Der Reichstag

Die Reichstagswahlen von 1877 hatten der Sozialdemokratie einen für jene Zeit großen Erfolg gebracht. Das war wesentlich, dem nunmehrigen Zusammenwirken der früher sich so heftig bekämpfenden Richtungen zu danken. Wir erhielten im ersten Wahlgang 486800 Stimmen gegen 379500 im Jahre 1874. Dabei muß in Anschlag gebracht werden, daß damals die Wahlbeteiligung nicht entfernt so stark war wie heute. Das allgemeine Wahlrecht begann erst die große Masse der Deutschen zu politischer Betätigung zu erziehen. Hätte Bismarck eine solche Wirkung dieser demokratischen Institution vorausgesehen, so würde er sie schwerlich eingeführt haben.

Infolge der die ländlichen Bezirke begünstigenden Wahlkreiseinteilung waren der Sozialdemokratie bei der Hauptwahl nur neun, bei den Stichwahlen nur drei Mandate zugefallen. Aber die große Zunahme der sozialdemokratischen Stimmen in den Städten erschreckte die herrschenden Klassen. Die liberale Bourgeoisie wurde nervös.

1851 hatte Bismarck im Bundestage die großen Städte als einen Krebsschaden und als Brutstätten revolutionärer Elemente bezeichnet. »Man werde, wenn es nötig würde, die Städte vom Erdboden vertilgen, wünscht unser Diplomat im Bundestage.« So schreibt darüber Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense. Jetzt kamen bei der liberalen Bourgeoisie verwandte Empfindungen zum Vorschein. »Der Landmann,« so hieß es in deren Presse, »hat mit fester Hand die schwankende Wage ins Gleichgewicht gebracht und den rollenden Stein aufgehalten, der die bestehende Ordnung zu zertrümmern drohte.«

Wohl zum Troste für diese liberalen Angstmeier entdeckte in der Folge Herr Schäffle den »antikollektivistischen Bauernschädel«, an dem die sozialistischen Tendenzen abprallen sollen. Er übersah dabei, daß es die Sozialdemokratie gar nicht nötig hat, durch Zusammenstöße die Härte dieses Schädels zu erproben. Denn wir sind in das Zeitalter der Industrie hineingewachsen, die in Verbindung mit Handel und Verkehr heute schon etwa zwei Drittel der Arbeitskräfte unserer Bevölkerung an sich gezogen hat und auch deren Zuwachs zum weitaus größten Teil an sich zieht, während die Landwirtschaft nur ein Drittel der Arbeitskräfte aufnehmen kann und stationär bleibt. In neuerer Zeit hat sich dies Verhältnis durch die immer steigende Abwanderung einheimischer Arbeitskräfte aus dem Osten in die mittel- und westdeutschen Industriebezirke und durch Heranziehung ausländischer Wanderarbeiter noch weiter zuungunsten der Landwirtschaft verändert. Es ist richtig, daß die weitesten bäuerlichen[213] Kreise für die sozialdemokratische Bewegung lange völlig unzugänglich gewesen sind. Das hat sich aber schon dadurch geändert, daß die Industrie die ländliche »Idylle« zerstörte, indem sie sich billige Arbeitskräfte aus den Familien der Parzellenbauern heranholte. Wo immer auf dem Lande ein Schornstein raucht oder eine Maschine rasselt, wird für die Sozialdemokratie – wenn auch ohne Wissen und Wollen – vorgearbeitet. Dann aber hat die steigende Steuerlast viele bäuerliche Elemente »rebellisch« gemacht, besonders nachdem sie sich überzeugt haben, daß die agrarische Hochschutzzollpolitik nur den Latifundien- und Rittergutsbesitzern, sowie den Großbauern Vorteil bringt, während sie den mittleren Bauern im besten Fall wenig nützt und der ungeheuren Menge der Parzellenbauern eher Schaden zugefügt. Die ländlichen Arbeiter, Taglöhner usw. beginnen sich trotz aller Rechtlosigkeit nunmehr zu organisieren. Gelingt es, diese Organisation zur Größe und Macht auszugestalten, dann werden die reaktionären Elemente auf dem Lande bald matt gesetzt sein. –

Am 22. Februar 1877 wurde die erste Sitzung des neugewählten Parlaments im alten Reichstagsgebäude in der Leipziger Straße abgehalten. Die feierliche Eröffnung mit Thronrede hatte vorher im Schlosse stattgefunden. Von diesem Akt waren, wie üblich, die sozialdemokratischen Abgeordneten ferngeblieben.

Ich befand mich auf einem mir bis dahin völlig fremden Boden und suchte mich nach Möglichkeit zu orientieren.

Die kleine sozialdemokratische Fraktion verschwand in der erdrückenden Masse der Vertreter der bürgerlichen Parteien.

Welch eine Menge von Charakterköpfen unter alltäglichen Erscheinungen! Welche anziehenden und welche abstoßenden Physiognomien!

In diesem Hause dominierte der Liberalismus in seinen verschiedenen Abstufungen. Es gab 127 Nationalliberale, 9 Mitglieder der nationalliberal-schutzzöllnerischen Gruppe Löwe-Berger und 35 Fortschrittsmannen. Reichspartei und Konservative zählten 78, das Zentrum 93 Mitglieder. Polen gab es 14 und Elsässer 10.

Die Nationalliberalen rechneten diese Periode noch zu ihrer »großen Zeit«, obschon die Partei bereits im Niedergange war. Die Masse ihrer Wähler glaubte noch an den »liberalen« Staatsmann Bismarck, der ihnen vorgetäuscht worden war; ihre parlamentarischen Vertreter waren von dieser Illusion so ziemlich kuriert, wenn sie auch vor dem »Herkules des Jahrhunderts« das Weihrauchfaß schwangen und sich von ihm nach seinen Launen mißhandeln ließen. Der famose »Kulturkampf« gegen die Pfaffen ging seinem Ende entgegen, nachdem er einen großen Mißerfolg gebracht und das Zentrum gestärkt hatte. Dennoch traten die Nationalliberalen im Bewußtsein ihrer numerischen Macht mit einem albernen Hochmut auf, der ungemein abstoßend wirkte. Sie übten einen Terrorismus aus, wie nachher niemals eine starke Fraktion sich ihn gestattet hat. Dieser Terrorismus erreichte seinen Höhepunkt in den gedruckten Schlußanträgen, welche der nationalliberale Abgeordnete Valentin dem Präsidenten in beliebiger[214] Anzahl zur Verfügung stellte, so daß dieser jederzeit die Minoritätsparteien mundtot machen konnte. Valentin, eine ganz unbedeutende Persönlichkeit, verfiel der Lächerlichkeit und verschwand bald aus dem Hause.

Unter den Nationalliberalen gab es solche, die 1848 sehr getobt hatten und nun bemüht waren, diese Vergangenheit auszulöschen durch die niedrigste Liebedienerei gegen den mächtigen Kanzler und durch eine potenzierte Gehässigkeit gegen jegliche Opposition. Diese Überläufer begriffen nicht, wie lächerlich ihr Auftreten erscheinen mußte.

Der entschiedene Liberalismus konzentrierte sich in der Fortschrittspartei, in der sich verschiedene alte Demokraten und bekannte Oppositionsmänner aus der Konfliktszeit befanden. Sie hatte damals einen starken Anhang in Ostpreußen, wo das Junkertum nicht so allmächtig war wie heute. Die Fortschrittspartei leistete der Bismarckschen Politik im allgemeinen einen manchmal recht schwächlichen Widerstand und machte den »Kulturkampf« mit – der Ausdruck rührt von dem Fortschrittsmann Virchow her – aber gerade diese Partei hatte das geringste Verständnis für die sozialen Probleme unserer Zeit und bei ihr befanden sich unsere gehässigsten Gegner.

Die eigentliche bürgerliche Demokratie war nur durch vier Abgeordnete vertreten. Diese waren entschiedene Gegner der preußischen Vorherrschaft in Deutschland und waren zuverlässig im Kampf um die politische Freiheit. Sie stellten auch sozialpolitische Forderungen auf, versagten aber meist, als wir mit bestimmten Anträgen vorgingen. Seitdem sich auf dem Nürnberger Kongresse Demokratie und Sozialdemokratie getrennt, herrschte hier vielfache Mißstimmung, die am besten gekennzeichnet wurde durch das gegen uns gerichtete Wort des schwäbischen Demokraten Julius Haußmann: »Die Kerle verderbet ons älles!«

Daß Fortschrittspartei und bürgerliche Demokratie uns nicht liebten, war selbstverständlich. Sie betrachteten sich als die Erben der Ideen von 1848; aber sie verwalteten diese Erbschaft so schlecht, daß wir sie übernehmen mußten. Als bürgerliche Parteien, die auf dem Boden der kapitallistischen Produktionsform standen, verloren sie den Anhang, den sie unter den Arbeitern gehabt, sobald diese zum Klassenbewußtsein erwacht waren.

Dennoch gab es beim Kampfe gegen die Gewalttätigkeiten des Bismarckschen Regiments Gelegenheiten genug, wo wir uns mit bürgerlicher Demokratie und Fortschrittspartei zusammenfanden. Ebenso mit dem Zentrum, das sich damals noch in schroffer Oppositionsstellung befand; man verspürte noch die »Weißglühhitze« des Kulturkampfes, der das Zentrum zu einer großen Partei gemacht hat, indem er ihm Sympathien verschaffte, die es bis dahin nicht gehabt. Es befanden sich auch viele demokratische Elemente bei dieser Partei und sie trat damals kräftig für die politischen Volksrechte ein, welche vom servilen Nationalliberalismus verleugnet und verraten wurden. Wir vergaßen dabei aber nicht, daß das Zentrum als Ganzes eine reaktionäre, an mittelalterlichen Überlieferungen klebende Partei und seine Opposition nur eine Sache zeitweiliger Taktik war.[215]

Welch eine Fülle bekannter, historischer und interessanter Persönlichkeiten bewegte sich in diesem Saale!

Meiner Neigung für historische Studien folgend interessierte ich mich zunächst für die vielen »Achtundvierziger« und unter diesen wieder zunächst für die Mitglieder des Frankfurter Parlaments. Da war zunächst Löwe-Calbe, der einstige Präsident des Rumpfparlaments in Stuttgart, dessen Stimme bei der Sprengung dieser Versammlung vom Kalbfell übertäubt wurde. Das unscheinbare Männlein hatte sich für die lebenslängliche Zuchthausstrafe, die ihm vom Berliner Obertribunal zuerkannt worden und vor der er sich nach Amerika geflüchtet, dadurch untertänigst bedankt, daß er schutzzöllnerischer Nationalliberaler geworden war. August Reichensperger1 vom Zentrum. Beseler und Grumbrecht von den Nationalliberalen waren auch in der Paulskirche gewesen und übertrugen das Redegeplätscher, das sie sich dort angewöhnt, in den deutschen Reichstag; sie stellten alle drei richtige parlamentarische Ruinen dar, namentlich Grumbrecht mit seinem Samtkäppchen. H. H. Meier von Bremen war der ungeschlachte Typus des kaufmännischen Protzen und konstatierte dies selbst, als er den Reichstag anhauchte: »Der Norddeutsche Lloyd bin ich!« Hochmütiger kann Ludwig XIV. sein »der Staat bin ich!« auch nicht verkündigt haben. Sympathischer als dieser nationalliberale Großkapitalist waren zwei andere ehemalige Mitglieder des Frankfurter Parlaments von der Linken, Schwarzenberg aus Kassel, ein liebenswürdiger Herr, der seinerzeit mit dem bekannten Hildebrand von Marburg, dem Nationalökonomen, von Hassenpflug hart verfolgt worden, aber seiner Gesinnung treugeblieben war, und Karl Mayer aus Stuttgart2, der bekannte schwäbische Politiker, der gerne aus den stürmischen Tagen in der Paulskirche erzählte.

Auch der letzte Präsident der preußischen National-resp. Vereinbarungsversammlung zu Berlin, Herr von Unruh, war zugegen. Der Erfinder des »passiven Widerstandes« sah immer griesgrämig drein, als fühle er noch seine historische Blamage auf sich lasten. Er war natürlich nationalliberal geworden. Von anderen Mitgliedern der Berliner Nationalversammlung waren noch da Peter Reichensperger, der mehr Geist besaß als sein Bruder August, und Schulze-Delitzsch, der von Lassalle entthronte einstige »König im sozialen Reich«, jetzt ein gebücktes, zusammengeschrumpftes Männlein.

Mit Interesse betrachtete ich auch die Erscheinung von Kleist-Retzow, der 1848 zur berüchtigten Kamarilla am preußischen Hofe gehört und die[216] Kreuzzeitung mit begründet hatte. Im preußischen Abgeordnetenhaus von 1849 hatte er getobt, er wolle sich eher zerreißen lassen, als der Frankfurter Reichsverfassung zustimmen, und in der Reaktionszeit hatte er als Oberpräsident der Rheinprovinz den Prinzen von Preußen, den späteren Kaiser Wilhelm I., als »zu liberal«, bespitzeln lassen. Sein stets grimmiges Gesicht, von struppigem weißen Haar umrahmt, erinnerte an die märkischen Raubritter, die einst dem Landesherrn Fehde ansagten:


»Joachimken, Joachimken, hüte di,

Kriegen wi di, so hangen wi di!«


Und dieser Junkertrotz brach auch bei ihm hervor, als er einst ausrief, seine Vorfahren hätten in Brandenburgs Forsten schon früher Sauen gejagt als die Hohenzollern. Er war übrigens einer der besten Redner, die ich je gehört. Er schleuderte in seinen Donnerreden bei jeder Gelegenheit wilde Schmähungen gegen uns.

Der Feldmarschall Moltke, dessen scharfe Züge – »raubvogelartig« nannten sie die Franzosen – durch eine vortrefflich gearbeitete Perücke gemildert wurden, erschien dagegen, wenn er uns angriff, als Kavalier im guten Sinne des Wortes. Er bekämpfte uns streng prinzipiell, aber niemals mit Beschimpfungen.3

Stets still und in sich gekehrt, das Haupt mit dem weißen Bart gesenkt, saß bei den Nationalliberalen Friedrich Oetker, der einst so viel gefeierte und von Hassenpflug so viel verfolgte Führer des Liberalismus in Kurhessen. Eine Rede hat er im Reichstag nie gehalten. Still verhielt sich zuletzt auch von Bockum-Dolffs, ein ehemaliger preußischer Landrat, der unter Manteuffel gemaßregelt war, eine stattliche Erscheinung, der wie ein rechter Bureaukrat aussah. Er war indessen entschieden liberal gesinnt. Als er 1863 dem preußischen Abgeordnetenhause präsidierte und der Kriegsminister von Roon sich der Ordnung des Hauses nicht fügen wollte, ließ Bockum-Dolffs sich seinen Hut bringen, bedeckte sich und schloß die Sitzung. Er wurde von Bismarck abermals gemaßregelt. Er hieß von dieser Affäre der »Hutpräsident«. Jetzt war er »wild«, d.h. er gehörte keiner Fraktion an.

Herr Miquel, die lange schmale Gestalt mit dem dichten weißen Haar und den lebhaften Zügen, bemühte sich als Nationalliberaler sehr, den ehemaligen Kommunisten zu verleugnen, der mit Karl Marx korrespondiert hatte und nach 1848 noch »kleine Bauernaufstände« anstiften wollte.[217] Er hatte es bald für vorteilhafter erkannt, sich durch Börsenspekulationen ein Vermögen zu machen. Sein Parteigenosse Karl Braun, einst Führer der liberalen Opposition in Nassau, genannt »unser Braun«, besaß viel Humor, den er oft gegen uns spielen ließ. Seine Witze waren aber manchmal sehr gezwungen, weil er aus seiner humoristischen Stimmung dann in Gehässigkeit verfiel. Als Schriftsteller stand er nicht sehr hoch, dagegen besaß er die beste Weinzunge im Hause. Er sah auch mit seiner breiten behäbigen Gestalt und seinem immer fröhlichen Gesicht wie ein rechter Weinschwelg aus. Da er als extremer Freihändler die Schutzzollpolitik Bismarcks bekämpfte, sagte dieser giftig von ihm: »Das Bier macht dumm und demokratisch.« Braun gehörte später zu den Freisinnigen. In der letzten Zeit des Sozialistengesetzes ging bei Braun und Miquel eine Wandlung vor. Beide empfanden die schnöde Ungerechtigkeit dieses Gesetzes und halfen insgeheim dessen Opfer unterstützen.

Die dürre, schlottrige Erscheinung von Ludwig Bamberger mit dem spärlichen roten Haar auf dem kahlen Scheitel war eine Zielscheibe für den Spott der Konservativen. Der Junker Graf Mirbach nannte ihn eine »Siegfriedsgestalt« und lud ihn ein, in den lithauischen Wäldern mit ihm »den Auerhahn anzuspringen«. Bamberger war ein geist-und kenntnisreicher Mann, ein vortrefflicher Redner und Schriftsteller. Aber der tragikomische Held der Pfälzer Erhebung für die Reichsverfassung, der während der Revolution als roter Republikaner auftrat, suchte als Nationalliberaler seine revolutionäre Vergangenheit durch giftige Schmähungen gegen die Sozialdemokratie zu vertuschen. Deshalb gönnten wir ihm den Spott der Junker.4 Der Professor Gneist, 48er Bürgerwehroffizier und im preußischen Landtag einer der heftigsten Gegner Bismarcks, konnte diesen nun nicht genug verherrlichen. Er war »ein schwer gelehrter Mann«, aber die Widersprüche in seiner politischen Laufbahn bewirkten, daß er sehr oft in seichte Schwätzerei verfiel. Man nannte ihn »den Mann, der alles beweisen kann«.

Friedrich Kapp, eine sympathische Erscheinung, hatte 1848 beim Septemberaufstand in Frankfurt als wilder Republikaner furchtbar getobt, war aber, wie Ludwig Feuerbach erzählte, vor dem Barrikadenkampf noch rechtzeitig unsichtbar geworden5. Jetzt war er aus dem nordamerikanischen Exil so gut nationalliberal zurückgekommen, daß Bismarck seine Wahl empfohlen hatte. Auch die nationalliberalen Abgeordneten Hammacher und Lasker hatten eine revolutionäre Jugend hinter sich. Lasker, der jetzt auf der Höhe seiner politischen Erfolge stand, war 1848[218] bei der akademischen Legion in Wien gewesen. Noch in der Konfliktszeit der sechziger Jahre hatte er energisch gegen Bismarcks Regiment gekämpft; dann hatten ihn dessen Erfolge zum Nationalliberalen umgewandelt. Er hatte damals einige konservative »Gründer«, namentlich den Geheimrat Wagener, politisch vernichtet. Es gab damals mehr liberale als konservative »Gründer«, allein die Konservativen brachten es zu keiner rechten Gegenaktion und revanchierten sich nur mit der berüchtigten »Reichsglocke«, was wenig wirkte. Aber Lasker wurde damals der große Mann seiner Partei. Das kleine, zappelige, schwarzhaarige Männchen redete ungeheuer viel und lang und galt sehr bald beim Volke als der Typus des Parlamentsschwätzers. Im »Neuen Wintermärchen« hieß es von ihm grob, er sei der größte Schwätzer auf Erden und man müsse sein Maul nach dem Tode noch extra totschlagen. Bismarck nahm ihn nicht ernst und als Lasker einst von Volksrechten sprach, meinte Bismarck, das seien »deklamatorische Redensarten«. Übrigens war Lasker ein persönlich liebenswürdiger Mensch und ein ehrenhafter Charakter, von seinen politischen Schwankungen abgesehen.

Herr von Bennigsen war das eigentliche staatsmännische Element der nationalliberalen Partei. Sein Gesicht mit dem großen »Schmiß« auf der linken Wange war nicht gerade anziehend, aber seine Erscheinung war stattlich und er war ein vortrefflicher Redner. Er hatte Bismarck große Dienste geleistet und sich dabei vor 1866 in Hannover mancher Gefahr ausgesetzt. Sein Traum war jedenfalls, Minister oder Staatssekretär zu werden. Aber Bismarck hielt ihm zwanzig Jahre lang ein Portefeuille als Köder hin, um ihn gefügig zu erhalten. Schließlich ging er leer aus. Er war nicht der einzige Nationalliberale, der von Bismarck so belohnt worden ist.

Da war noch Völk, »die Frühlingslerche«, der blonde, polternde Algäuer, der später mit seinem Freunde Schauß eine besondere Gruppe bildete, genannt die »schäußliche Völkerschaft«, der »trinkbare« Marquardsen, der einst mit meinem Onkel Schmezer und Scheffel zu Heidelberg »im Engern« gewesen, der immer schimpfende, gänzlich taube Treitschke: auch Schenk von Stauffenberg, mit dem ich in späterer Zeit näher bekannt wurde und der sich für den von mir neu herausgegebenen »Großen Bauernkrieg« von Zimmermann so interessierte, daß er bei den oberschwäbischen Bauern nach Traditionen aus jener Zeit forschte, doch ohne allen Erfolg. Er kam später zu den Freisinnigen.6

Unser gehässigster Gegner in diesem Reichstag war wohl der Fortschrittsmann Eugen Richter. Er behauptete, seine Abneigung gegen die[219] Sozialdemokratie aus dem Auftreten Lassalles, dessen Versammlungen er im Rheinland besucht, geschöpft zu haben. Er hielt die Sozialdemokratie für eine indirekte Schöpfung der preußischen Polizei, über welche bornierte Auffassung er zeitlebens nicht hinauskam. Schließlich verzweifelte er an sich selbst, als er seine Partei von der neuen Arbeiterbewegung überflügelt sah. Er war ein vortrefflicher Redner, aber wenn er polemisierte, bekam seine Stimme leicht etwas Keifendes und seine brutalen Gesichtszüge erschienen dann noch unsympathischer. Als gründlicher Kenner des Etats kritisierte er diesen schärfer als irgend jemand unter den bürgerlichen Parteien. Zugleich konnte er den Reichstag gut unterhalten mit Geschichten, wie die vom »ausgestopften Hauptmann«7.

Indem er die »Freisinnige Zeitung« gründete, nahm er seinen Reden die Wirkung, die sie vorher gehabt. Denn diese Zeitung brachte nun alles Interessante vorher.

Zu der Fortschrittspartei war auch Heinrich Bürgers gekommen, der einst dem Kommunistenbund angehört und im Kölnischen Kommunistenprozeß zu einer schweren Strafe verurteilt war. Nun bekämpfte er die Sozialdemokratie mit dem Eifer des Überläufers in der »Rheinischen Zeitung«, an deren Vorläuferin einst Karl Marx gewirkt hatte.

Der fortschrittliche Professor Hänel, der in bezug auf die Strafgesetzgebung so merkwürdig reaktionäre Ansichten hatte, machte mit seinem Pathos und seinen abgezirkelten Hand- und Armbewegungen den Eindruck eines Rede-Automaten. Weit sympathischer als dieser zünftige Professor war der Professor Virchow. Es war interessant, wenn Bismarck mit diesem alten Gegner aus dem Abgeordnetenhause zusammenstieß. Virchow hielt an den Traditionen von 1848 fest und sprach einmal von »guten Revolutionären«, worüber die Junker ein fürchterliches Geschrei erhoben. »Wie plätschert er so behaglich im parlamentarischen Gewässer!« meinte Liebknecht.

Im Gefolge Eugen Richters befand sich auch der unglückselige »Harmonieapostel« Max Hirsch, der mit Franz Duncker zusammen die deutschen Gewerkvereine begründet hatte. Diese waren eine verunglückte Nachahmung der englischen Trades unions. Letztere führten einen großen Klassenkampf, während den Gewerkvereinen in Deutschland »die Harmonie zwischen Arbeit und Kapital« gepredigt wurde. Daß dies Unternehmen mit einem großen Mißerfolg enden würde, war vorauszusehen, und Max Hirsch wurde bald eine komische Figur. Sein stets verdrossenes Gesicht schien zu beweisen, daß er dies selbst empfinde.8[220]

Franz Duncker, der auch dem Reichstage angehörte, hatte aus dem Umgang mit Lassalle wenig sozialpolitisches Verständnis gewonnen. Er war mit seiner hohen Gestalt und dem langen weißen Bart ein Typus der achtundvierziger Demokratie. Eine tiefe Melancholie lag auf seinem Antlitz, denn der Mann, der einen so angesehenen Verlag besessen und ein so glänzendes Haus gemacht, war gänzlich verarmt. Über die Abenteuer Lassalles aus der Zeit, da er im Dunckerschen Hause verkehrte, machte später die Gräfin Hatzfeldt sehr indiskrete Mitteilungen.

Der Führer des Zentrums war der Hannoveraner Ludwig Windthorst, einer der geschicktesten Parlamentarier aller Zeiten. Äußerlich war er eine possierliche Erscheinung; ein ganz kleines Männchen mit einem feierlichen Ernst auf seinem glatten, runden Gesicht, wodurch seine Witze um so wirksamer wurden. Er war eigentlich ein Welfe, aber er konnte seine staatsmännische Begabung nur bei einer großen Partei zur Geltung bringen und schloß sich darum dem Zentrum an. Mit Recht hat man ihm nachgerühmt, er habe dem Gewaltregiment Bismarcks eine geistige Macht gegenübergestellt; allerdings darf man nicht vergessen, daß diese geistige Macht auch einen starken materiellen Rückhalt hatte. Ein hervorragender Redner war er an sich nicht; wenn er nicht aus dem Hause unterbrochen wurde, konnte er sehr langweilig werden. Aber die Unterbrechungen lockten seinen sprühenden Witz hervor. Das »hohe Haus« unterhielt sich köstlich dabei, wenn er die »Norddeutsche Allgemeine Zeitung«, die damals dem Guanofabrikanten Ohlendorff gehörte, als »Düngerwagen« bezeichnete, oder wenn er zur Geschäftsordnung sein Bedauern aussprach, daß irgendein nationalliberaler Kulturkampfpauker nicht zu Worte gekommen. Einst kündigte er an, er werde beweisen, daß das Zentrum weit liberaler sei als die Nationalliberalen, und stellte im preußischen Abgeordnetenhause den Antrag auf Einführung des allgemeinen Wahlrechts in Preußen. Die Nationalliberalen getrauten sich als Schildknappen Bismarcks nicht, dafür zu stimmen, und waren die »blamierten Europäer«. Mit uns stand Windthorst persönlich sehr gut; wir sahen in ihm den Führer einer Partei, die damals in Verteidigung konstitutioneller Rechte viel zuverlässiger war als die Nationalliberalen. Unsere Fraktion gratulierte ihm stets zum Geburtstage und er bedankte sich bei jedem einzelnen. Mit mir plauderte er sehr oft und blieb sehr zutraulich, obwohl wir einmal bei einer Debatte über die Kulturkampfgesetze im Plenum aneinander geraten waren. Eines Tages rief er mir zu, ich möchte mich zu ihm auf eine Bank im Foyer setzen; ich tat es und er sagte: »Herr Most hat mir ein Todesurteil geschickt und angekündigt, ich würde mit einer Bank in die Luft fliegen. Vielleicht liegt unter dieser Bank die Dynamitbombe. Fliegen Sie doch zur Gesellschaft mit auf!« – »Mit Vergnügen,« antwortete ich lachend, »ich habe nämlich auch ein Todesurteil von Most bekommen; da geht es in einem hin!«

Der gute Most hatte, nachdem er Anarchist geworden und die »Propaganda der Tat« begonnen, an alle sozialdemokratischen Abgeordneten und viele andere Mitglieder des Reichstages Todesurteile versandt.[221]

Durch die Witzblätter war Windthorsts Erscheinung sehr populär geworden. Als er einst im Auftrage des Herzogs von Cumberland im Schlößchen Richmond bei Braunschweig erschien, grüßten einige der gerade dort beschäftigten Maurer: »Guten Tag, Exzellenz! – »Woher kennen Sie mich denn?« fragte er. – »Aus dem Kladderadatsch!« antworteten die Arbeiter.

Ein vortrefflicher Redner des Zentrums war der Freiherr von Schorlemer-Alst; man sah seiner aristokratisch-eleganten Erscheinung den ehemaligen Reiteroffizier an. Freiherr von Franckenstein, ein fränkischer Hüne, machte mehr Eindruck durch seine sieben Fuß Lange als durch seine Reden.

Der berühmte Historiker Jörg war eine bäuerlich-knorrige Erscheinung, der seine Toilette sehr vernachlässigte. Aber er vereinigte viel Geist mit viel Wissen und hat dem »Säkularmenschen« oft hart zugesetzt.

In der kleinen demokratischen Gruppe befand sich Friedrich Payer, der spätere schwäbische Kammerpräsident, dessen parlamentarische Laufbahn jetzt begann, sowie Karl Holthof, der Vertreter von Frankfurt am Main. Holthof stand uns von allen bürgerlichen Abgeordneten am nächsten. Ich hatte ihn, wie schon erwähnt, in Frankfurt am Main kennen gelernt.

Es gab noch eine Reihe charakteristischer Erscheinungen. Da war »Onkel Chlodwig«, der spätere Reichskanzler Hohenlohe; das kleine Männlein fungierte als Vizepräsident. Die beiden Wiggers, denen die Reaktion so übel mitgespielt, Bethusy-Huc9, der bekannt wurde durch sein Wort: »Man muß den Strom der Zeit an der Stirnlocke fassen«; Schröder-Lippstadt, der meinte, es gäbe genügend junge Leute, die so dumm seien, daß sie Minister werden könnten; Schalscha, der bei Berechnung der Kosten eines Reiterregiments die Pferde vergaß; der Münchener Pfarrer Westermayer, von dem der Spruch ging:


»Der Pfarrer von Sankt Peter

Is a lustiger Ma,

Er tuet, was er mueß

Und saust, was er ka!«


Ferner der dicke Däne Krüger-Beftoft, der Danebrogsmann, der unaufhörlich mit Recht daran erinnerte, daß Bismarck im Artikel V des Prager Friedens den Nordschleswigern eine Volksabstimmung, ob sie zu Dänemark oder zu Deutschland gehören wollten, zugesichert, aber dann verhindert habe. Die Nationalliberalen verhöhnten den Mann und wollten mit Lachen gar nicht mehr aufhören, als er bei einer Zolldebatte von »jungfräulichen Hinterländern« sprach. Da war der reaktionäre Hofrat Ackermann aus Dresden, den wir wegen seines Gesichts den »sächsischen Uhu« nannten, sowie der Schwabe Schwarz, der in der württembergischen[222] Kammer Demokrat und im Reichstag Fortschrittler war, der einer Einladung von Bismarck folgte und damit bestraft wurde, daß man in »Über Land und Meer« ihn an Bismarcks Tafel schmausend abbildete; der badische Oberstaatsanwalt Kiefer, der die Kassation der, Wahl eines badischen Abgeordneten damit verhindern wollte, daß er sagte, dessen Sohn sei auf dem Felde der Ehre gefallen; der spätere württembergische Minister Hölder, der eine besondere Gruppe bildete; der spätere württembergische Minister Schmid, 1848 wegen seines »wütigen« Auftretens die »Hyäne von Munderkingen« genannt, und schließlich Markus Pflüger, der Hirschwirt von Lörrach, der 1848 beim Struveputsch stolz auf seinem Postschimmel vor den Freischaren einherritt, dann aber nationalliberal und später freisinnig wurde. Und noch viele andere, welche aufzuführen zu weit führen würde.

Nicht wenig gespannt war ich natürlich, den Mann der Blut- und Eisenpolitik zu sehen. Fürst Bismarck war damals 62 Jahre alt und sehr rüstig. Das vollständig kahle Haupt glänzte wie eine Billardkugel. Er besaß viel Witz und Humor, der aber fast immer schwarzgallig herauskam. Bismarck wäre einer der besten Redner gewesen, wenn er nicht ein so außerordentlich schwaches Organ gehabt hätte. Daher wurde der unmittelbaren Eindruck seiner Reden sehr beeinträchtigt. Nur wenn er in Zorn geriet, konnte er einzelne kurze Satze sehr laut hervorstoßen. Und er geriet oft in Zorn. Einmal drohte er sogar der Linken wegen eines Zwischenrufs mit der geballten Faust. Er trug dem Reichstag gegenüber eine große Geringschätzung zur Schau, sowohl gegen die Körperschaft als gegen einzelne Personen. Obwohl selbst sehr empfindlich, war er gegen andere sehr grob. »Sie imponieren mir gar nicht,« rief er in den Reichstag hinein, als von einer »imposanten« Mehrheit für einen Diätenantrag gesprochen wurde. Er konnte sich das erlauben, denn es war unglaublich, wie die nationalliberale Mehrheit vor ihm kroch und ihn um so eifriger beweihräucherte, je gröber er war. Auch ehemalige Revolutionäre ließen sich alles von ihm gefallen. Als er den Abgeordneten Bamberger ein »sujet mixte« nannte, wagte dieser, der sich in giftigen Beschimpfungen der Sozialdemokratie gar nicht genug tun konnte, nur ganz schüchtern zu antworten. Von den Grobheiten, mit denen Bismarck seine Umgebung traktierte, wurde geradezu Großartiges erzählt. Er hatte nunmehr dem Bürgertum breite Bahnen zur Großindustrie und zum Welthandel erschlossen und es häufte riesige Kapitalien an; dafür wollte Bismarck aber in seinen weiteren Plänen nicht gestört sein.

Er hatte um diese Zeit die Maske eines halbliberalen und halbmodernen Staatsmannes, mit der er das liberale Bürgertum getäuscht, schon abgeworfen. Der typische Feudaljunker kam wieder zum Vorschein und es wurde auch bald der Hintergedanke offenbar, den er bei der Reichsgründung gehabt, nämlich seiner verkrachenden Kaste wieder empor zu helfen. Bald konnten die Junker ihre agrarischen Beutezüge über das ganze Reich ausdehnen.[223]

Uns Sozialdemokraten glaubte Bismarck, der doch mit Lassalle verhandelt hatte, nur mit Ironie traktieren zu sollen. Die Macht der Tatsachen sollte ihn bald eines anderen belehren.

Die anderen Minister traten so hinter Bismarck zurück, daß man wenig Interesse für sie empfand; am meisten noch für Delbrück und für den Generalpostmeister Stephan. Auf den Bundesratsbänken interessierte mich zunächst nur Gildemeister von Bremen, der glänzende Übersetzer von Ariost, Shakespeare und Byron, der dort schweigend seine Zeit absaß.

So sahen im ganzen und großen die Vertreter der feudal-bürgerlichen Welt in dieser Versammlung aus, denen unsere kleine Fraktion als einzige Vertretung der proletarischen Welt gegenüberstand. Von dieser Fraktion sind heute nur noch August Kapell und ich am Leben.

Die Fraktion bestand aus Liebknecht, Bebel, Hasenclever, Motteler, Auer, Fritzsche, Most, Demmler, Rittinghausen, Bracke, Kapell und mir. Es herrschte, wie nur in einer kleinen Fraktion möglich, ein freundschaftliches und brüderliches Verhältnis der einzelnen zueinander; die beiden Alten, Rittinghausen und Demmler ausgenommen, standen wir alle auf Du miteinander. Die führenden Persönlichkeiten waren Liebknecht und Bebel; Hasenclever, der frühere Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, glaubte die Führung zu haben, hatte sie aber tatsächlich nicht. Wir alten Eisenacher hingen so sehr an demokratische Formen, daß das Wort »Führer« bei uns verpönt war, weshalb der stets mit realen Tatsachen rechnende Auer spöttisch zu sagen pflegte: »Wir haben keine Führer, aber wir haben Bebel und Liebknecht.« Wir alten Eisenacher spotteten unter uns wieder darüber, daß die Lassalleaner ihre Richtung nach einer Person benannten. Aus diesem radikal-demokratischen Gefühl heraus wäre auch die Bezeichnung »Marxist« und »Marxismus« damals verpönt gewesen, obwohl wir glühende Anhänger der Marxschen Theorien waren; die Bezeichnung »Marxismus« wurde später von den Franzosen oktroyiert. Wir waren also nicht so »autoritär«, wie die Anarchisten uns vorwarfen.10

Eine sehr interessante Persönlichkeit war der alte Hofbaurat Demmler aus Schwerin, der Erbauer des dortigen Schlosses, ein genialer Künstler. Das Äußere des hochaufgeschossenen und jovialen alten Herrn erinnerte an den Marschall Blücher. Wegen seiner Teilnahme an der Bewegung von 1848 wurde er ohne Pension entlassen, beteiligte sich später am Nationalverein und schloß sich dann der deutschen Volkspartei, nach dem Leipziger Hochverratsprozeß der Sozialdemokratie an. Er wurde in demselben Wahlkreise (Leipzig-Land) gewählt, dessen Mandat Johann Jacoby abgelehnt hatte. Demmler, der durch die Tat bewiesen hatte, daß die Zwischenunternehmer bei öffentlichen Bauten überflüssig und die von ihnen sonst eingestrichenen Gewinne den Arbeitern zuzuwenden seien, war ein sehr eifriger und pflichtgetreuer Sozialdemokrat. Da er den persönlichen[224] Verkehr mit dem 1848 verfassungsfreundlich aufgetretenen Großherzog Friedrich Franz von Mecklenburg nicht aufgab, glaubten die bürgerlichen Parteien seine sozialdemokratische Betätigung nicht ernst nehmen zu sollen. Diese Auffassung war gänzlich unberechtigt, wenn Demmler auch manches tat, was andere Sozialdemokraten nicht getan hätten, was man aber dem 74jährigen Greise nachsah. Ich war viel mit ihm zusammen und er lud mich öfter in seine Wohnung ein, wo er bei einem vortrefflichen Rotspohn vom Jahre 1848 und von seinen Reisen erzählte. Eines Tages schrieb er gerade eine Postanweisung und erzählte mir, daß er schon seit Jahren einen vielverfolgten Parteigenossen in Altona mit nicht unbedeutenden Summen unterstütze. Da mir der Name des »Vielverfolgten« nicht bekannt war, kam mir die Sache verdächtig vor; ich schrieb nach Altona und bekam den Bescheid, daß ein Parteigenosse dieses Namens in Altona nicht existiere. Dem Schwindler wurde die »Pension« natürlich entzogen. Nach den Attentaten im Jahre 1878 warfen nationalliberale Rohlinge in Schwerin dem alten Mann die Fenster ein und verübten noch andere Brutalitäten gegen ihn, die ihm die letzte Zeit seines Lebens verbitterten. Er starb 1886.

Moritz Rittinghausen, ein geborener Westfale, eine interessante patriarchalische Erscheinung mit weißem Bart und Haupthaar, war in jungen Jahren Hauslehrer in einer Familie des belgischen Hochadels; die Tochter verliebte sich in ihn und heiratete ihn trotz des Widerspruchs der Eltern; wodurch er pekuniär unabhängig wurde. Die aus dieser Verbindung hervorgegangene Tochter nahm den hochadeligen Namen der Mutter wieder an, war aber von hoher Verehrung für den Vater und dessen Bestrebungen erfüllt. Rittinghausen war 1848 im Vorparlament zu Frankfurt am Main, wo er das bedeutende Wort sprach: »Die deutschen Regierungen bestehen nicht mehr!« womit er die Mehrheit von Philistern und Angstmeiern in diesem Parlament in fürchterliche Aufregung versetzte. Er gehörte dann in Köln zu dem Kreise, dessen Mittelpunkt Karl Marx und die »Neue Rheinische Zeitung« bildeten, welches Blatt er mit Geldmitteln und Arbeiten unterstützte. Nach der Revolution ging Rittinghausen nach Frankreich und Belgien, wo er seine großes Aufsehen erregenden Abhandlungen über direkte Gesetzgebung durch das Volk schrieb. Er überschätzte indessen diese Einrichtung, denn er sagte einst zu mir, wenn Flankreich die direkte Gesetzgebung gehabt hätte, so hätte Louis Napoleon seinen Staatsstreich nicht machen können, und er wurde sehr aufgeregt, als ich dies bestritt. Er geriet später mit der Partei in Konflikt. 1890 ist er gestorben, 76 Jahre alt.

Sein westfälischer Landsmann Wilhelm Hasenclever war eine »sentimentale Eiche«, wie Heine die Westfalen so treffend charakterisiert hat. Er hatte das Gymnasium zu Arnsberg eine Zeitlang besucht und war dann Lohgerber geworden. Während der Konfliktszeit in Preußen redigierte er ein kleines fortschrittliches Blättchen in Halver; durch das Auftreten Lassalles wurde er für den Allgemeinen Arbeiterverein gewonnen,dessen Präsident er nach dem Rücktritt des Herrn von Schweitzer wurde. Dadurch und durch seine Gabe, echt volkstümlich zu sprechen, wurde er sehr populär. Er blieb immer Lassalleaner, woraus sich manche Gegensatze in der Redaktion des »Vorwärts« zu Leipzig ergaben, die er mit Liebknecht zusammen führte. Obwohl wir uns in Hamburg, wie erwähnt, nicht recht hatten verständigen können, wurden wir in der Zeit des Sozialistengesetzes intime Freunde. Er war ein prächtiger Gesellschafter von goldenem Humor; auch hatte er eine poetische Ader und nahm einige ganz nette lyrische Anläufe. Eine unbefriedigende Ehe schwächte seine Schwungkraft vor der Zeit. Er war bei seinem traurigen Ende kaum 50 Jahre alt.

Friedrich Wilhelm Fritzsche, geboren 1825 zu Leipzig, wurde Zigarrenarbeiter und warf sich als solcher mit Feuereifer in die Bewegung von 1848. Im Mai 1849 kämpfte er auf den Dresdener Barrikaden und wurde von den Preußen gefangen genommen. Wie er hinterher den Fängen der Justiz entging, ist mir nicht bekannt. Er gehörte zu dem Komitee, welches 1863 eine Deputation an Lassalle sandte, und war selbst bei dieser. Erst beim Allgemeinen deutschen Arbeiterverein, den er als Delegierter von Leipzig mit begründen half, schwankte er längere Zeit zwischen Eisenachern und Lassalleanern hin und her. Er gründete 1865 den Deutschen Tabakarbeiterverein, dessen Organ er redigierte, und berief 1868 mit Schweitzer den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftskongreß. Er wurde 1868 für Lennep-Mettmann in den Norddeutschen Reichstag gewählt; ebenso 1877 und 1878 für Berlin. Wir schlossen uns bald enger aneinander an. Als die Fraktion den großen Arbeiterschutzantrag ausarbeitete, leistete Fritzsche durch seine umfassenden Kenntnisse in dieser Materie treffliche Dienste.

Er besaß ein nicht unbedeutendes poetisches Talent und in seinen »Blutrosen« befinden sich prächtige revolutionäre Gedichte.

Wir gingen viel zusammen aus und es war ihm ein Vergnügen, mir das alte Berlin, namentlich die Schauplätze der Märzrevolution, zu zeigen. Ich erinnere mich einer sehr schönen Jubiläumsfeier in seiner Wohnung, wo er den liebenswürdigsten Wirt machte. Liebknecht taufte ihn damals »den noblen Proletarier«. Er sah mit seiner hohen Gestalt, seinem charakteristischen Antlitz und seinem langen weißen Bart wie ein »uckermärkischer Grande« aus.

Das Sozialistengesetz trieb ihn über den Ozean. Als er durch Bremen kam, wo ich mich damals aufhielt, nahmen wir, zwei Ausgewiesene, bewegt voneinander Abschied. Fritzsche starb vor einigen Jahren in hohem Alter in Philadelphia.

Die Persönlichkeiten von Liebknecht und Bebel brauche ich nicht näher zu schildern, da sie bei den Zeitgenossen noch in frischer Erinnerung sind. Liebknecht war damals 51, Bebel 37 Jahre alt. Sie waren durch den Hochverratsprozeß in der ganzen Welt bekannt geworden, Bebel auch dadurch, daß er eine Zeitlang der einzige Sozialdemokrat im Reichstage war. Den blonden »Urgermanen« Auer brauche ich nicht näher zu[228] schildern, da er auch bei den Zeitgenossen noch in frischer Erinnerung ist; Meinen Freund Bracke habe ich schon geschildert.

Bracke und ich bewohnten das gleiche Zimmer bei einem Schneider. Dieser und seine Frau waren vollkommene Analphabeten. Der große Korridor war durch einen Vorhang abgeteilt und hinter diesem arbeiteten und schliefen der Meister, seine sechs Gesellen, seine Frau und Kinder; die Zimmer waren vermietet. Die einzige commodité für sämtliche vier Etagen des Hauses befand sich im Hofe. Liebknecht verbrachte manche Nacht als Gast bei uns auf dem Sofa.

Julius Motteler, der humorvolle Schwabe, der so viel Sorgfalt auf die Pflege seines Schnurrbartes verwendete und nur Kaffee trank, war der nachmalige »rote Postmeister« von Zürich; August Kapell, von Beruf Zimmerer, hatte viel für die Organisation dieser Branche geleistet. Er hat in Hamburg, wo er noch lebt, mit vielem Erfolg das Berliner Weißbier eingeführt.

Auch der spätere Anarchist Johann Most gehörte unserer Fraktion an. Ich habe nicht die gute Meinung von ihm, die bei anderen meiner Gesinnungsgenossen, trotz seiner Extravaganzen, sich erhalten hat. Jedenfalls war er nicht der Idealist, als der er gelten wollte. Das ging aus einer sehr verdächtigen Geschichte hervor, die in Mainz passierte, als bei einer Stichwahl die Ultramontanen Geld für sozialdemokratische Agitation zugunsten ihres Kandidaten gaben. Most war ein begabter Volksredner, aber sein Kampf mit Theodor Mommsen war stellenweise komisch, denn Most wollte den berühmten Forscher, der allerdings in seiner römischen Geschichte oft sehr reaktionäre Ansichten heraussteckt, »widerlegen«, ohne selbst auch nur einigermaßen selbständig in der römischen Geschichte geforscht zu haben. Er machte die von Mommsen erforschten Tatsachen mit einer demokratischen Sauce an und nannte das »Widerlegung«. Es ist nicht zu bestreiten, daß er sich um die Sozialdemokratie, so lange er ihr angehörte, große Verdienste erworben und viel um sie gelitten hat. Das hat er dann durch seine anarchistischen Streiche ausgelöscht. In Berlin war er den Parteigenossen oft unangenehm durch sein unaufhörliches Schwatzen. Abends saß er manchmal im Cafe mitten unter uns und schwatzte, da niemand ihm zuhörte, mit gesenktem Kopf in seine Weste hinein, während wir uns unterhielten, als ob er gar nicht da wäre.

Ich war das jüngste Mitglied des Hauses – ich war erst vor vier Monaten 27 Jahre alt geworden – als dessen »Baby« ich Gegenstand von meist sehr mäßigen Witzen wurde.11[229]

Unter den parlamentarischen Gestirnen habe ich nicht geglänzt, wenn auch manche meiner Reden intra et extra muros gut aufgenommen worden sind. Beiläufig war ich während der Session stets sehr von Erwerbsarbeit in Anspruch genommen. Was meine Auffassungen von Parlamentarismus selbst betrifft, so habe ich immer betont, man solle ihn nicht überschätzen, aber auch nicht unterschätzen. In meiner Geschichte der deutschen Bewegung von 1848 und 1849 habe ich bei der historischen Bewertung der Tätigkeit des Frankfurter Parlaments meinen Standpunkt ausführlich dargelegt.

Das Reichstagsmandat galt als Ehrenamt; wir hatten nur freie Fahrt für das ganze Reich in beliebiger Wagenklasse. Die Diäten, welche die Partei den Abgeordneten zahlen konnte, waren sehr gering und beliefen sich auf etwa drei Mark täglich. Wer nicht in fester Stellung war, der mußte sich mit journalistischen Arbeiten einen weiteren Zuschuß verdienen. Aber auch die festen Stellungen von damals in der Partei waren mit einem so geringen Einkommen verbunden, daß es kaum möglich war, damit eine Haushaltung und einen mehrmonatlichen Aufenthalt in Berlin zu bestreiten. Nur Bracke, Demmler und Rittinghausen waren bemittelt; wir anderen mußten uns behelfen, so gut es eben ging.

Am 22. Februar 1877 wurde das neugewählte Parlament eröffnet. Alterspräsident war der altliberale Herr von Bonin, ein Achtzigjähriger, der 1848 dem liberalen Ministerium Pfuel angehört hatte. Früher war es Brauch gewesen, daß der Alterspräsident die vier jüngsten Abgeordneten als Schriftführer ins Bureau berief. Davon war man schon seit längerer Zeit abgegangen, um nicht einem Sozialdemokraten diese Ehre zuteil werden zu lassen. So blieb auch ich davon ausgeschlossen.

Zum Präsidenten wurde der nunmehr nationalliberale Herr von Forckenbeck gewählt, der, 1848 an der Bewegung beteiligt, noch während der Konfliktszeit einer der heftigsten Gegner Bismarcks gewesen war. Von allen Präsidenten, die ich binnen dreieinhalb Jahrzehnten kennen gelernt,[230] war dieser sicherlich der rücksichtsloseste. Er konnte schnauzen, schnarren und näseln wie die feudalsten ostelbischen Junker. Die gewerbsmäßige Schlußmacherei Valentins genügte ihm nicht; er verweigerte den sozialdemokratischen Abgeordneten oft geradezu das Wort. Dies geschah namentlich bei Most, der einen fürchterlichen Rededrang hatte. Er meldete sich bei dem Präsidenten mehrfach schon im Präsidialzimmer und erhielt dann das Wort doch nicht. Most hatte nämlich seinen Wählern in einer Proklamation verkündigt, er werde im Reichstag »den Heuchlern die Larven abreißen«. Darum ließ ihn der Präsident seine Macht fühlen. Zum Hohn erteilte er Most das Wort zu den Militärbadeanstalten, wo dieser natürlich keine Heuchler entlarven konnte. Er ward darum viel verspottet, aber damit war die skandalöse Wirtschaft des Präsidenten nicht gerechtfertigt.

Selbstverständlich wurden die Sozialdemokraten zu den Kommissionen nicht zugelassen. Sie mußten ihre ganze Tätigkeit auf Reden und Abstimmen beschränken und man hatte leicht sagen, sie könnten nur »Negation« treiben.

Wir beschlossen zu zeigen, daß wir auch positiv arbeiten könnten. Wir arbeiteten in vielen Sitzungen einen großen umfassenden Arbeiterschutzantrag aus, den ersten, der im Deutschen Reichstage auf die Tagesordnung kam12 und dem in der Tat eine große Bedeutung beizumessen ist, weil er alle wesentlichen Schutzforderungen und damit alle Keime der späteren Entwicklung bereits in sich schließt, wie Schippel in seinem Reichstags-Handbuch sagt.

Das meiste Verdienst um dieses Werk hatte Fritzsche, der schon im Norddeutschen Reichstag mit Schweitzer verschiedene Schutzbestimmungen in die Gewerbeordnung zu bringen versucht hatte. Aber auch wir anderen, die beiden Alten eingeschlossen, arbeiteten tüchtig mit, den einzigen Most ausgenommen, der sich schon im Vorgefühl seiner anarchistischen Zukunft befand. Er störte die Beratungen unaufhörlich, indem er im Zimmer auf und ab rannte und mit seiner zischenden Stimme wiederholte: »Wir müssen ein revolutionäres Gesetz machen!«

»So mache doch eins!« rief ihm Fritzsche zornig zu.

Most zog sich in eine Ecke zurück, schlug die Augen sinnend empor und notierte dann mit der Miene eines Staatsmannes, der einen welterschütternden Gedanken gefunden hat. Wir erwarteten natürlich, es käme ein Antrag auf Einführung der sozialdemokratischen Republik. Statt dessen verlas Most:

»Erster und einziger Artikel: Das Impfgesetz ist abgeschafft

Ob dieses »revolutionären Gesetzes« brachen wir in ein solches Gelächter aus, daß Most wütend davon rannte.

Nachdem wir unser Arbeiterschutzgesetz fertig gemacht, fehlten uns noch drei Unterschriften, denn es mußten 15 sein, wenn wir einen selbständigen Antrag einbringen wollten. Es gab Schwierigkeiten. Holthof von[231] den Demokraten unterschrieb, aber seine drei Parteigenossen weigerten sich. Der schwäbische Demokrat Retter nahm Anstoß an dem Verbot der Zuchthausarbeit und meinte: »Dees kan i net unterschreibe; bei uns machet se im Zuchthaus so schöne Goldleischtle!« Endlich gaben der Zentrumsmann Rußwurm und der Danebrogsmann Krüger ihre Unterschrift.

So kam der Gesetzentwurf zur Beratung. Er wurde viel belobt; namentlich wurde anerkannt, daß etwas Neues geschaffen worden war. In der Tat: heute wäre es leicht, aus dem massenhaft vorhandenen Material einen solchen Gesetzentwurf zusammenzustellen; dies Material fehlte aber damals fast gänzlich. Die bürgerlichen Parteien erklärten das Gesetz indessen für unausführbar und ließen es in den großen Reichspapierkorb fallen.

Über die Bestimmung, daß Schwangere während der letzten drei Wochen vor und Wöchnerinnen während der ersten sechs Wochen nach der Entbindung in gewerblichen Anlagen usw. nicht beschäftigt werden sollten, mokierte sich der geschwätzige Lasker und sprach von »Verstößen gegen die Natur«. So weit war man damals noch zurück.

In dieser Session führte ich den »Goldonkel« Karl Höchberg in die Fraktion ein. Das kam so. Seit längerer Zeit hatte ein anonymer Gönner der Sozialdemokratie an den Parteikassier Geib namhafte Beträge eingesandt und dazu bemerkt, er werde sich demaskieren, wenn er volljährig sei. Diese Zeit war nun gekommen und Geib sandte mir die Adresse des bisher Unbekannten mit dem Auftrag, ihn mit den Abgeordneten bekannt zu machen. Die Fraktion beschloß, ihn zu einer bestimmten Stunde zu erwarten und versammelte sich in ihrem Zimmer, eine Treppe hoch im Reichstagsgebäude, während ich unten im Foyer blieb, wo Höchberg, der in Lichterfelde wohnte, nach mir fragen sollte. Während ich unten wartete, ward ich stutzig ob so viel Feierlichkeit bei dem Empfang eines Mannes, von dem man nichts wußte, als daß er einige größere Geldbeiträge der Partei gespendet und noch weitere in Aussicht gestellt hatte. Nach einiger Zeit erschien ein junger Mann von unverkennbar israelitischem Typus, blaß, schmächtig, nervös und kränklich aussehend, und stellte sich mir als Höchberg vor. Sein Benehmen war außerordentlich liebenswürdig und er gefiel mir sehr. Ich führte ihn sogleich zum Fraktionszimmer. Als ich die Tür öffnete, war ich sehr erstaunt, nicht nur die Fraktionskollegen, sondern auch noch eine Anzahl anderer Parteigenossen – darunter die Leiter einiger Parteigeschäfte, wenn ich mich recht erinnere – vorzufinden. Nachdem ich Höchberg vorgestellt, ward er umringt und zwar mit solchem Eifer, daß ich gar nicht mehr an ihn herankommen konnte. Ich sah ihn erst nach einigen Tagen wieder.

Höchberg hat der Partei sowie einzelnen Personen Geldmittel im Gesamtbetrag von mehreren hunderttausend Mark zugewendet. In einzelnen Fällen schlugen diese Zuwendungen nicht zum Besten der Partei aus, weil kein System darin war.

Höchberg war ein Idealist und seine Zuwendungen geschahen durchaus uneigennützig. Seine Weltanschauung war noch nicht gefestigt; er eiferte[232] in den Abendgesellschaften bei Geib, wo wir uns öfter trafen, heftig gegen den »Materialismus«. Später, während des Sozialistengesetzes, neigte er zu einem radikalen »Sozialliberalismus«, welche Anschauung von Max Neißer in Bremen in der von Höchberg subventionierten »Sozialpolitischen Korrespondenz« vertreten wurde. »Der Sozialismus war ihm Herzenssache,« bemerkt zutreffend Franz Mehring in seiner Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Die Haltung der wissenschaftlichen Zeitschrift. »Die Zukunft«, welche Höchberg begründete, war manchmal unsicher, während die andere, von F. Wiede in Zürich herausgegebene wissenschaftliche Zeitschrift der Sozialdemokratie deutscher Zunge, die »Neue Gesellschaft«, bürgerliche Sozialpolitiker als Mitarbeiter hatte und zugleich manchmal ins Anarchisteln geriet.

Auf Anregung Geibs trat ich in der »Zukunft« für Reichseisenbahnen ein, was aber auf heftigen Widerspruch stieß.

Nach Schluß des Reichstages berief die Reichstagsfraktion – da die Parteiorganisation in Preußen aufgelöst worden war – den Jahreskongreß für 1877 auf den 27. Mai nach Gotha ein.

Es sollte dies für lange Jahre der letzte Parteikongreß sein, der auf deutschem Boden stattfand. Die Partei zählte in diesem Moment 32000 Mitglieder und hatte nach den Wahlen wieder 54000 Mark in der Kasse. Sie hatte 42 Zeitungen, von denen 13 täglich erschienen. Die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter zählten 50000, nach einer Statistik Geibs.

Es wurde hier beschlossen, den Weltkongreß von Gent zu beschicken, obschon dieser von bakunistischer Seite einberufen war; den Antrag hatte Georg von Vollmar gestellt, der damals Redakteur der »Dresdener Volkszeitung« war. Zugleich beschäftigte sich der Kongreß mit der Kontroverse Engels-Dühring.

Der Berliner Privatdozent Dr. Eugen Dühring, ein Sozialist, aber entschiedener Gegner von Marx und Lassalle, hatte bei der Sozialdemokratie viel Beachtung gefunden, nachdem Bebel in einem Artikel: »Ein neuer Kommunist« auf seine Schriften verwiesen hatte. Daraus entwickelte sich in der Sozialdemokratie eine entschiedene, teilweise fanatische Anhängerschaft Dührings, zu welcher Most, Fritzsche, Ed. Bernstein und anscheinend auch Vahlteich gehörten. Engels griff im »Vorwärts« Dühring als einen »Typus vorlauter Pseudowissenschaft« in glänzend geschriebenen Artikeln13 an. Gegen diese Artikel – während sie erschienen, wurde Dühring von der preußischen Regierung gemaßregelt – erhoben Dührings Anhänger auf dem Gothaer Kongreß Beschwerde und erreichten, daß die Artikel in einer besonderen Beilage fortgeführt werden mußten. Der Dühring-Kultus hörte indessen bald auf.

Während der Verhandlungen des Kongresses erschien der Leipziger Polizeidirektor Rüder, der uns so sehr mit Ausweisungen bedacht hatte, auf der Zuhörertribüne. Da wir keinen Grund hatten, diesen Mann ein[233] Gastrecht zu gewähren, so beantragte ich, ihn auch einmal auszuweisen und zwar aus dem Kongreßlokal. Er verschwand, als er meinen Antrag verlesen hörte.

Eines Abends ereignete sich ein bis jetzt nicht in die Öffentlichkeit gelangter Zwischenfall. Ein anwesender Russe namens Gurewitsch erklärte die deutschen Sozialdemokraten für Feiglinge. Der alte Barrikadenkämpfer Fritzsche, der dies hörte, versetzte dem Maulhelden eine schallende Ohrfeige, worauf dieser eine Beschwerde beim Kongreß einreichte. Dieser setzte die sogenannte Ohrfeigenkommission zur Untersuchung der Sache ein. Da die Kommission aber dem Russen die Ohrfeige nicht mehr abnehmen konnte und Fritzsche sich auf nichts einließ, so verlief die Sache im Sande.


* * *


Um diese Zeit ward in Berlin die berüchtigte Königsmauer nahe beim Rathause hinter der Königsstraße abgebrochen. Dort hauste die niedrigste Prostitution. Wir wollten uns diese historische Stätte feudaler und kapitalistischer »Kultur« einmal ansehen. Bebel, Auer und ich gingen abends zusammen dahin. Als wir in die unheimliche Straße kamen, hielten wir uns in der Mitte und gingen untergefaßt, denn es trieb sich dort viel gefährliches Gesindel umher, namentlich mit Dolchen und Revolvern bewaffnete Zuhälter, wie man uns sagte. Aber es belästigte uns kein männliches Wesen; die Zuhälter hielten sich wohl in den Häusern. Was ich sah, blieb mir unvergeßlich. Rechts und links standen niedrige, dicht aneinander gebaute Häuser. Vor jedem Häuschen standen zwei oder drei Frauenzimmer, meist alt und dick, in kurzen, bis an die Kniee reichenden knallroten Röcken und durch die Nacht leuchtenden weißen Strümpfen. Als wir in die Straße einbogen, erscholl es flötend hüben und drüben: »Komm her, mein Liebchen, du sollst es gut haben, bei mir ists gemütlich« usw. Da wir der »Versuchung« nicht folgten und weiter gingen, so scholl die berühmte Einladung Götzens von Berlichingen und anderes im Chor hinter uns her, während vom nächsten Hause die Lockung kam, um sich dann auch in Götzens Einladung zu verwandeln. So schwirrten »Lockung« und »Einladung« von hüben und drüben, von hinten und vorn um uns her, während wir schweigend dahin schritten. Wir atmeten auf, als die Straße zu Ende war, und empfanden trotz des widerlichen Auftritts ein tiefes Mitleid für diese armen Opfer einer verkehrten Gesellschaftsordnung, die doch auch gute Frauen und Mütter hätten werden können, wenn sie nicht Elend und Ausbeutung in den Sumpf der Prostitution gestoßen hätten.[234]

Fußnoten

1 Als Schilderer gotischer Bauwerke war er bedeutend und es kursierte über ihn der Witz: »Die soziale Frage kann nur durch die Kirche gelöst werden, aber es muß eine gotische sein!«


2 Schwarzenberg und Mayer kamen erst später in den Reichstag. Karl Mayer war der Sohn des Dichters Karl Mayer, von dem Heine im Wintermärchen boshaft sagt:


»Zu Aachen in seiner Kaiserg ruft

Liegt Karl der Große begraben,

Man darf ihn nicht verwechseln mit Karl

Mayer, der lebt in Schwaben.«


3 Eines Tages ging Moltke, der den Weg vom Generalstabs- zum Reichstagsgebäude stets zu Fuße machte, vor mir her durch die Leipziger Straße. Vor dem Portal des Reichstagsgebäudes kamen ihm drei Leute, anscheinend Maurer, entgegen, die offenbar etwas »angeheitert« waren. Einer von ihnen stieß mit Moltke zusammen, so daß diesem die Mütze vom Haupte fiel. Der Marschall, vom Alter unbehilflich geworden, konnte die Mütze nicht aufheben. Ich sprang hinzu und überreichte sie ihm. Er sah mich scharf an, erkannte mich und sagte lächelnd: »Das war keiner von Ihren Disziplinierten!« Darauf ging er ruhig weiter. Wenn das Bismarck passiert wäre – es war zur Zeit des Sozialistengesetzes – so wäre unfehlbar ein »Attentat« daraus gemacht worden.


4 Das bekannte Wort: »Hunde sind wir ja doch!«, das Bamberger hervorknurrte, als Bismarck die Nationalliberalen mit dem Kürassierstiefel behandelte, war nicht so gemeint, wie es gewöhnlich aufgefaßt wird. Bamberger wollte nicht sagen, daß die Nationalliberalen Hunde seien, sondern daß sie von Bismarck als solche behandelt würden.


5 Gleich dem Professor Steffens im Jahr 1813, der sehr kühne Reden hielt, von dem hieß:


»Zu Anfang des Treffens

Drückte sich Steffens.«


6 Er konnte sehr amüsant erzählen. In Augsburg war er als Staatsanwalt genötigt worden, aus Sittlichkeitsgründen gegen einige Bäckermeister vorzugehen, welche Model mit mittelalterlichen Bildern zur Herstellung feineren Backwerks benützten. Um die Sache zu verulken, faßte er in seiner Anklage die Model als »Druckpressen« und das Backwerk als »Preßerzeug nis« auf. »Die Model wurden eingezogen und das »unsittliche« Backwerk wurde vom Gericht verspeist«, sagte er lachend. »Dies war der einzige Preßprozeß, den ich als Staatsanwalt angestrengt habe«.


7 Ein Hauptmann, der längere Zeit im Etat aufgeführt wurde, ohne daß er existierte.


8 Unser Fraktionskollege August Kapell, der sich als Gewerkschaftsführer viel mit den »Harmonieaposteln« herumschlug, hatte sich darauf verlegt, den armen Dr. Max Hirsch zu ärgern, was ihm wohl gelang. Im Parlamentsalmanach war in der Biographie Kapells zu lesen, daß dieser ein Lustspiel »Dr. Max Hirschkuh« verfaßt habe. Alsbald erfolgte im »Gewerkverein« ein wutentbrannter Ausfall von Max Hirsch ob »solcher Gemeinheit«. Kapell lachte sich halb tot. Das Lustspiel existierte übrigens wirklich.


9 Die von Bethusy-Huc sind kein so alter Adel, wie oft geglaubt wird. Sie stammen von einem Kaufmann Bethusy aus Huc bei Genf, der im 18. Jahrhundert nach Preußen übersiedelte und dessen Familie später geadelt wurde.


10 Herder schrieb 1800 an seinen Sohn: »Ich hasse alle Isten und Aner!« Er mußte wohl seine Gründe haben.


11 Es sei hier nur angeführt, was der »berühmte Humorist« Richard Schmidt-Cabanis in der »Berliner Montagszeitung« leistete:


»Zur Geschäftsordnung des Reichstages.

In Anbetracht, daß 1. die Sozialdemokratie den noch nicht 28 jährigen Redakteur Blos als Volksvertreter in den Reichstag geschickt hat;

daß 2. bei der Frühreife der sozialistischen Anschauungen überhaupt demnächst noch jüngere, ja, vielleicht die allerjüngsten Schreierkräfte der Partei auf den Sitzen des Parlaments erscheinen könnten;

daß 3. unter diesen Umständen die Leitung der Debatten nach dem bisherigen Modus bald unmöglich werden dürfte; beantragt die Unterzeichnete die sofortige Annahme folgender Zusatz-Paragraphen zur Geschäftsordnung:

§ 1. Reichstagsabgeordnete unter 7 Jahren dürfen nur in Begleitung erwachsener Fraktionsgenossen auf die Rednerbühne klettern.

§ 2. Ein minderjähriger Abgeordneter, welcher andere beim Hammelspringen stört, Knallerbsen mit in die Sitzung bringt oder den Präsidenten durch das Werfen mit Papierkugeln belästigt, kann im Wiederholungsfalle durch die Parlamentskinderfrau aus dem Sitzungssaal entfernt werden.

§ 3. Speziell die Mitgliederchen der sozialistischen Fraktion werden darauf aufmerksam gemacht, daß das Herumtrampeln auf den Sofas und Fauteuils der Konversationsräume, das Schneuzen in die Tischdecken, das Speien an die Fensterscheiben und dergl. strengstens untersagt ist. Auch dem Fraktionsaufseher Hasselmann steht nicht das Recht zu, Ausnahmen von dieser Vorschrift zu gestatten.

Die Klein Kinder-Parlaments-Bewahr-

Anstalts-Kommission«


Das war wirklich nicht vom Geiste Glaßbrenners, der seinerzeit die »Montagszeitung« begründet hatte, übrigens hat es immer so junge Abgeordnete gegeben.


12 Im Anhang ist er abgedruckt.


13 Vereinigt in dem Buche: »Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft.«


Quelle:
Blos, Wilhelm: Denkwürdigkeiten eines Sozialdemokraten. 2 Bde, 1. Band. München 1914, S. 235.
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