Anno 1698
§ 35

[89] Dieser Fürwitz auf diesen Berg zu steigen, den ich teuer genug, und mit viel Angst und Not bezahlen müssen, hätte nun meiner Verwegenheit, und Tollkühnheit steuren sollen; denn wer so ein furchtsam Animal [Lebewesen], und zur Furcht höchst geneigt ist, muß solche Dinge meiden, so die Furcht erregen. Aber ich hatte kaum 2 Tage ein wenig an Kräften mich erholet, so wag ich es, und fahre mit den Glogauischen Kutschen, so bei meinem Bruder in der schönen Stube beständig stunden, nach Groß-Glogau, so 14 Meilen von Breslau gelegen. Die Meinung [Absicht] war gut, die ich hatte. In einem Jahre gedachte ich eine Reise von 42 Meilen, nämlich nach Leipzig auf die Universität zu tun; so sollte dann diese kleine Reise gleichsam eine Præparation auf die große sein, damit ich solche auszustehen desto geschickter wäre. Ich hatte auch im Sinne, meines Vaters Geburts-Stadt, Primckenau, zu sehen, so ein kleiner Ort, und nicht weit von Glogau entfernet ist. Wie uns mein Vater erzählet, so waren seine Eltern allem Ansehen nach wohlhabende Leute gewesen; die Pest aber hatte dazumal so gewaltig grassiret, daß von 21 Personen, aus welchen seine Familie bestanden, und die alle schier in einer Nacht durch die Pest hingerissen worden, er allein übrig geblieben. Und, weil er als ein kleiner Junge nicht gewußt, was er anfangen sollen, so war er in der Tummheit so weit gelaufen, so weit ihn seine Beine tragen können, bis er zu einem Bauer gekommen, der ihn aus Erbarmen zu sich, und ihn in seinen Dienst genommen. Allein ich war kaum den andern Tag in Glogau angekommen, nachdem ich die vorige Nacht, weil die Kutschen des Sommers kein Nacht-Lager halten, wenig oder nichts geschlafen hatte; siehe, so wollte ich schon wieder davon laufen. Die Furcht und Bangigkeit war so groß, daß ich glaube, ich wäre in stockfinsterer Nacht wieder[89] davon gegangen, wenn mein Kutscher es zugelassen hätte, und die Tore nicht schon geschlossen gewesen wären. Nach meines Bruders Absehen sollte ich 8 Tage daselbst bleiben, und mich ein wenig umsehen; aber gleichwie ich Sonnabends kommen, so reisete ich schon wieder Montags drauf mit dem Kutscher zurücke. So eine furchtsame, und miserable Kreatur bin ich mein Lebtage gewesen, so daß der Geist der Zaghaftigkeit, und der Verzweifelung mich oft bei den geringsten und nichtswürdigsten Fällen angefallen. Sein Logis verändern, und aus einem Hause ins andere zu ziehen, ist vielen nur eine geringe Sache, aus der sie sich nichts machen; mir aber hat solches in meinem Leben gemeiniglich so viel Angst, und Not, und Sorgen gemacht, daß ich oft darüber in rechte Anfechtung geraten, wie ich vielleicht hie, und da besser unten anmerken werde.

Doch ist die Furcht auch zu vielen Dingen gut. Sie hält einen von manchen Sünden ab, wozu andere Menschen Herz, und Gelegenheit genug haben; insonderheit, wo man das Gift der Sünden, und die Bitterkeit, welches sie nach sich ziehet, einmal schon geschmecket hat. Und so man es ja wagen, und wiederum sündigen will, oder sich aus Schwachheit zu etwas läßt verleiten, was wider Gottes Gesetz ist; so ist diese Furcht dasjenige, was einem die genossene Lust sattsam vergället, und das Gemüte in nicht geringe Unruhe setzet, und machet, daß man sich desto mehr vor allen Sünden hütet. Ich habe solches mehr, als einmal in den letzten Gymnasiastischen Jahren erfahren. Die ehemaligen Sünden hatten bei mir wohl nicht mehr die Herrschaft; es geschahe aber doch wohl, daß ich das eine, oder das andere mal im Kampfe wider die Sünde unterlag, und aus Übereilung, oder durch einen unvermuteten Affect hingerissen, etwas tat, das nicht recht war. Doch, wie es bei bekehrten Christen beschaffen, man findet das in der Sünde nicht mehr, was man ehedessen gefunden. Man gehet mit Zittern dran, solche zu begehen, und mit noch größerm Zittern kommt man von der Sünde zurücke, so daß man nicht die halbe Lust derselben genießt, die man sonst genossen, und der Sünden nicht recht froh wird.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 89-90.
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