Anno 1717
§ 138

[339] Nun hatte ich zwar gemeinet, wenn nur diese zwei Tage vorbei, es sollte hernachmals mein Gemüte zu einer völligen und beständigen Freudigkeit gelangen, und alle fernere Furcht ausgetrieben werden; allein der Leib war doch einmal auch krank, folgentlich wollte nach den Feiertagen, und nach der Zeit das ängstliche, bange, und schwermütige Wesen im Gemüte noch nicht aufhören, welches einen so festen Grund in einem verdorbenen Geblüte hatte. Ich lief manchmal ins freie Feld, um im Gemüte heiter zu werden, seufzete, betete und schrie zu Gott, daß er meines Jammers ein Ende möchte machen, fragte ihn auch wohl und sprach: Ach mein Gott, werde ich dann auch noch einmal in meinem Leben, meine erste Gemüts-Freudigkeit wieder bekommen, oder werde ich dieses Kreuz und Marter-Holz Christo bis zur Schädelstätte, und bis in meinen Tod nachtragen müssen? o wie manchmal habe ich zur selben Zeit das bekannte Lied gesungen und angestimmet: Herr Jesu Christ ich schrei zu dir aus hochbetrübter Seelen, und darbei gedacht, was[339] doch dem Autori dieses Liedes müsse gefehlet, und in was vor einer Not der selbe müsse gestecket haben, da er das Lied verfertiget, weil alle Umstände und Expressiones desselben weisen, daß der Autor, da er es gemacht, nicht bei guten Tagen, und gutem geistlichen Mute, noch außer dem Stande der Anfechtung müsse gewesen sein.

Weil Donnerstag vor dem Kar-Freitage der Lebigüner [Weißbier] mein hitziges Haupt so trefflich ausgekühlet, so resolvirte ich kurz nach den Feiertagen dieses Bier zu meinem ordentlichen Getränke zu machen; wie denn auch mein Medicus selbst mich darzu veranlaßte. Allein wie es allemal mit meinem Leibe, und mit meines Leibes Schwachheiten beschaffen gewesen, so oft ich denselben abhelfen wollen: so war es auch dieses mal. Wenn ich ein Loch zustopfen wollen, so habe ich allemal, wo nicht deren zehen, doch gewiß andere dargegen eröffnet. Dieses kühlende Bier vertrieb mir nun zwar die Hitze im Haupte, und mit derselben die flüchtigen und erschrecklichen Gedanken; hingegen da die Kraft des Magens zu dauen dadurch geschwächt wurde, und allerhand Schleim im Magen, und in andern Gefäßen von der übeln Dauung sich sammleten, so wurde ich von neuen, und mehr als jemals in die 2 Jahr um ein leichtes mit Spasmis und innerlichen Convulsionibus, folgentlich mit großer Furcht geplaget, daß nicht ein Spasmus universalis, oder die bekannte Krankheit [Epilepsie] würklich daraus entstehen und ihren Actum bekommen möchte, vor welcher alle Menschen sich entsetzen. Ich erkannte zwar so viel, daß, wann ich wieder zu braunem, dickem, und stärkerm Biere, und zum Gebrauch des Weins und Brannteweins schreiten sollte, ich dieses Übel leicht wieder vertreiben würde; doch, da ich dabei besorgen müßte, es möchte dadurch das größere Übel, die Hitze des Geblütes, und des Hauptes, und die bösen Suiten desselben wieder rege gemacht werden; so erwählte ich lieber das geringere Übel zu leiden, als aufs neue mich in solche Furcht und Gefahr zu setzen, dergleichen ich 14 Tage vor Ostern ausgestanden. Ich versuchte unterdessen, ob ich nicht durch andere Arznei-Mittel dieses Übel der Zusammenziehung der Nerven vertreiben könnte, ohne die starken Getränke von Bier und Wein zu Hülfe zu nehmen; allein ich machte dadurch zu allem Unglück das Übel nur noch ärger.

Ich wurde curieux, einmal den Medicum zu verändern, und erwählte einen gewissen Magister, der noch im Leben, und der dazumal, weil er Medicinam studiret, hier und da curirte. Der[340] Vorwitz trieb mich dazu an, bei dieser Gelegenheit mit ihm bekannt zu werden, und zu hören, ob dem also sei, was man mir von seinen Sentiments und Meinungen in Religions-Sachen beigebracht hatte. Man hatte mir kurz zuvor von ihm erzählet, er wäre einst krank gewesen, und sein Herr Vater, ein berühmter Jurist, hätte ihm seinen Beicht-Vater über den Hals geschickt, der ihm vor seinem Tode die Irrtümer benehmen sollen, so er in Glaubens-Sachen hegte. Da er nun auf Begehren des Beicht-Vaters sein Bekenntnis, und was er von der Art und Weise unserer Rechtfertigung hielte, ablegen sollen, so hätte er sich verlauten lassen: Er glaube, daß er gerechtfertiget werde durch diejenige Gottseligkeit und Frömmigkeit, welche der Geist Jesu Christi würke. Diese Gottseligkeit und Heiligkeit sei die bessere Gerechtigkeit, welche Christus der pharisäischen vorgezogen, welche nur in Unterlassung der äußerlichen groben sündlichen Werke, v.g. des Ehebruchs, des Diebstahls, des Totschlags etc. bestanden, dahingegen die Gerechtigkeit, und Gottseligkeit, welche Christus zur Seligkeit nötig gemacht, auch in innerlicher Besserung des Herzens, in Verleugnung der Welt, Verschmähung aller irdischen Dinge, in der Liebe Gottes über alles, in der Liebe der Feinde, in Demut, Vergnüglichkeit, und in innerlicher Herzens-Reinigkeit, und also in den Tugenden bestehe, welche dem Geize, dem Hochmut und der fleischlichen Wollust entgegen gesetzt wären, und welche Laster die Pharisäer vor keine verdammliche Sünden hielten. Diese bessere Gerechtigkeit werde im Neuen Testament eine Gerechtigkeit des Glaubens genennet, weil kein Mensch dieselbe würde ausüben, noch auszuüben begehren, so lange er den Pharisäern, und nicht Christo glaubte: Hingegen solche auszuüben notwendig allen Fleiß anwenden würde, so bald er Christo glaube, der solche zur Seligkeit nötig gemacht, nach der bekannten Regel: Wie du gläubest, so lebest du, wie eines Menschen seine Sentiments, Urteile und Schlüsse sind, so sind auch seine Taten. Diese bessere Gerechtigkeit heiße im Neuen Testamente vielfältigmal Gottes Gerechtigkeit, weil sie so schwer, daß sie kein Mensch aus eigenen natürlichen Kräften ausüben könne, sondern Gottes Geist, oder Gottes Gnade müsse solche in ihm würken, und ihm selbe zu vollbringen Kraft geben; und darum sage auch die Heilige Schrift, daß die Menschen aus Gnaden selig würden, weil die Gerechtigkeit, so zur Seligkeit nötig, durch den Geist Gottes, und durch dessen Gnade gewürket würde.

Dieses erzählte man mir von ihm, und wer erweget [erwägt],[341] was ich nach der Zeit vor einen Tractat geschrieben, der wird sich nicht wundern, daß ich begierig worden, mit ihm Bekanntschaft zu machen, und zu diesem Absehen ihn zum Medico zu erwählen, weil seine Gedanken den meinigen, die ich dazumal hatte, sehr conform und gleichförmig waren. Wenn ich also bei seinem Besuch von dem, was meine Krankheit, und meinen Leib angieng, geredet, so ließ ich mich dann und wann auch mit ihm in einen Religions-Discours ein; es schien aber, als ob er mir, als einem Prediger, nicht recht trauen wollte, so daß er sich nicht weiter einließ, als daß er viel andere erbauliche und nützliche Dinge, und insonderheit von der Notwendigkeit eines heiligen, und gottseligen Lebens mit mir redete, auch so viel Erkenntnis und Erfahrung von Gottes Wegen und Würkungen in den Gläubigen und in seinen Kindern von sich blicken ließ, daß ich ihm nicht anders, als gewogen sein konnte.

Die Hoffnung aber, die ich hatte, daß er meinen Leib curiren, und mich völlig gesund machen kunte, wurde nicht so erfüllet, als ich gemeinet hatte. Ja die Milch-Kur, die er mir endlich erlaubte, weil ich selbst dazu so große Neigung, und so viel Vertrauen auf dieselbe gesetzt hatte, machte mein Übel nur noch ärger. Er befand zwar für gut, vor allen Dingen die Säure aus dem Geblüte zu vertreiben; allein die wenige Arznei, die er mir darwider eingab, mochte wohl noch lange nicht genug gewesen sein, ein von vielen und langen Jahren her verdorbenes und versauertes Geblüte zu ändern. Ich hatte also kaum einige wenige Zeit frühe die Ziegen-Milch in sauren Magen hineingegossen, so merkte ich gar bald, daß ich meinen Zustand noch verschlimmert hätte; und weil ich mich beredete, und bereden ließ, das Anhalten und beständige Fortsetzen der Milch-Kur werde endlich alle Säure selbst vertreiben, dergleichen ich etwan in einem medicinischen Tractate de Cura lactis in Arthritide [Milchkur bei Arthritis] gelesen hatte, so kann ich nicht sagen, in was für Not und Gefahr, und Furcht, daß dieses innerliche Übel endlich ausbrechen möchte, ich mich dadurch gestürzet hatte. Ich wußte eine Zeit lang nicht, wie ich die beiden Treppen in meinem Hause hinunter kommen sollte, weil [während] das Hinaufsteigen mir nicht so gefährlich war, als das Hinuntersteigen. Ich hielt einigen Studiosis in der Peters-Kirche ein Collegium Homiletico-Practicum. Mein Stand in der Kirche war nahe bei der Kanzel, wo ich mein Gutachten über die gehaltene Predigt zu erteilen pflegte. Es predigte einst ein Studiosus, der eine schwache Stimme hatte, und ich werde begierig zu erfahren, ob man[342] ihn auch in der Ferne würde verstehen und vernehmen können: vergesse aber meiner selbst, und gehe aus meinem Stande bis vorne hin, der Kanzel gegen über, wo der Seiger [Uhr] stehet. Ehe ich michs aber versehe, so werde ich von meinem innerlichen Übel angefallen, und ich gerate in tausend Jammer, und unsäglichen Kummer, wie ich wieder zur Kanzel hin den langen Weg kommen will. Wollte ich mit mähligem nur ein, oder zwei Schritte mich sachte nähern, so wurde mir seltsamer, und schlimmer. Endlich mußte ich es auf Gott lassen ankommen, und schritt so schnelle zu, bis ich wieder in meinen Stand kam, so daß die Membra Collegii sich notwendig wundern, und denken müssen, was mich doch zu diesem schnellen Gange, der schier einem Laufen ähnlich sahe, müsse beweget haben.

Weil durch Motion und Bewegung das Übel geschwächt wurde, wie ich alsbald an mir wahrnehmen kunte, so entschloß ich mich Montags nach dem I. post Trinitatis einen Spaziergang vorzunehmen. Ich gieng also zur Windmühl-Gasse hinaus, in Willens nach Wage zu gehen, und dies mit allem Fleiß, weil ich durch den weiten Weg desto besser Motion machen, und auch durch Schwitzen mir eine Güte tun möchte; indem vielfältigmal durch Schwitzen, wenn es ohne Arznei, und durch bloße Bewegung des Leibes geschehen, ich meine Zufälle erträglicher, und erleidlicher gemacht. Allein diesesmal kam ich sehr übel an. Ich hatte diesen einsamen Weg, auf welchem vielfältigmal weder Mensch, noch Hund anzutreffen, mir auserlesen, um desto besser im Gehen meditiren zu können; allein, da ich schon ziemlich weit von der Stadt entfernet war, so fieng an mein Übel rege zu werden, und in kurzem schlug die Furcht zu, daß auf diesem Wege kein einiger Mensch zu finden wäre, der mir könnte beispringen, wenn das Übel überhand nehmen sollte. Was das vor ein erbärmlicher, ängstlicher Weg gewesen, und wie ich mit Furcht und Hoffnung gerungen, nachdem das Übel bald nachließ, bald wieder anband, daran werde ich mein Lebtage gedenken; doch aber auch nicht gar zu umständlich, denn meine schwache Imagination erlaubt mir anders nicht, als nur summarisch und überhaupt an die Gefährlichkeiten zu denken, in welchen ich gestecket, und aus welchen mich Gott erlöset. Weil dieses Übel nicht wollte nachlassen, so mußte ich doch aus der Not wieder eine Pflicht und Tugend machen, und zum Weine abermal meine Zuflucht nehmen, und den Gebrauch desselben so mäßigen, als ich vor gut befand, die Nerven, und den schwachen Magen in etwas zu stärken; allein da ich noch Milch dabei trank, ob ich[343] gleich nur den Coffée mit Milch vermischte, so nahm das Übel noch mehr überhand. Insonderheit wurde ich Anno 1718 im Sommer von demselben recht sehr geplaget. Damit ich, wenn ich Catechismus-Examen von 2 bis um 3 Uhr hielt, desto mehr Kräfte zum Schreien hätte, so trank ich nach der Mahlzeit aufs höchste etwan zwei Gläser Wein; doch so lange ich noch des Morgens des Milch-Coffées mich bedienete, so merkte ich, daß ich mich nicht dadurch sowohl stärkte, als vielmehr schwächte. Ich wußte vielmal kaum, wie ich aus der Sakristei zum Volke auf den Platz, und auf den Stuhl kommen sollte, auf welchem der Catechete sitzet, gleichwie ich auf dem Stuhle selbst eine zeitlang, ehe der Leib durch Reden erwärmet und erhitzet, und zum Schweiß gebracht wurde, in Furchten stund herunter zu fallen; welches mir meine Catechisationes blutsauer gemacht hat, bis ich endlich sowohl die Milch, als auch den Wein gänzlich abandonirte, und beiseite setzte.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 339-344.
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