Anno 1698
§ 33

[85] Doch so hoch öfters mein Geist war, nach großen und ewigen Dingen strebte, hohe Projecte machte, und Mut, Herze, und Verwegenheit genung hatte, schwere und wichtige Dinge zu unternehmen; so war ich doch vielfältigmal auch wohl nur bei kleinen Dingen, wenn sie kaum unterfangen worden, der verzagteste Mensch, welches sattsam von meinem großen Maße der Melancholie zeuget, so ich durch die Natur empfangen. Die natürliche Furcht, und Blödigkeit [Zaghaftigkeit] hat mich nicht in der Welt lassen aufkommen, sondern gemacht, daß ich nur etwas weniges, wo nicht gar nichts, geworden; doch ist es vielleicht mein Glücke, daß mein Herze niemals so groß als mein Verstand gewesen, weil ich vielleicht ohne Not nur würde Turbas [Verwirrung] erreget haben. Ich merkte solche Furcht, und natürliche Blödigkeit schon im 20. Jahre; und, da ich spürete, wie sie mir im Umgange mit andern, und sonderlich vornehmen Leuten sehr hinderlich war, so daß ich meine Person nicht so, wie ich wünschte, agiren, und recommendiren [herausstreichen und empfehlen] kunte; so betete ich zu Gott, daß er mir mehr Mut, und ein solches weites Herz, wie Salomo gehabt [vgl. 1. Kön. 3,12], geben möchte; da ich aber Senecæ Brief las, in welchem er weiset, daß die verecundia naturalis ein malum incurabile, und ein unheilbares Übel sei, und einem Menschen Zeit seines Lebens anhange; so ließ ich in dieser Sache allen Mut und Hoffnung sinken.

Ich war noch keine Meile von meines Vaters Hause bis in mein 22. Jahr weggekommen; und doch hatte ich An. 1698 die Verwegenheit eine Reise von 5 Meilen zu Fuße in einem Tage, ja[85] in einem Morgen zu wagen. Der Zotenberg in Schlesien ist bekannt: man kann denselben im ganzen Lande sehen. Er liegt 5 kleine Meilen von Breslau; und, wenn ich zu meines Vaters Haus-Türe hinaus sahe, so hatte ich denselben in Augen. Wir konnten ihn in der Vorstadt statt eines Kalenders, oder Wetter-Glases brauchen, und aus seiner Beschaffenheit schließen, ob wir Regen oder gut Wetter, Frost oder Hitze haben würden. Die Begierde diesen Berg zu sehen, und auf denselben zu kommen, weil er von ferne nicht wie ein Berg, sondern wie das Finstere bei einem Donner-Wetter das sich aufgezogen, aussiehet, hatte mich vom zehenden Jahre an, nicht wenig geplaget; und jetzt, da ich erwachsen, und manches in der Physica von Bergen gehöret und gelesen hatte, wurde sie noch größer. Was tat ich? Ich beredete 7 Studiosos aus dem Elisabethanischen, und 6 aus dem Maria Magdalenaischen Gymnasio, daß sie mit mir Compagnie machten, und im Johannis-Jahr-Markte, da wir in der Schule vier Tage Ferien hatten, zu Fuße die Reise dahin mit mir antraten. Wir machten uns also den Tag nach dem Johannis-Feste [24. Juni] früh um 4 Uhr auf. Die Zeit ward uns nicht lang, indem ich die aufgewecktesten und lustigsten Humeurs [Typen] dazu auserlesen hatte. Unter Wegens, als uns hungerte, hielten wir uns beinahe eine Stunde mit Frühstücken auf, kamen aber um 12 Uhr in dem Städtgen Zoten, das unten am Berge liegt, an. Eine Stunde hielten wir Mittags-Mahlzeit, welche schlecht [einfach] genug war. Nach der Mittags-Mahlzeit waren zwar einige gesonnen, den Tag auszuruhen, und das Steigen auf den Berg bis auf den folgenden Tag zu verschieben; doch das Bier nutzete nichts, und meine große Begierde, bald das Ziel meiner Reise zu erreichen, ließ mir keine Rast, noch Ruhe. Ich beredete demnach 6 aus den Reise-Gefährden, daß sie mit mir auf den Berg giengen. Man brauchte 3 Stunden, ehe man auf die Spitze desselben kam, und es mochte ohngefähr 4 Uhr sein, da wir solche erreichten, und die Kapelle besahen, die ganz oben auf dem Berge stehet.

Sehet aber da einen Streich, und ein Exempel, das in das Buch der Weisen und Narren gehöret, welches Thomas Fritsch vor einigen Jahren edirte. Da wir oben waren, und uns nun lange genug umgesehen hatten, und an das Wiederheruntergehen gedenken sollten, hatte ich einen unvergleichlichen Einfall. Ich sagte: Eben den Weg wieder herunter zu gehen, den wir herauf gekommen, ist eine verdrüßliche Sache: wir wollen den Weg erwählen, der auf der andern Seite des Berges hinunter gehet; wer weiß, ob[86] wir da nicht noch einige Curiosa antreffen, die wir auf dem ersten Wege noch nicht gefunden haben. Dictum factum [Gesagt, getan]. Die andern stimmten gleich ein, und war einer so einfältig wie der andere. Wie wir 3 Stunden gebraucht hatten hinauf, so mußten wir auch 3 Stunden haben wieder herunter zu kommen. Das geschah auch. Ohngefähr in der 8. Stunde kamen wir in ein eben Feld, so unten am Berge lag, und nicht weit vom Fahrwege war, der aber nach der Stadt Schweinitz gieng, welche wir auf dem Berge deutlich hatten liegen sehen. Wir trafen einen Bauer auf dem Felde an, den fragten wir, auf welcher Seite des Berges wir am geschwindesten wieder in die Stadt Zoten kommen könnten. Der Bauer lächelte und sprach: Heunte [heute abend] werdet ihr wohl nicht nach Zoten kommen. Wir erschraken nicht wenig, da wir merkten, daß es des Bauern sein ganzer Ernst war; denn wir einfältige Tropfen hatten nicht an den großen Umfang, den ein großer Berg unten hat, gedacht; gleich als obs nur so wäre, als wie, wenn man im Schieß-Werder auf den Schieß-Berg hinauf, und die andere Seite wieder herunter, und leicht hernach um den Berg herum gehen kann. Wir armen Tiere mußten beinahe 4 Stunden haben, ehe wir wiederum in das Städtlein kommen konnten. Wir waren so entkräftet, daß wir hätten mögen auf dem Maule liegen bleiben, und resolvirten [beschlossen] schon, auf dem Felde unter freiem Himmel zu schlafen, weil es nicht kalt war. Doch wir erholten uns, fasseten einen Mut, und kamen um 12 Uhr des Nachts hungrig, und durstig bei der Compagnie, die wir verlassen hatten, wieder an. Nachdem wir in der Eile etwas gegessen, und getrunken, legten wir uns auf die Streue, auf welcher die andern schon lagen. Ich schlief gar bald ein, welches leicht zu denken; aber um 4 Uhr, da ich erwachte, überfiel mich eine solche Angst und Bangigkeit, die ich nicht mit Worten beschreiben kann. Ich fürchtete, ich möchte vor Mattigkeit, die ich noch in allen Gliedern spürete, krank werden, und in diesem fremden Orte liegen bleiben. Ich besorgte auch Verantwortung, weil sich auf der Reise ein Gymnasiaste zu uns gefunden, der einem Schul-Collegen [Lehrer] die Fenster eingeschmissen, und darüber relegiret worden war, welchen man jetzund überall aufsuchte, und was der ängstlichen Gedanken mehr waren, so mich plagten. Was tat ich? So matt und müde ich war, so stehe ich doch in der 5. Stunde von der Streue, da ich vor Angst nicht länger zu bleiben wußte, auf, ziehe mich an, und laufe ganz alleine den Weg wieder zurücke, den ich gekommen war, und gelange zu Mittage um 12 Uhr vor[87] Breslau wieder an. Ich würde noch in größere Not und Angst geraten sein, wenn ich nicht zu allem Glücke bei dieser Gelegenheit meinen Bruder auf den Sieben-Huben zu besuchen, und bei ihm auszuruhen mich entschlossen hätte, von welchem ich erst den andern Tag darauf durch ein ander Tor wieder in die Stadt gieng. Denn die 12 Commilitones, so durch eben dieses Tor denselben Tag des Abends wieder gehen wollten, durch welches wir heraus gegangen, wurden alle im Tore angehalten, gefangen genommen, auf das Rat-Haus geführet, und eingesteckt. Bei der Verhör sollten sie sagen, wo sie den Studiosum gelassen, der dem Schul-Herrn die Fenster eingeworfen; denn es war heraus gekommen, daß derselbe mit uns Compagnie gemacht hätte, oder der Schul-College war auf die Gedanken kommen, als ob wir ihm das Geleite auf seiner Flucht hätten geben wollen. Wer war froher, denn ich, daß ich solchem Unglück entgangen! Ich glaube, meine Mutter wäre des Todes gewesen, wenn sie gehöret hätte, daß ich auf dem Rat-Hause gefangen säße.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 85-88.
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