4. Siebenlehn.

[37] Ist denn nicht die Erde, die unser Fuß betritt, überall die gleiche? Weshalb denn zittern mir die Knie, als ich den kurzen Weg nach dem Städtchen einschlage? Warum klopft mir das Herz, wie einem Kinde, das vor der Weihnachtsstube steht und das Bekanntes und Neues zu finden erwartet? Hat heimische Erde einen besonderen Zauber an sich?

Zögernd, mit einem Gefühl, gemischt aus Neugier und Erinnerung, betrete ich die Niederstadt. Vieles ist anders und besser, und doch berührt mich das Neue nicht angenehm. Das aber ist geblieben: Die Schusterfrauen sitzen noch wie vor vierzig Jahren auf ihren dreibeinigen Schusterschemein vor ihren Türen, und ziehen fleißig den Pechdraht durch die Schäfte der Stiefel. Freilich, andere saßen damals hier!

Bei meinem Gruß schauen sie neugierig auf, und sehen mir nach.

Ich blieb suchend stehen. Hier hatte doch das Häuschen der Großeltern gestanden!? Das neue, das seine Stelle einnahm, hatte kein Interesse für mich. Seufzend ging ich weiter, langsam stieg ich den Berg hinan, der zum Marktplatz führt. Fremdes, Neues und alt Bekanntes mischte sich auch hier. Das Haus des Schmiedebäckers[37] war verschwunden. Der Platz, wo früher im Sommer durch all die Kindheitsjahre hindurch das Laudel-Rieckchen mit ihrem Obstkorb saß und pfennigweise ihr Obst an die naschhafte Jugend verkaufte, der war leer!

Ein bestimmtes Ziel hatte ich nicht. Ich suchte Genossen meiner Kindheit, ich suche bekannte Häuser.

Wie still war der Marktplatz und wie klein! War das denn immer so gewesen? Wer mochte wohl der alte Mann sein, der sich mir langsam näherte? Ich rede ihn an, ich frage ihn nach der Nendel-Lore.

Er sieht mich scharf an und sagt zögernd: »Die? Dio ist schon lange mit dem Schuster Putzger verheiratet. Sie wohnt da drüben.«

»Sie sehen,« sage ich entschuldigend, »daß ich nicht mehr recht Bescheid weiß, ich bin lange weg gewesen, nun möchte ich doch auch gern wissen, wie Sie heißen, vielleicht treffe ich in Ihnen einen alten Bekannten.«

»Ich heiße Petzold,« sagt der Mann.

»Ach ja,« rufe ich lebhaft, »Sie wohnen der Apotheke gegenüber, Sie sind Lohgerber, Sie waren einmal Schützenkönig, als ich Kind war!«

Der Mann lächelt: »Das war mein Vater!«

Ich sehe ihn sinnend an, und sage mir, daß ich bei jedem Wiedersehen daran denken muß: »Es liegen vierzig Jahre dazwischen.«

»Nun,« sage ich, »dann sind wir wohl Schulgefährten gewesen, ich bin die Charitas vom Forsthof. Sie können sich gewiß nicht besinnen.«

»Ei freilich,« sagt er erfreut und ladet mich ein, im Vorbeigehen doch mal bei ihm vorzusprechen.

Er bleibt stehen und schaut mir nach, er steht noch auf demselben Fleck, als ich in das bezeichnete Haus trete. –[38]

Als ich die Tür öffne, steht ein kleines verwelktes Figürchen mit ergrautem Haar in der Küche und mustert mich erstaunt. Ich nenne meinen jetzigen Namen. Sie schüttelt sinnend den Kopf, während ihre dunklen Augen forschend auf mir ruhen.

»Nun,« sage ich lachend, »laß den Namen, kannst du dich denn noch auf die Charitas besinnen?«

»Charedas!« ruft sie erstaunt, »ja, wenn du schon die Charedas bist, dann geh' nur rein, ich komme gleich, ich will nur meinen Mann rufen.«

Ich brauchte nicht lange zu warten, da kam sie wieder. Sie war nun ganz Verwunderung und Teilnahme. »Daß du doch noch mal wieder kommst!« sagte sie aufgeregt. »Wie ist das lange her, seit wir miteinander gespielt haben! Wie oft bin ich mit dir gelaufen, wenn du Kräuter suchtest, und wie viel kamst du zu uns! Und dann warst du mit einemmal weg, so weit weg! Ich hab' mich recht nach dir gebangt, hab' erst noch gehofft, du würdest mir schreiben. Es blieb mir aber nichts von dir, als die kleine Puppenkommode – du weißt wohl? – Und das Leibbändchen!« Ich sah sie fragend an.

»Na, ich hol's gleich,« sagte sie lachend und verschwand in der Kammer. Richtig! Da war ja das längst vergessene Spielzeug. Auf rotem Grunde gelbe Tulpen. Und dreibeinig war sie immer gewesen, das war sie noch.

»Ja,« sagte Lore, als sie meinem Blick folgte, »der Vater hat ihr ein viertes Bein machen wollen, ich hab's aber nicht gelitten. Ganz so soll sie bleiben, wie sie mir die Charedas gegeben hat. Ich war doch immer deine beste Freundin, nicht wahr?«

Mir wurden die Augen feucht. »Und was ist es mit dem Leibbändchen?« fragte ich lächelnd.[39]

Lore öffnete eine der winzigen Schiebladen und reichte mir einen länglichen Zeugstreifen.

»Weißt du das denn gar nicht mehr? Wenn du zum Spielen kamst, brachtest du oft hübsche bunte Flicken mit, und damit hattest du dann große Pläne, was alles du deiner Puppe daraus machen wolltest: Kleider, Mäntel, Hüte und Hauben. Jede von uns wirtschaftete von dem ihrigen ganz für sich, und wenn wir dann nachsahen, was jede von uns vollbracht hatte, da sagtest du kleinlaut: »Lorchen! S' is doch nur wieder e Leibbändchen geworden!« Ich schalt dich dann, daß du aus all den bunten Flicken nichts weiter als ein Leibbändchen bekommen hattest. Was soll denn eine Puppe mit einem so schmalen Streifen? Aber du wußtest dir dann zu helfen: »Wir wickeln sie in ein Kissen,« sagtest du, »dann sieht niemand, daß sie nichts anhat.«

Die Mutter nahm dich in Schutz und sagte: »Hilf ihr nur zurecht, die lernt so was ihr Lebtag nicht, die muß doch egal dem närrischen Vater helfen.«

»Ja, ja,« sagte ich wehmütig lächelnd, »was gestalten wir aus all dem, was uns fürs Leben mitgegeben wird!? Jedenfalls hast du unsere Kindheitserinnerungen treuer gehütet wie ich. Nur was das Herz faßte, konnte ich bewahren. Ein Reisekoffer ist kein Ort, in dem man sichtbare Erinnerungen herumschleppt.« –

Nun kam der Mann, unsere Unterhaltung wandte sich mehr dem Allgemeinen zu. Als wir uns endlich trennten, mußte ich versprechen, noch oft vorzukommen.


***

Am nächsten Tage nahm ich meine Wanderung wieder auf.

Hier, vor diesem stattlichen Hause mit dem großen,[40] blauen Schilde und den glänzenden, goldenen Buchstaben hatte ich stets einen großen Respekt gehabt. In dem wohlhabenden Kaufmannshause hatten wir auf dem geräumigen Boden Theater gespielt. Das Donauweibchen! Es war sogar eine Wohltätigkeitsvorstellung gewesen. Einer alten Frau im Armenhause kauften wir für die eingenommenen Pfennige Dreierbrötchen. Als wir sie ihr brachten, knurrte sie uns an: »So viel Brotchen uf eemal! Die wer'n doch altbacken!«

Ja, was für rosige, lustige Spielgefährtinnen waren das gewesen, mit denen ich hier gespielt hatte! Was war aus ihnen geworden? Auf meine Frage nach dem Hausherrn wurde ich in den bekannten Garten gewiesen. Auf der Anhöhe, unter herrlichen, alten Bäumen, saß ein weißhaariger Greis mit zwei schwarz gekleideten Damen zusammen. Er sah kopfschüttelnd auf die Visitenkarte in seiner Hand. Ich trat näher und erklärte. Eine lebhafte, freudige Begrüßung folgte. Ich war fremd und doch bekannt! Die beiden Damen waren meine einstigen Spielgefährtinnen, jetzt die verwitwete Frau Pastor und die verwitwete Frau Apotheker. Die Rosen auf den Wangen waren etwas gebleicht, der kindliche Übermut hatte einem tiefen Ernst Platz gemacht. Die Jahre hatten uns allen Leid gebracht. Als wir aber auf die Erlebnisse unserer Kinderzeit zu sprechen kamen, da röteten sich unsere Wangen, unser herzliches Lachen stimmte zu dem goldenen Sonnenschein, der breit und behaglich auf dem üppigen Rasen erglänzte.

Tief bewegt nahm ich nach einer reich und glücklich durchlebten Stunde Abschied. Beim Weggehen gab mir die Frau Pastor ein in Pergament gebundenes Buch und meinte, da ich solche Teilnahme für meine Vaterstadt habe, sei es mir vielleicht lieb, in einer ruhigen Stunde einmal darin zu lesen. Es war eine alte Chronik, geschrieben[41] von den Mönchen in Alt-Zelle. Unter anderem fand ich folgendes:


Siebenlehn.


Das Lager dieses Städtleins belangend, ist selbiges von seinem ehemaligen Regierungsplatze, dem Kloster Zelle, wie auch heutigem königlich und kurfürstlich-sächsischem Schlosse und Amtshause Nossen, von jedem nur eine halbe Meile abgelegen: Von seiner Kreys- und Berghauptstadt Freyberg aber 1 1/2 Meile, nächst bei der Straße, so durch dessen Feld-Flur von Nossen her nach Freyberg gehet, gelegen.

Mehrere Distantien (Entfernungen) benachbarter Städte anzuführen, wird nicht nötig sein, weil man von Siebenlehn aus nordwärts durch Nossen, südwärts auf der Freybergischen Straße und westlicher Seite durch den Zellwald ins ganze Land herumkommen kann. Den Ursprung und Anbau betreffend, rührt selbiger unstreitig von seinen uralten und weyland wohlschüttenden Bergwerken, die unter die ältesten des Landes zählen. Denn als man in Freyberg zu schürfen anfing, waren die Siebelschen Bergwerke in vollem Flor und hießen damals schon was Altes. Weil nun die Bergleute gerne zehren des Brotes, Fleisches, Bieres, des Unschlitts zu Schmeer und zu Grubenlichtern; auch des Leders und Eisenwerkes nicht lange entraten können, noch weit danach laufen wollen, haben sich bald etliche Handwerker zu ihnen gesellet und damit denen Bergleuten rechte Luft, das Werk mit Freuden anzugreifen, gemacht. Dieses achte also vor den ersten Anbau des damals noch ganz öden Platzes und Rodelandes, welchem man folgends den Namen Siebenlehn gegeben hat. Nämlich, da einer zur selben Zeit eine neue Fundgrube ausgeschürfet und eidlich hat bezeugen können, daß er der erste Fünder[42] derselben gewesen, hat ihm der Bergmeister mit einer Schnur so viel vermessen, daß er sieben Lehen bekommen, welche er alle durch besondere Gruben oder Pingen hat bewältigen müssen. Die sieben Gruben aber hießen:

1. Der Zimmermannsschacht; 2. Der Romanus Erbstollen; 3. Der kleine Roland; 4. Der Markus Erbstollen; 5. Der: »Gott allein die Ehre Erbstollen«; 6. Zur neuen Versorgung Gottes; 7. Neue Siebenlehner Fundgrube in Siebenlehn.

Ob nun wohl sothaner reiche Bergsegen nach und nach geringer geworden, und mit der Zeit fast hat gar verschwinden wollen, so haben doch die Nachkommen deßwegen nicht dürfen Hunger leiden, oder ihre altväterlichen Sitze ledig stehen lassen, sondern zu ihrer Nahrung und Handtierung bald andere Gewerbe gefunden, haben sich auch bis dato damit sowohl fortgebracht und in Kunde gesetzt, daß man von Siebenlehn in und außer Landes fast mehr zu reden weiß, als von mancher großen und volkreichen Land-Stadt. Dann haben die Siebenlehner auch für ein sonderbares Glück und Ehre zu achten, daß obgedachtermaßen unterschiedlich hier geborene und erzogene qualifizierte Stadt-Kinder der Kirchen Gottes und gemeinem Wesen zu Dienst in- und außer Landes nützliche Leute worden, und zum Teil in vornehmen Bestallungen gelebt, damit sie diesen ihren Landsleuten mit Rat und Tat auch beförderlich und verträglich sein können.[43]

Quelle:
Bischoff, Charitas: Augenblicksbilder aus einem Jugendleben. Leipzig 1905, S. 37-44.
Lizenz:

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Horribilicribrifax

Horribilicribrifax

Das 1663 erschienene Scherzspiel schildert verwickelte Liebeshändel und Verwechselungen voller Prahlerei und Feigheit um den Helden Don Horribilicribrifax von Donnerkeil auf Wüsthausen. Schließlich finden sich die Paare doch und Diener Florian freut sich: »Hochzeiten über Hochzeiten! Was werde ich Marcepan bekommen!«

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon