Anno 1699
§ 38

[95] Auf Leipzig hatte ich mich längstens gefreuet, wie die Kinder auf den heiligen Christ. Denn ich hatte mir nicht nur vorgenommen, alsdenn fleißiger zu studiren, wenn ich nicht mehr zu præceptoriren [unterrichten], wie auf dem Gymnasio, würde genötiget sein, sondern auch viel frömmer, und heiliger zu leben, wenn ich die verführische Gesellschaften nicht mehr so nahe, und täglich, wie zuvor, um mich haben würde. Ich machte auch gleich Anstalt meine gute Vorsätze zu vollziehen; doch so willig der Geist war, so war das Fleisch doch oft schwach genug [Matth. 26,41], so daß ich mich zuweilen recht grämte, wenn ich in Ausübung des Guten wider meinen täglichen habituellen und beständigen Vorsatz handelte, und aus Schwachheit sündigte. Ich dachte, sprach ich bei mir selbst, Leipzig sollte es mir lindern, und nun zubricht mir Gott abermal meine Gebeine, wie ein Löwe [Jes. 38,13 f.], und macht, daß ich wider mich selbst bin, und mit mir täglich streiten muß. Auch die Sünden, die uns noch ankleben, machen einen Christen träge [Hebr. 12,1], und verdrossen nicht nur zur fernern Fortsetzung der angefangenen Gottseligkeit, sondern auch zu den ordentlichen Berufs-Werken. Es vergieng mir allezeit ein Teil der Lust zum Studiren, so oft mir die Sünde immer neue Unlust machte. Doch faßte ich mich; und weil nur [eben erst] die Sünde nicht mehr herrschte [Röm. 6,12.14], sondern ich einen aufrichtigen Haß und Eckel gegen dieselbe in mir spürte, so legte ich meine Hand wieder an den Pflug [Luk. 9,62], so gut ich kunte, in Hoffnung, im Gutem immer fester und standhafter zu werden.

Ich war willens Theologiam zu studiren, und ein Prediger zu werden; so fand ich denn vor gut, je eher, je besser auf einem Dorfe zu predigen, und eine Probe von meinem Gedächtnis und Gaben zu machen. Ich tat es auch, und predigte das erstemal 1699 am Johannis-Fest [24. Juni] in Leitsch bei Herr M. Lochmannen. Die Predigt gieng mir so von statten, daß Herr Lochmann sein Wohlgefallen darüber in den meisten Stücken bezeugte, und mich in meinem Vorsatz bei der Theologie zu bleiben befestigte. Ich wollte es an einer Probe nicht genug sein lassen, sondern predigte das anderemal den X. Sonntag nach Trinitatis[95] zu Schönau, noch in eben demselben Sommer. Es würde solche Predigt mir noch besser vom Munde gegangen sein, als die erste, wenn mich nicht die Edelleute in der Kapelle mit ihrem Plaudern auf eine gute Zeit aus dem Concept gebracht hätten; wiewohl ich hernach vernahm, daß meine Fertigkeit, und Natur-Gaben, und ihre Approbation [Zustimmung], so sie darüber gehabt, dasjenige gewesen, was sie zum Discuriren [Sprechen] unter der Predigt veranlasset. Es gieng mir also bei dieser Predigt, wie mir die Nacht zuvor geträumet. Mich deuchte im Traume, als ob ich nach Schönau führe, und als ob der Kutscher in einem Loche mit dem Wagen stecken bliebe, so daß wir alle Not und Mühe hatten heraus zu kommen. Das, was mir auf der Kanzel begegnete, sahe einem solchem Zufalle [Unfall] ganz ähnlich. Nach der Zeit habe ich alle Jahre, oder alle halbe Jahre nur einmal, oder doch in den ersten 4 Jahren jedesmal mit der Bedingung geprediget, daß mir die Predigt 3 Wochen, oder 14 Tage, oder auf das kürzeste [wenigstens] 8 Tage zuvor mußte aufgetragen werden, damit ich das Thema recht ausarbeiten, Bücher darüber lesen, concipiren, und fertig auswendig lernen könnte, und nicht genötiget würde, die im Studiren gemachte Ordnung und circulos studiorum meorum zu turbiren, und Collegia auszusetzen [ausfallen zu lassen]; worinnen es viel Studiosi versehen, die nicht nur aus dem Predigen ihr Haupt-Werk, und ihr einiges [einziges] Notwendige machen, und, wann sie mit einem Fuße noch auf der Kutschen, auf welcher sie nach Leipzig kommen, mit dem andern schon auf der Kanzel stehen, sondern auch noch dazu den Fehler begehen, daß sie bald Anfangs den Candidatis, und Predigern, so im Amte stehen, es gleiche tun, und Predigten annehmen wollen, welche ihnen eine Woche, ja manchmal nur einen Tag zuvor angetragen werden, und dabei alles andere Studiren, und Collegia bei seite setzen und versäumen müssen.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 95-96.
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