacht, ein beschränkter Mensch zu sein. Nur durch die Sprache vermag jeder seine gesellschaftliche Bildung zu erweisen, sich als liebenswürdigen, gewandten Gesellschafter zu betätigen. Deshalb ist Reden – Silber. Schweigen aber, das heißt das Schweigen zur rechten Zeit und am rechten Ort ist – Gold. Wie oft hat im Leben ein rasches Wort, eine unbedachte Äußerung nicht schon großes Unheil angestiftet! »Ein jeglicher Mensch sei schnell zum Hören, aber langsam zum Reden!« sagt schon die Bibel1 und dieser Satz ist so wahr, daß jeder in der Gesellschaft ihn zur Richtschnur nehmen sollte. In der Gesellschaft wird viel gesprochen – wer alles anhören kann und schweigen, der bleibt stets Herr der Lage. Denn was in der Gesellschaft meistens den Unterhaltungsstoff abgibt, das sind Angelegenheiten anderer, und es ist eine leidige Neigung der Menschen, gern vor des Nachbarn Tür zu fegen. Ein Kennzeichen der guten Gesellschaft ist es, daß sie dieser Neigung nicht nachgibt, daß diese nicht lobenswerte Eigentümlichkeit in ihr keinen Boden findet.

Besonders dem weiblichen Geschlecht ist diese Neigung eigen, wenigstens ist sie bei diesem allgemeiner, weil sie dort in der, dem weiblichen Geschlechte nun einmal anhaftenden Neugier einen guten Boden hat. Neugier aber darf ein wahrhaft gebildeter Mensch niemals zeigen; er wird[58] jede Frage, die er stellen will, gewissermaßen erst seinem eigenen Herzen vorlegen, und er wird sie bestimmt unterlassen, wenn sein Gefühl ihm sagt, daß er andere durch diese Frage in Verlegenheit setzen könnte.

Überall, in jeder Gesellschaft, gibt es Menschen, die als lebendige, Chronik gelten können, die förmlich darauf ausgehen, Neuigkeiten, und am liebsten solche, die unsere Mitmenschen betreffen, zu sammeln und weiter zu erzählen. Sie wissen stets alles, was sich ereignet hat, und tragen den Stoff von Familie zu Familie, auf diese Weise sich überall beliebt zu machen suchend. Derartige schwatzhafte, klatschsüchtige Menschen wird der wahrhaft Gebildete stets so viel wie möglich meiden; ist er doch ebenfalls stets der Gefahr ausgesetzt, auch einmal den Stoff für die böse Zunge jenes Neuigkeitenkrämers zu liefern.

Wie man sich also hüten soll, alles weiter zu erzählen, was man erfahren hat, so soll man auch nicht allzu freigebig sein mit den Ratschlägen, die man erteilen will. Unaufgefordert soll man wenigstens dergleichen niemals anbieten, denn es zeugt von Rücksichtslosigkeit, kann aber auch als klatschsüchtige Neugier angesehen werden.

Wird man aber aufgefordert, Rat zu erteilen, so tue man das mit größter Vorsicht. Gar oft sagt der Ratsuchende uns nicht alles, was er auf dem Herzen hat; er verschweigt uns einen wichtigen Umstand, der, wenn er uns bekannt gewesen wäre, unser Urteil wesentlich geändert haben würde. Nun geben wir unseren Rat – und der ist vielleicht gerade infolge jener Verheimlichung dem geheimen Wunsche des Bittenden entsprechend. Bald aber treffen Ereignisse ein, die kommen mußten und die wir vorhergesagt hätten, wäre uns alles bekannt gewesen, was wir nun erfahren. Dann wendet sich der Unmut des einstmals Bittenden gegen uns; in falscher Verblendung macht er den Ratgeber für alles verantwortlich, was gekommen ist, und zum Lohn haben wir schließlich Verdruß und Ärger.

Oder aber, der Rat, den wir gegeben, entspricht den geheimen Wünschen des Bittenden nicht. Dann befolgt er ihn nicht – macht aber womöglich, wenn wir ihm deshalb Vorstellungen machen, uns den Vorwurf, ihn schlecht beraten zu haben. Man erteile also nur dann, unter allem[59] Vorbehalt, einen Rat, wenn man mit der Sache, um die es sich handelt, völlig vertraut ist. Hat dann ein solcher Rat Segen gestiftet, so wird in den seltensten Fällen dem Ratgeber Anerkennung gezollt werden, denn Dankbarkeit ist heutzutage selten anzutreffen und ein Tor ist, wer darauf rechnet. Wenn aber das Unwahrscheinliche sich ereignen sollte, daß der, der unserem Rate seinen Erfolg verdankt, dies anerkennen würde, so schickt es sich, daß wir bescheiden den Dank ablehnen und uns den Erfolg nicht zumessen, besonders nicht fremden Personen gegenüber. Wenn wir uns durch unser Verhalten einen Freund erworben haben, so sei das der schönste Lohn. –

Hat der freundliche Leser die vielen wohlgemeinten Ratschläge gelesen, die wir vorstehend bezüglich der Kunst des Schweigens gegeben haben, so sei nun auch gesagt, was beim Reden, beim Plaudern schicklich ist.

Der Zweck dieses Büchleins ist ja nur, die im gesellschaftlichen Leben vorkommenden Ereignisse und das dabei von der guten Lebensart vorgeschriebene Verhalten zu erörtern. Wir brauchen uns also an die ser Stelle mit dem geschäftlichen Leben gar nicht zu befassen und haben nur Antwort auf die Frage zu geben: »Wie und was spricht man in der Gesellschaft?« Das ›Wie‹ anlangend, lautet die Antwort einfach: »Man spreche leicht und in gefälliger Weise.« In der Gesellschaft ›plaudert‹ man. Diese Bezeichnung soll aber ducchaus kein anderer Name für Klatschsucht sein. Die Plauderei will nichts weiter, als Erheiterung gewähren, die dahinfliegende Zeit vergessen machen und bei allen Teilnehmern das Bedauern erregen, nicht länger daran sich beteiligen zu können. Die Hausfrau oder der Hausherr, die es verstehen, eine Plauderei anzuregen und im Gange zu erhalten, haben für die Unterhaltung ihrer Gäste aufs vortrefflichste gesorgt. –

Man sucht ja doch Gesellschaften nur auf, um dort die Zerstreuungen zu finden, die das eigene Heim mit seinen Pflichten des alltäglichen Lebens uns nicht in gewünschter Weise bietet. Man will, geht man in Gesellschaften, unterhalten, aber nicht unterrichtet werden. Deshalb sind uns alle Menschen unerträglich, die immer im Tone des Belchlehrenden zu uns zu sprechen sich herablassen und hierbei[60] selbstverständlich auch noch eine gehörige Dosis Rechthaberei entwickeln. Wir wollen in Gesellschaften nach des Tages Mühen Erholung und Aufheiterung finden, deshalb sind wissenschaftliche, politische und religiöse Streitfragen zu vermeiden, da durch diese oft die Gemüter zu sehr erregt werden.

Vom schönen Wetter, oder, wenn Damen unter sich sind, immer nur von den Angelegenheiten der Hauswirtschaft zu reden, geht auch nicht an – was bleibt dann noch übrig? Nun, unter Gebildeten bieten sich doch nach eine Menge Anknüpfungspunkte. Da sind die neuesten Erscheinungen auf den Gebieten der Literatur, der Musik, und der anderen schönen Künste, ferner Reiseberichte, die Fortschritte der heutigen Naturforschung, soweit sie zu gemeinverständlicher Behandlung geeignet sind, und eine Menge andere Themen, die den Gesprächsstoff für die Gesellschaft abgeben. Nicht auf das ›Was‹ kommt es in der Plauderei an, sondern das ›Wie‹. Vor allem darf die Plauderei nicht fade sein; mit dem Worte ›geistreich‹ wird zuviel Mißbrauch getrieben, deshalb vermeiden wir es, denn ›Geist‹ gehört ja in erster Linie zur Belebung. Wenn beispielsweise ein ›Münchhausen‹ in der Gesellschaft sich befindet, der sich offenbar, gelinde gesagt, stärkster Übertreibungen schuldig macht – werden wir es ihm übel nehmen und nachtragen, sofern er seine – Aufschneidereien nur so vorzutragen weiß, daß wir dadurch unterhalten werden?

Die Plauderei ist ein tändelndes Spiel; kaum ist ein Stoff berührt, so führt irgend eine Bemerkung eines Anwesenden schon wieder zu einem anderen über und in beständigem Wechsel der Stoffe, in ihrer leichten Behandlung liegt eben der Reiz der Plauderei.

Wem es nicht gegeben ist, hierbei sich sattelfest zu zeigen und auch sein Körnchen Salz hinzuzutun, der höre lieber schweigend zu. Auch das ist eine Kunst, die geübt werden muß, und sie ist um so wichtiger, wenn wir uns Vorgesetzten oder im Range höher stehenden Personen gegenüber befinden. Zumal ältere Personen hören sich selbst gerne sprechen, und da sie von der Unfehlbarkeit ihrer Ansichten überzeugt sind, ertragen sie auch selten einen Widerspruch und betrachten einen solchen stets als eine Herausforderung.[61]

Selbst wenn jemand sich unter der Gesellschaft befindet, der die Unterhaltung allein führen zu wollen scheint, so ist es eine sehr heikle Aufgabe, ihm das Heft zu entwinden und die Plauderei wieder zum Allgemeingut aller Anwesenden zu machen. Wir möchten also jedermann raten, die chuldige Rücksicht auf die andern Teilnehmer nicht außer acht zu lassen; eine Plauderei immer anregend zu machen, ist eine dankbare Aufgabe – sie allein beherrschen zu wollen, hätte Verstimmung bei allen übrigen zur Folge.

Zum Schluß noch einige Ausdrücke, die in der gesellschaftlichen Unterhaltung zu vermeiden sind. Man spricht nie vom ›Schwitzen‹, vom ›Schnupfen‹, von der ›Verdauung‹ und über ›Hühneraugen‹. Man sagt auch nicht: »Fräulein X. hat kleine Füße, schöne Haare,« sondern: »einen kleinen Fuß, schönes Haar« usw.

Fußnoten

1 Jakobusbrief 1, 19.


Quelle:
Berger, Otto: Der gute Ton. Reutlingen [1895].
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