Anno 1699
§ 36

[90] Es kommt zu solchen Zeiten dem Menschen auch wohl zu statten, daferne er allerhand zu tun bekommt, und der äußere Mensch nicht müßig gelassen wird. Arbeit [Mühe], und auch[90] wohl allerhand Verdrüßlichkeiten machen nicht selten, daß einer auch nicht einmal Zeit hat, an seine ehemalige Sünden zu gedenken, ich geschweige denn, daß er sie von neuem tun sollte. Es rückte mit mähligem der Frühling des 1699. Jahrs, und die Zeit meines Abschiedes aus Breslau, heran. Ich schrieb nach Leipzig wegen der Wohnung, und gab Suppliquen [Bittschriften] ein an die Kaufmannschaft, Innungen, und an alle Gemeinden in Kohl-Gärten, und in der Vorstadt, um ein Viaticum oder Zehr-Pfennig auf die Reise zu colligiren [sammeln]; worinnen ich auch sehr glücklich war, indem meine Eltern und Geschwister einen guten Ruf in der ganzen Vorstadt bei den Leuten hatten, und es auch noch nicht war erhöret worden, daß eines Kräuters, oder Kohl-Gärtners Sohn studiret hätte. Über dies mußte ich mich auf das Examen, weil mir ein Stipendium vom Rat auf 3 Jahr war versprochen worden, geschickt machen, und an der Oratione valedictoria [Abschiedsrede] arbeiten, welche die Stipendiaten zu halten pflegen. Dieses alles hielt dem alten Adam, so zu reden, den Daumen auf den Augen, oder ihn am Kreuze, woran ich ihn zur Zeit der Buße geschlagen hatte, so feste, daß er sich nicht nach seinem Gefallen regen, und bewegen konnte. Ich geschweige der Widerwärtigkeit und der Kränkung, so ich in dem Hospitio [Haus von Dr. Kaltschmidt] von der Junge-Magd leiden mußte, welche im Hause herrschte, und sich in meine Information [Unterricht] mit den Kindern mischen wollte, und, da ich mich derselben widersetzte, mich bei der Herrschaft verunglimpfte, und bald großen Zank angerichtet hätte. Ich wurde im Traum vor ihr gewarnet; aber, wie ich oben schon gemeldet, wenn man sich auch noch so sehr vor dem hütet, was man sich aus einem Traume prognosticiret, so entgehet man doch selten dem Übel, dem man zu entgehen suchet. Es träumte mir kurz zuvor, als ob ich mich mit einer Katze balgete, und herum schmisse, die mir nach dem Gesichte springen wollte. Ich hatte schier die ganze Nacht im Traume mit dieser Katze zugebracht: Du magst wohl der Teufel, und keine Katze sein, sprach ich träumend; und siehe, da ich derselben endlich mächtig wurde, und sie von meinem Leibe los rieß [riß], und von mir warf, so wurde aus dieser Katze die Junge-Magd, und darüber erwachte ich. So höflich und gütig ich auch gegen dieselbe nach diesem Traume war, und mich vor derselben in acht nahme, so viel ich konnte, so konnte ich doch ihrer Tücke, und Bosheit nicht entgehen.

Ich glaube, ich hätte noch besser im Examen bestanden, wenn[91] diese und andere Verdrüßlichkeiten mich nicht an der Praepara-tion auf dasselbe verhindert hätten. Der jetzige Welt-berühmte Herr Hof-Rat Wolff war auch mit unter den Stipendiaten, und ward zugleich mit examiniret, von 2 Uhr Nachmittage bis um 6 Uhr. Ich hatte schon längst Scharfii Metaphysicam beinahe auswendig gelernet, und auch manche Stunde auf den Scheiblerum gewendet, um mit den päbstischen Studenten desto besser disputiren zu können, so oft ich mit ihnen in Compagnie kam; meinte also wunder, wie ich in diesem Stücke im Examine bestehen sollte. Aber der Herr Hof-Rat Wolff übertraf darinnen uns alle, so daß auch die Hohen des Rats, und die Assessores der Geistlichkeit nicht wenig Vergnügen darüber bezeugten. Er kam nicht sonderlich in Compagnie, vielweniger in die Häuser, wo wir Gymnasiasten sowohl aus dem Elisabethanischen, als Maria-Magdalenæischen Gymnasio oft zusammen zu kommen pflegten. Sonst gieng er in Kleidern schlecht [schlicht], doch reinlich einher; wie er denn auch nur eines Gerbers Sohn war, distinguirte sich aber sehr von andern wegen seines fleißigen Studirens, und guten Profectuum [Fortschritte], so er in Studiis hatte. Manche Studiosi, sowohl auf den Gymnasiis, als Academien, wollen vor der Zeit Staat machen, und meinen, es sei ein hauptnotwendig Stück, sich propre, und nett in Kleidern zu halten, und in täglicher honetten [galanten] Conversation zu leben. Ob nun wohl solches nicht ganz zu mißbilligen, so lobe ich doch diejenigen, welche in der Jugend auf solche Dinge die wenigste, auf das Studiren aber die meiste Zeit wenden. Wenn einer erst was Rechtes in der Welt gelernet, und sich zu einem nützlichen Werkzeug, oder der Welt gar notwendig gemacht, so wird es ihm hernach an Umgang, oder Conversation nicht fehlen. Er wird nicht Compagnie suchen dürfen, sondern man wird ihn da und dort selbst suchen, und bald in diese, bald in jene Gesellschaft zu ziehen trachten. Darinnen wird er schon so viel Höflichkeit und Civilité zur Not lernen, als einem Gelehrten unentbehrlich ist. Es müssen auch eben nicht alle Gelehrte, dem Exterieur und der äußerlichen Aufführung nach, große Politici [Weltleute] sein, und alle Hof-Manieren ausstudiret haben, dafern sie nicht vor den Hof studiret. Eine große Erudition [wissenschaftliche Bildung] ist allemal fähig eine kleine Pedanterie, so in äußerlichen Moribus und Sitten sich noch sehen lässet, zuzudecken, wie Schurzfleisches Exempel solches beweiset. Und wann Herr Wolff noch jetzo die Gewohnheit hätte, die er hatte, da er noch ein Magister legens in Leipzig war, und denjenigen[92] bei dem obersten Knopfe im Kleide kriegte, und anfaßte, mit dem er vertraut reden wollte; so würde ihn solches so wenig, als den Geheimden Rat Gundling verstellen [bloßstellen], der zuweilen gleicher Freiheit sich bedienete, wenn er mit seinen Auditoribus [Hörern] redete; wie ich solches selbst einst an ihm angemerket, welches doch nach Bellegardes Urteil mit dem Decoro [Schicklichen] streitet.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 90-93.
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