Der Dampfer-Subventionsstreit

Unsere Fraktion war nun zum ersten Male stark genug, um selbständig auftreten zu können, und hatte nicht mehr nötig, bei anderen Fraktionen Bittgänge um Unterschriften zu tun, wenn sie einen Initiativantrag einbringen wollte. Trotzdem betrachteten wir, entsprechend den Traditionen der Partei, unsere parlamentarische Tätigkeit nur als ein Mittel zur Propaganda für den Sozialismus. Es wurden auch Fraktionsmitglieder in einzelne Kommissionen delegiert, wo für uns wichtige Dinge auf dem Spiel standen, namentlich in die Wahlprüfungs- und Petitionskommission. An den Beratungen der Budgetkommission beteiligten wir uns nicht, da wir ja das ganze Reichsbudget ablehnten. Den noch wurde der Ein tritt in die genannten Kommissionen von hyperradikalen Parteigenossen als »schwächliche Konzession an den Sumpf des Parlamentarismus« heftig getadelt. Nun – im Jahr 1873 war noch von den Abgeordneten allen Ernstes verlangt worden, daß sie sich an den parlamentarischen Verhandlungen nur durch Zwischenrufe beteiligen sollten. Alle die Marotten – es gab noch mehr – konnten nur nach und nach überwunden werden. Wenn man eine Tafel für die ganze Welt eröffnet, setzen sich manchmal eben auch merkwürdige Gäste daran.

Im neuen Reichstage hatten die Schutzzöllner wieder vollständig die Oberhand und Bismarck konnte seine agrarische Wirtschaftspolitik fortsetzen, mittels welcher er dem deutschen Volke – mit Schäffle zu reden – eine neue Grundherrlichkeitsabgabe auferlegte, die der wirtschaftlich versinkenden Junkerschaft wieder emporhelfen sollte. Eine Verteuerung der notwendigsten Lebensmittel erfolgte, indem die Zölle auf Fleisch und Getreide erhöht, resp. verdreifacht wurden. Zugleich kündigte Bismarck eine Aera der Millionärzüchterei an.

Trotzdem begrüßte er den neuen Reichstag gleich mit einer Schikane. Die Freikarten der Abgeordneten für die Zeit der Session hatten bisher für das ganze Reich Gültigkeit gehabt. Jetzt wurden sie auf die Linien zwischen Berlin und dem Wohnsitz des Abgeordneten beschränkt. Viele Abgeordnete konnten infolgedessen nicht frei nach ihren Wahlkreisen fahren. Man glaubte erst, diese Maßregel ziele dahin, die Sozialdemokraten zu verhindern, daß sie mit den Freikarten auf Agitation gingen. Aber bei der Debatte über diese Sache sagte Bismarck, ein Abgeordneter habe 14000 Kilometer abgefahren und dergleichen dürfe nicht mehr vorkommen. Es hieß, daß dieser Pfeil Moltke gegolten. Dieser antwortete indessen nicht. Es ist aber bekannt, daß Bismarck und Moltke sich nicht leiden konnten, weil ersterer gegen den Willen des letzteren 1870 das Bombardement von Paris durchgesetzt hatte. – Ich hatte einmal mir gestattet, zu[123] bemerken, die angenehmsten Seiten des deutschen Parlamentarismus seien die marmornen Waterklosetts und die Freifahrkarten; nun war die letztere Annehmlichkeit auch fraglich geworden.

Der agrarischen Auspowerungspolitik standen wir unpersönlich gegenüber. Wir blieben aber auch kühl, als die bürgerlichen Parteien ihren lächerlichen Wettlauf um die Gunst des armen Mannes fortsetzten, wozu sie durch Bismarcks Sozialpolitik angetrieben worden waren. Mit einem Male hatten sie alle ihr »warmes Herz« für den Proletarier entdeckt, das sie nun »von jeher« gehabt haben wollten; sogar die Freisinnigen, die als Manchestermänner von jeher die Eingriffe des Staates in den Kampf zwischen den wirtschaftlich Starken und Schwachen verworfen und alles dem »freien Spiel der Kräfte« überlassen hatten, wollten nun »von jeher« begeisterte Anhänger des Arbeiterschutzes gewesen sein. Mit dem Begriff des Arbeiterschutzes wurde förmlich Fangball gespielt.« Bismarck, der als echter Junker die moderne Bourgeoisie haßte, spielte ihr einen boshaften Streich, indem er plötzlich sagte, daß die bisher erreichte Sozialgesetzgebung ohne das Drängen und die Mitwirkung der Sozialdemokratie nicht zustande gekommen wäre und daß wir in diesem Sinne »einnützliches Element« seien. Damit rächte er sich für die Quertreibereien der Bourgeosie gegenüber der Sozialreform.

Die bürgerlichen Parteien brachten im Wettlauf um die Gunst des armen Mannes nunmehr allerlei Arbeiterschutz-Anträge ein, die ganz unzulänglich oder auf Verhinderung eines wirksamen Eingreifens berechnet waren. Die sozialdemokratische Fraktion dagegen reichte einen umfassenden Antrag ein, der auf dem Boden des Arbeiterschutzgesetzentwurfs von 1877 stand und so ziemlich alles enthielt, was innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft an gesetzlichem Schutze für die Lohnarbeiter zu fordern war. Wir forderten den zehnstündigen Maximalarbeitstag für erwachsene, den achtstündigen für jugendliche Arbeiter, Verbot der Sonn- und Feiertagsarbeit mit den notwendigen Ausnahmen. Verbot der Kinderarbeit, Verbot der Frauenarbeit auf Hochbauten und unter Tag, wöchentliche Lohnzahlung am Freitag und Minimallohn und zur Überwachung der Ausführung ein Reichsarbeitsamt, Arbeitsämter, Arbeitskammern und Schiedsgerichte. Der Minimallohn war nur gegen eine starke Minderheit in den Antrag aufgenommen worden, da er vom wissenschaftlichen Sozialismus verworfen wurde.

Selbstverständlich wurde unsere Arbeit platonisch gelobt, aber für »unausführbar« erklärt. Die Arbeitermassen wußten das »warme Herz« der bürgerlichen Parteien nachgerade auch da richtig zu würdigen, wo sie bisher noch an diese Chimäre geglaubt hatten.

Die von Bismarck um diese Zeit begonnene Kolonialpolitik verwarfen wir prinzipiell, denn wir faßten sie so auf, daß das Volk hier nur die Mittel aufbringen sollte, um einzelnen Kapitalistengruppen die Möglichkeit neuer Profite zu schaffen. Außerdem erschienen uns die Kolonien im ganzen unrentabel. Und aus unserer Stellung zur Kolonialpolitik entstand[124] in der Reichstagsfraktion der Kampf um die Dampfersubvention, der seinerzeit so stark auf unser inneres Parteileben eingewirkt hat.1

Schon im Sommer 1884 hatte die Regierung einen jährlichen Höchstbetrag von vier Millionen Mark für 15 Jahre gefordert, um mit Ostasien und mit Australien regelmäßige Postdampferverbindungen zu schaffen, indem sie an ihr geeignet erscheinende Unternehmer Zuschüsse zahlen wollte. Die Angelegenheit wurde verschoben und im November 1884 wurde sie wieder aufgegriffen. Die Regierung verlangte nun aber fünfeinhalb Millionen Mark, da sie noch eine afrikanische Linie plante.

Es ist behauptet worden, es habe damals in der Sozialdemokratie eine außerordentliche Gereiztheit vorgeherrscht, die aus der Unzufriedenheit mit der parlamentarischen Tätigkeit der Reichstagsfraktion entsprungen sei. Dies ist vollkommen unrichtig. In der Partei gab es damals die drei Strömungen, die es so ziemlich immer gegeben hat – eine äußerst »radikale« auf der linken, eine »gemäßigte« auf der rechten Flanke, und zwischen beiden eine mittlere, welche die zahlreichste war. Da alle auf dem Boden des Parteiprogramms sich bewegten, so war keiner in prinzipieller Beziehung ein Vorwurf zu machen. Dieser Zustand war auch gar nicht unvorteilhaft, denn er bewahrte die Partei davor, nach rechts oder nach links allzu extremen Neigungen Raum zu geben. Diese drei Strömungen waren auch in der Fraktion vorhanden mit der gleichen Wirkung. Die Verschiedenheit in der Auffassung der Parteitaktik wuchs sich aber nicht zu persönlichen Feindschaften aus, wie es später geschah, von vereinzelten Fällen abgesehen. Die Partei als ganzes hatte an der Haltung der Fraktion nichts auszusetzen und wußte die Schwierigkeiten zu würdigen, mit denen diese als parlamentarische Vertretung und als Parteileitung zu kämpfen hatte. Dies beweist der Beschluß des Kopenhagener Kongresses, der dahin lautete:

»Die Gesamthaltung der Reichstagsabgeordneten unserer Partei entspricht dem Programm der Partei, weshalb der Kongreß sich mit derselben einverstanden erklärt.«

Dieser Beschluß wurde ohne Debatte gefaßt.

Besserwisser und Krittler gab es allerdings auch nicht wenige, namentlich unter den deutschen Sozialisten im Auslande, die in freieren Ländern lebten und keinen genügenden Einblick in die deutschen Verhältnisse hatten. Auch das Maulheldentum machte sich breit. So war ein Student namens Grunzig aus Berlin ausgewiesen worden und in Neuyork in die Umgebung der Helena Dönniges gekommen. Offenbar von deren »Geiste«[125] erfaßt, schrieb er herüber, die Fraktion müssen an den Ohren aus dem Reichstage geführt werden. Wir lachten über diese Albernheit, wie über andere.

Daß viel Nervosität vorherrschte, ist richtig. Aber diese kam von dem Druck des Sozialistengesetzes, das den einzelnen fast täglich vor neue Gefahren stellte. Der eine hat eben starke Nerven, der andere nicht.

Gegen die neue Fraktion konnte nicht wohl schon ein Vorwurf erhoben werden, denn die Wahlen hatten ja erst am 28. Oktober stattgefunden und erst am 20. November hatte die erste Session des neuen Reichstags begonnen.

Betreffs der Dampfersubvention gab es in der Fraktion anfangs keine prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten. Alle waren einig, daß die Kolonialpolitik nicht durch solche Subventionen gefördert werden dürfe. Aber die Mehrheit der Fraktion war der Meinung – und dieser pflichtete auch ich bei – daß unter den vorgeschlagenen Linien auch solche seien, die mit der Kolonialpolitik keine Berührung hätten. Sie hätten nur den Zweck, den internationalen Verkehr zu fördern. In der Tat hat die Sozialdemokratie alles Interesse daran, den Weltverkehr, den wirtschaftlich revolutionärsten Faktor unserer Zeit, sich frei entfalten zu lassen.

Nun kam noch hinzu, daß Bismarck, wie bekannt war, den Bremer Handel mit Ostasien und Australien zuungunsten Hamburgs bevorzugen wollte, welches damals den Handel mit diesen Gebieten fast ganz an sich gezogen hatte. Es sollte also der Bremer Lloyd subventioniert werden. Die Schädigung des Hamburger Handels mußte auch die dortigen Arbeiter schwer treffen. Diese machten ihre Interessen geltend. Wenn der Bremer Lloyd die Subvention erhalte, sagten sie, könne diese Gesellschaft die erforderlichen Schiffe aus dem Bestand ihrer Handelsflotte entnehmen; wenn aber die Hamburger Reedereien mit der Subvention bedacht wurden, dann müßten diese neue Schiffe bauen, und es bekämen die zahlreichen Werftarbeiter, Schiffszimmerer usw., die damals brotlos waren, Beschäftigung. Dieser Grund fiel bei der Mehrheit besonders schwer ins Gewicht; sie hielt es in jeder Beziehung für vorteilhaft, wenn sie den Arbeitern auch einmal mit einem materiellen Vorteil beispringen könne. Ohnehin wurde dies aus den Kreisen der Schiffszimmerer und verwandten Berufe energisch verlangt. Indem sie immer die Förderung der Kolonialpolitik vermied, war sie bereit, für die ostasiatische und die australische Linie, bei dieser die Samoalinie ausgenommen, zu stimmten, die afrikanische und die Samoalinie wollte sie ablehnen. Doch machte sie ihre Zustimmung davon abhängig, daß die neu einzustellenden Schiffe Dampfer ersten Ranges sein und auf deutschen Werften gebaut werden müßten. Wenn aber die letzteren Bedingungen abgelehnt oder wenn die afrikanische und die Samoalinie angenommen werden sollten, dann wollte die Fraktionsmehrheit gegen die ganze Vorlage stimmen.

Die Minderheit lehnte die ganze Vorlage von vornherein ab. Sie sagte, man dürfe den deutschen Steuerzahlern nicht eine solche Last auferlegen,[126] welche der deutsche Seehandel gar nicht fordere, denn er sei ohne Subvention groß geworden. Innerlich hänge die Dampfersubvention doch mit Bismarcks Wirtschaftspolitik zusammen; sie wurde unerträgliche Tarifbildungen und Krisen im überseeischen Handel mit sich bringen.

Am 11. Dezember meldete der »Sozialdemokrat« in Zürich:

»Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion hat nach längeren Debatten den Beschluß gefaßt, die Abstimmung über die Dampfersubvention offen zulassen. Die Mehrheit der Abgeordneten ist der Ansicht, daß es sich hier um eine Zweckmäßigkeits- und nicht um eine Prinzipienfrage handelt. Falls der Nachweis geliefert wird, daß die Ausführung des Regierungsprojektes dem Handel und der Industrie förderlich wäre, und wenn dem Reichstag die Kontrolle übertragen wird, gedenkt ein Teil der Fraktion, und zwar der größere, für die Dampfersubvention zu stimmen. In die Reichstagskommission, welche die Regierungsvorlage zu prüfen hat, sind Dietz und Bebel gewählt worden.«

Diesem Beschlusse waren heftige Kämpfe vorausgegangen.

Bebel hat auf dem Chemnitzer Parteitag von 1912 vor dem Weltkriege bei einer Debatte über Sonderkonferenzen ausgeführt:

»Die Konferenzen sind schon zirka dreißig Jahre lang in der Partei, wenn auch nicht regelmäßig, geübt worden. Wir haben in den achtziger Jahren in der Fraktion, als sie vierundzwanzig Mitglieder zählte, zwei sehr scharf unterschiedene Gruppen feststellen können, namentlich bei der Dampfersubvention. Es waren damals achtzehn gegen sechs und zwar waren die sechs die Linke, wozu ich selbstverständlich gehörte ... Wir in der kleinen Gruppe brauchten natürlich keine Sonderkonferenzen abzuhalten. Aber die übrigen achtzehn hielten ihre Sonderkonferenzen ab, um uns in der Fraktion glücklich niederzukriegen. Nachher haben wir uns verständigt. Wir sind einstimmig gegen die Dampfersubvention aufgetreten.2 Von da ab haben in der Reichstagsfraktion Sonderkonferenzen irgendwelcher Art nicht mehr stattgefunden. Sie sind erst wieder eingezogen zu Anfang dieses Jahrhunderts ... Wir werden uns alle sehr freuen, wenn es künftig ohne diese Sonderkonferenzen geht.«

Dies ist richtig und – je nachdem – auch nicht ganz richtig. Jeden falls waren die Zusammenkünfte von damals keine Sonderkonferenzen im heutigen Sinne und pflegten weder die Intrige noch die Stellenvermittelung.

In den siebziger und achtziger Jahren herrschte in der Fraktion eine Art »patriarchalischen« Verhältnisses. Die »Alten«, unter denen namentlich Bebel und Liebknecht zu verstehen waren, gaben den Ton an und wir Jüngeren fügten uns. Das änderte sich, nachdem wir uns auf dem parlamentarischen Boden sicherer fühlten; wir wollten auch unserer eigenen Meinung Geltung verschaffen. Auch waren wir noch jung und wollten[127] manchmal einen fröhlichen Abend haben, ohne weise Lehren anhören zu müssen. Namentlich Grillenberger, Frohme und ich gaben uns gerne solcher Geselligkeit hin. Aber es entstanden daraus keine Differenzen und schließlich glich sich alles dahin aus, daß »Alte« und »Junge« kameradschaftlich verkehrten. Die damals oft gebrauchte Bezeichnung der »Alten« als »Päpste« war ein Scherz, den man sich auch in ihrer Gegen wart erlauben konnte.

Als die Frage der Dampfersubvention kam, erweiterte sich dieser Kreis ganz von selbst. Singer, der damals als ehemaliger »Jacobyt« der äußerste rechte Flügelmann war und erst 188 auf dem St. Galler Kongreß zur äußersten Linken abschwenkte, gesellte sich zu uns dreien, desgleichen Hasenclever, der immer der alte Lassalleaner blieb, Dietz und Geiser. Wir beschäftigten uns natürlich mit der Dampfersubvention. Um ungestört zu bleiben, gaben wir unserem Zirkel den Namen »Sauglocke«, was den Anschein erwecken sollte, als beschäftigten wir uns mit Zotenreißerei. Das hielt alle von uns fern, die peinlich auf »sittliches Betragen« hielten. Wir lenkten in der Tat die damalige Fraktionsmehrheit, was der »radikalen« Linken, bei der sich Bebel, Vollmar und nachher auch Liebknecht befanden, völlig verborgen blieb.

Bei Beginn der Fraktionsberatungen über die Dampfersubvention hielt uns Bebel eine schmetternde, reichlich zweistündige Rede. Das war uns zu viel und ich erhielt den Auftrag, eine Beschränkung der Redezeit zu beantragen, eine halbe Stunde für Referenten und zehn Minuten für Diskussionsredner. Die »Alten« fanden das unerhört, aber es wurde beschlossen und ich wiederholte den gleichen Antrag bei Eröffnung jeder Fraktionssitzung.

Die Debatten wurden hitzig und schließlich wurde die Dampfersubvention doch zur Prinzipienfrage gestempelt, wozu sich auch Liebknecht bekehrte, der erst im »Sozialdemokrat« die Prinzipienfrage bestritten hatte.

Dietz legte eine in die Details gehende Berechnung vor, nach welcher die Errichtung einer australischen – immer Samoa ausgenommen – und der ostasiatischen Dampferlinie Handel und Verkehr und die Geschäfte überhaupt neu beleben und somit den Arbeitern sehr bedeutende Vorteile bringen müßte. Bebel entgegnete darauf heftig, daß geschäftliche Rücksichten nicht maßgebend seien, und daß die Fraktion sich nur nach prinzipiellen Gesichtspunkten zu richten habe.

Im »Sozialdemokrat« erschienen Einsendungen für und wider.

Bei den Verhandlungen im Plenum stimmte die sozialdemokratische Fraktion geschlossen gegen die Vorlage. Im »Sozialdemokratischen Reichstags-Handbuch« von Max Schippel findet sich folgende Darstellung der Verhandlungen:

»Da die Mehrheit auf die afrikanische und die Samoa-Linie nicht verzichten wurde, so werde, sagte der Beauftragte der Fraktion, Genosse Blos, die Fraktion einstimmig gegen die Dampfersubvention in ihrer Gesamtheit stimmen. In der zweiten Lesung befürwortete Dietz die[128] Fraktionsanträge, die sämtlich abgelehnt wurden. Bei den entscheidenden Abstimmungen fehlten auch elf Sozialdemokraten, die durch Krankheit oder durch ihren Beruf – »sie müssen sich sämtlich durch ihre Arbeit ernähren«, sagte der »Sozialdemokrat« – abgehalten waren. In der dritten Lesung stimmten die sozialdemokratischen Abgeordneten gegen die Vorlage.«

Trotzdem wurde noch bis in die jüngste Zeit in der Partei kolportiert, wir hätten für die Vorlage gestimmt; der Abgeordnete Wilhelm Schmidt (Frankfurt) behauptete es sogar einmal in einer öffentlichen Erklärung.

Schon vor der entscheidenden Abstimmung im Reichstage waren verschiedene Proteste gegen die Haltung der Mehrheit der Fraktion eingegangen, die meist von den deutschen Sozialisten im Auslande kamen. Sie wurden im »Sozialdemokrat« veröffentlicht. Zuerst protestierte die Züricher Mitgliedschaft, welcher sich der »Sozialdemokrat« anschloß; dann die deutschen Sozialisten in Bern, London, Kopenhagen und Brüssel; aus Deutschland sandten Proteste Parteigenossen aus Leipzig, Rostock und Königsberg. Ob an den letzteren Orten die Gesamtheit der Parteigenossen hinter den Protesten stand, ließ und läßt sich nicht ermitteln, da es keine öffentlichen Organisationen in Deutschland gab.

Die Mehrheit der Fraktion konnte, nachdem sie gegen die Dampfersubvention gestimmt, diese Angriffe umsoweniger ohne Antwort lassen; ebenso sah sie sich gezwungen, sich gegen die Angriffe auszusprechen, die aus der Mitte der Fraktion heraus im »Sozialdemokrat« gegen sie gerichtet worden waren.

Mir wurde die angenehme Aufgabe, die entscheidenden Anträge einzubringen und zu begründen.

Zunächst beantragte ich eine Kommission, um die Urheber der Angriffe im »Sozialdemokrat« ausfindig zu machen, was auch beschlossen wurde, obwohl Liebknecht von einem »Ketzergericht« sprach. Alsdann wurde beschlossen, eine Erklärung zu erlassen, die ich ursprünglich entworfen hatte, die aber, nachdem sie durch verschiedene Schmelztigel gegangen, am 2. April in nachstehender Form im »Sozialdemokrat« erschien:


»Erklärung.


In der letzten Zeit, namentlich im Monat Januar dieses Jahres, waren im »Sozialdemokrat« mehrfach offene und versteckte Angriffe gegen die sozialdemokratische Fraktion des Reichstages zu lesen. Diese Angriffe gingen teils von der Redaktion, teils von Korrespondenten des Blattes aus. Sie bezogen sich vorzugsweise auf das Verhalten der sozialdemokratischen Reichstagsmitglieder in der Frage der Dampfersubvention. Auch ist eine Resolution der Züricher Genossen, die sich gegen die Haltung der Fraktionsmehrheit in dieser Frage aussprach, nicht bloß im Parteiorgan veröffentlicht worden, sondern auch in Einzelabzügen in Deutschland[129] verbreitet worden, offenbar in der Absicht, eine Art »Entrüstungsbewegung« gegen die Fraktionsbeschlüsse hervorzurufen.

Wenn gleich die sozialdemokratische Reichstagsfraktion weiß, daß durch derartige Angriffe ihre Stellung nicht erschüttert werden kann, so betrachtet sie doch ein derartiges Verfahren als durchaus ungehörig.

Sie bestreitet der Redaktion und den Korrespondenten des Parteiorgans keineswegs das Recht einer selbständigen Kritik; sie erachtet es aber für eine schwere Schädigung der Parteiinteressen, wenn die Beschlüsse der Abgeordneten in einer Weise besprochen werden, welche geeignet ist, die Fraktion in den Augen der fernstehenden Parteigenossen herabzusetzen.

Das Parteigefühl unserer Genossen, an welches wir appellieren, muß ihnen sagen, daß ein solches Verfahren geeignet ist, die Aktionsfreiheit der Partei herabzusetzen oder gar in wichtigen Momenten zu lähmen.

Statt den gewählten Vertretern der Arbeitersache auf solche Weise den schwierigen Kampf gegen übermächtige Feinde noch zu erschweren, sollte jeder Parteigenosse bestrebt sein, den Keim der Zwietracht zu ersticken und das Band der Ein tracht fester und fester zu knüpfen.

Insbesondere ist es Pflicht der Redaktion des »Sozialdemokrat«, in diesem Geiste zu wirken und nie zu vergessen, daß das Parteiorgan unter keinen Umständen in Gegnerschaft zur Fraktion treten darf, welche die moralische Verantwortlichkeit für den Inhalt desselben trägt.

Nicht das Blatt ist es, welches die Haltung der Fraktion zu bestimmen, sondern die Fraktion ist es, welche die Haltung des Blattes zu kontrollieren hat.

Die Fraktion erwartet demgemäß, daß derartige Angriffe in Zukunft unterbleiben und daß die Redaktion alles vermeidet, was dem Geiste dieser Erklärung zuwiderläuft.

Berlin, 20. März 1885.


Die sozialdemokratische Fraktion des

Deutschen Reichstages.«


Diese Erklärung, die in keinem Satze über die Befugnisse der Fraktion als solcher und als Parteileitung hinausging, versetzte eine Anzahl von Parteigenossen in heftigste Erregung, die sich in grimmigen Kundgebungen entlud. Sucht man nach den Ursachen dieser Erscheinung, so sind sie in letzter Linie im Sozialistengesetz zu erblicken. Der ungeheure Druck, mit dem dieses auf den Parteigenossen lastete, und die anscheinende Unmöglichkeit, sich in absehbarer Zeit von diesem Druck zu befreien, brachte vielfach eine verzweifelte Stimmung hervor und erweckte im einzelnen vorübergehend sogar anarchistische Neigungen.3. Statt nun ihre Energie und Ausdauer im Kampfe gegen die reaktionären Gewalten zu verdoppeln, lenkten sie ihre Zornausbrüche auf die Fraktion, welche doch an den momentan bestehenden Verhältnissen nichts ändern konnte und sie auch[130] nicht verschuldet hatte. Bei jüngeren und unerfahrenen Parteigenossen konnte man dergleichen verstehen, bei älteren und erfahrenen aber nicht.

Die Redaktion des »Sozialdemokrat« – der Parteigenosse Eduard Bernstein – antwortete auf die Fraktionserklärung, daß sie sich vorläufig jeder Meinungsäußerung enthalte, da die Fraktion in die Ferien gegangen sei und nach dieser die direkt von der Redaktion erhobenen Ein wände zur Erledigung bringen könne. Deshalb sollten auch keine der beim Blatte eingegangenen Zuschriften zum Abdruck gebracht werden.

Inzwischen waren zwei Fraktionsmitglieder nach Zürich gegangen, um dort eine Verständigung mit der Redaktion einzuleiten. Die Verständigung wurde rasch erreicht. Die Redaktion des »Sozialdemokrat« verzichtete auf eine selbständige Erklärung. Dagegen stellte sie gemeinsam mit den Abgesandten der Fraktion fest, die Auffassung, als habe die Fraktion durch ihre Erklärung einen Eingriff in das Recht der freien Meinungsäußerung beabsichtigt, beruhe auf einem Mißverständnis.

»Die Erklärung der Fraktion«, wurde weiter festgestellt, »sollte einzig und allein den Zweck haben, die Einheit und Aktionsfähigkeit der Partei zu wahren und zu gleicher Zeit die wegen der Frage der Dampfersubvention entstandenen Polemik zum Abschluß zu bringen.

Fraktion und Redaktion sind sich darin einig, daß innerhalb der Partei absolute Freiheit der Kritik obwalten muß, und daß jeder Versuch, diese Freiheit zu beeinträchtigen, einen Verrat an den Parteiprinzipien bedeuten und die Grundlage, auf der die Partei ruht, erschüttern wurde.

Fraktion und Redaktion sind aber auch darin einig, daß die Einheit und Aktionsfähigkeit der Partei unter allen Umständen gewahrt werden müssen und daß es durchaus zu verwerfen ist, wenn unter dem Vorwand, das Recht der freien Kritik auszuüben, der Versuch gemacht wurde, der Parteileitung die Erfüllung ihrer Pflicht zu erschweren.«

Alsdann wurde auf die außergewöhnlichen Zustände unter dem Sozialistengesetz hingewiesen und weiter festgestellt:

»Die Parteileitung vermag ihrer schwierigen Aufgabe nicht zu genügen, wenn sie nicht auf die Unterstützung der Genossen rechnen kann. Hat die Parteileitung in bezug auf eine bestimmte Angelegenheit einen Beschluß gefaßt, so muß sie auch die Gewißheit haben, daß die Genossen mit vollem Vertrauen und ganzer Kraft hinter ihr stehen. Ist der eine oder der andere vielleicht abweichender Meinung, so hat er sich der Vertretung der Gesamtheit taktisch unterzuordnen, gerade wie erforderlichenfalls innerhalb dieser Vertretung sich die Minorität der Majorität unterzuordnen hat. Geschieht dies nicht, dann hört jede Organisation und jede Aktion auf ... Die Fraktion denkt nicht daran und kann nicht daran denken, den »Sozialdemokrat« als ihr persönliches Organ zu betrachten, mit dem sie nach Belieben schalten und walten kann. Der »Sozialdemokrat« gehört der Gesamtpartei und ist das Organ der Gesamtpartei. Die Gesamtpartei wird aber vertreten durch die Fraktion, die kraft ihres[131] Amtes naturgemäß die Kontrolle der Partei hat. In bezug hierauf befindet sie sich in vollstem Einverständnis mit der Redaktion des Parteiorgans, und die Vorkommnisse, welche die Erklärung der Fraktion veranlaßten, haben dies Verhältnis brüderlichen Zusammenarbeitens unberührt gelassen.« –

Damit war der Streitfall erledigt, wenn auch die Abgrenzung der beiderseitigen Befugnisse noch für manches »Mißverständnis« die Tür offen ließ. Das wichtigste war die förmliche Anerkennung des Rechts der Kontrolle des Parteiorgans durch die Fraktion. Indessen sind eigentliche Differenzen zwischen der Fraktion und dem »Sozialdemokrat« nicht mehr vorgekommen.

Zunächst aber kam noch ein Nachspiel. Die Fraktion wollte durch die Tat beweisen, daß im Parteiorgan freie Meinungsäußerung herrsche. Obschon eine Reihe von Zuschriften – meist von deutschen Sozialisten im Auslande – dort abgedruckt waren, welche sich gegen die Fraktion aussprachen, so verzichtete sie doch auf den Abdruck der vielen zustimmenden Einsendungen. Um zu zeigen, daß sie sich vor großen Worten und hyperradikalem Phrasenschwulst nicht fürchte, wünschte sie ausdrücklich den Abdruck der Frankfurter Erklärung, welche von der Redaktion beanstandet worden war. Auch wollte die Fraktion zeigen, wie weit die Selbstüberhebung und Taktlosigkeit gewisser Leute an einzelnen Orten ging.

In dieser Erklärung wurden zunächst die Abgeordneten als »Mitkomödianten« bezeichnet, weil sie Vertreter in den Seniorenkonvent geschickt hatten; wir sollten eine »freier Männer unwürdige Komödie« aufgeführt haben, indem wir mit den »Vertretern der heutigen Gesellschaft« diplomatische Unterhandlungen gepflogen hätten, um uns mit ihnen auszusöhnen; der Weizen der Partei sollte vom Unrat gesäubert werden, unter welch letzterem natürlich die Fraktion zu verstehen war, die dann noch beschuldigt wurde, daß sie die Sozialdemokratie in den »Sumpf des Parlamentarismus« führen wolle. Daß die Fraktion den Inhalt des Parteiorgans zu kontrollieren beanspruche, sei eine grenzenlose Überhebung. Und so weiter.4

Wir hielten die knabenhaft unreifen und anarchistelnden Ausbrüche dieser Erklärung nicht einer Erwiderung wert.

Aber wer waren denn diese furchtbaren Revolutionäre, welche uns als »Unkraut« ausjäten wollten?

In der Erklärung hieß es: »Wir stellen den Stimmen der Mehrheit in der Fraktion diese einstimmige Meinung von mehreren hundert Frankfurter Parteigenossen gegenüber, von welchen jede Stimme genau denselben Wert und dasselbe Gewicht hat, wie jede in der Fraktion.«[132]

Die Helden waren so vorsichtig, ihre Erklärung nicht zu unterzeichnen. Kein einziger Name war auf dem Original des Schriftstückes zu sehen.5

Das kam daher, daß man verbergen wollte, was doch eine Hauptsache war, daß nämlich hinter der Erklärung keineswegs die Gesamtheit der Frankfurter Parteigenossen stand.

Die Parteiversammlungen mußten damals bekanntlich geheim gehalten werden. In den größeren und großen Städten waren die Parteigenossen in Gruppen geteilt, unter deren Führern oftmals Differenzen bestanden. Infolgedessen wurden einzelne Personen oder auch ganze Gruppen, die anderen unbequem waren, oftmals gar nicht eingeladen. Übrigens sah ich auf einem Schiedsgericht in Neu-Isenburg, zu dessen Abhaltung ich dorthin berufen worden war, daß die in Frankfurt sich befehdenden Richtungen ungefähr gleich stark waren.

So war zu der Versammlung, welche die Erklärung gegen die Mehrheit beschloß, der in Frankfurt wohnhafte und zu dieser Mehrheit gehörende Abgeordnete Frohme nicht eingeladen worden, während der in Frankfurt gleichfalls wohnende Abgeordnete Sabor, der, wenn ich recht weiß, zur Minderheit gehörte, eingeladen, aber wegen Unwohlsein ausgeblieben war. Derselbe hatte übrigens kurz zuvor in einer Wählerversammlung Bericht über die Fraktionstätigkeit erstattet, wobei keiner von den Urhebern der Erklärung das Wort ergriffen hatte.

Nun fühlte sich der Abgeordnete Frohme genötigt, eine Gegenerklärung zu erlassen im Namen derjenigen Frankfurter Parteigenossen, die mit jener Kundgebung nicht einverstanden waren. Er wies die darin enthaltenen Anschuldigungen scharf zurück und protestierte »gegen die unerhörte Anmaßungen einer Krakehlerclique, welche hübsch im Dunkeln verborgen, erfüllt von echt femrichterlichem Hochmut, ihre vergifteten Pfeile auf diejenigen schießt, denen die Aufgabe zugefallen ist, im offenen ehrlichen Kampfe für die Sozialdemokratie einzustehen ... Um den Wert dieses Verdammungsurteils ermessen zu können, muß man wissen, wie dasselbe zustandegekommen ist. Man hat sich wohl gehütet, irgend einen der überzeugungstreuen und vernünftigen Parteigenossen zu einer bezüglichen Besprechung einzuladen. Man hat vielmehr, wenn wirklich eine größere Anzahl von Personen sich am Beschlusse des »Aufrufs« beteiligte, einige Dutzend harmloser, unerfahrener, junger Menschen zusammengetrommelt, die von der jämmerlichen Komödie, wozu sie mißbraucht wurden, keine Ahnung hatten.« –

Auf diese Provokation hin mußte den Urhebern der Kundgebung ihr Ehrgefühl gebieten, öffentlich sich zu rechtfertigen. Aber sie taten das nicht. Statt ihrer erschien zu unserer Überraschung plötzlich Bebel auf dem Plan, hinter dem sich jene Helden versteckten.6[133]

Bebel nahm in etwas merkwürdiger Weise für die Urheber der Frankfurter Kundgebung Partei, obschon diese sich, wie er ausdrücklich bemerkte, gegen die ganze Fraktion, also auch gegen ihn selbst richtete. Frohmes Ausfälle fanden bei ihm mehr Tadel als die Ausfälle der Kundgebung. Bebel erklärte, er sei unmittelbar nach den Verhandlungen, aus denen die Kundgebung hervorgegangen, mit den betreffenden Frankfurter Parteigenossen zusammengekommen und habe sich überzeugt, daß nicht »eine kleine Clique«, sondern »wohlgezählt über neunzig Männer« es gewesen seien, welche die Kundgebung beschlossen hätten.7 Sodann behauptete Bebel, die Urheber der Kundgebung seien »bis auf ganz vereinzelte, die fehlten, die ältesten Parteigenossen Frankfurts, die zum Teil fünfzehn und mehr Jahre in der Partei tätig und deren Namen zum Teil in der ganzen Partei bekannt«, gewesen. Vom besten Geiste beseelt hätten sie nur eine Pflicht zu erfüllen geglaubt.

Wir waren allerdings der Meinung, daß zur Erfüllung der Parteipflicht die blöden Schimpfereien in der Frankfurter Kundgebung nicht erforderlich waren. Das Merkwürdigste aber war, daß die Namen der Urheber der Frankfurter Kundgebung auch jetzt noch der Öffentlichkeit vorenthalten wurden, obschon Bebel schützend seine Hand über sie hielt und behauptete, es seien hervorragende Geister unter ihnen. Sie sind auch bis auf den heutigen Tag nur den »Eingeweihten« bekannt.

Dies Versteckspielen war bei Leuten, die selbst von ihrem »edlen demokratischen Selbstbewußtsein« sprachen, gewiß nicht erhebend.

Daß Bebel so auftrat, kam zunächst daher, daß er dem »Lassalleaner« Frohme gegenüber starke Antipathien hegte und in solchem Falle ließ er sich von seinen Freunden – er hatte solche in Frankfurt – leicht ein nehmen und bestimmen, ihren Übertreibungen zu glauben. Dann aber war er gerade in jener Periode seines Lebensganges mit einer manchmal komischen Ängstlichkeit bemüht, den geringsten Schimmer von »gemäßigter« Gesinnung zu vermeiden.

Ich habe diese Affaire so ausführlich behandelt, weil sie einen tiefen Blick in das innere Parteigetriebe tun läßt und zeigt, daß die Zustände in der Partei unter dem Sozialistengesetz doch manchmal wesentlich anders waren, als man sie sich heute vorstellt.

Die Dampfersubventions-Affaire hatte noch ein weiteres Nachspiel. Plötzlich erschien im »Sozialdemokrat« eine von einem Korrespondenten des Blattes herrührende Notiz, in welcher es hieß, die ganze Dampfersubvention sei ein gemeiner Schwindel gewesen; der Norddeutsche Lloyd habe Geld gebraucht und es sei ihm auf dem Wege der Dampfersubvention verschafft worden, der man zu diesem Zwecke ein patriotisches Mäntelchen umgehängt habe. Vergebens habe der Abgeordnete Dietz den[134] Schwindel aufgedeckt, der Reichstag wollte nicht hören und so sei das »schmutzige Geschäft« zustande gekommen.

Wir trauten unseren Augen kaum, als wir dies lasen. Allerdings erkannten wir auch gleich den Verfasser, dem ein solcher lapsus calami8 nicht zum erstenmal passiert war.

Auer, Geiser, Grillenberger und ich erließen sofort im »Sozialdemokrat« eine Erklärung, in der es hieß:

»Ware es wahr, was jene Notiz behauptet, daß die Subventionsvorlage ein ganz gemeiner Schwindel war, nur bestimmt, dem bankerotten Lloyd wieder auf die Beine zu helfen, und wäre es weiter wahr, daß der Abgeordnete Dietz diesen Schwindel durchschaut hatte, dann bliebe, angesichts der Tatsache, daß bis zur endgültigen dritten Lesung der Dampfervorlage die Majorität der Fraktion entschlossen war, für dieselbe zu stimmen, wenn ihre bekannten Amandements angenommen worden wären, kein anderer Schluß mehr übrig, als daß die Majorität der Fraktion mit vollem und klarem Bewußtsein einen offenkundigen Schwindel zu unterstützen bereit gewesen wäre.

Herr Most hat früher in seiner »Freiheit« ausgesprochen, daß die Fraktion von den Schiffsreedern, welche auf die Subventionssumme spekulierten, sich habe bestechen lassen. Daß die vorerwähnte Notiz ungefähr zu gleichen Schlußfolgerungen führt, dürfte der Redaktion des »Sozialdemokrat« bei nochmaligem Durchlesen derselben schwerlich entgehen.9 Wir überlassen es unseren Parteigenossen und der öffentlichen Meinung, ein endgiltiges Urteil in dieser Angelegenheit abzugeben.

Zur Sache selbst erklären wir nur noch, daß unseres Wissens und nach allgemeiner Annahme der Bremer Lloyd eines der kapitalkräftigsten Unternehmen in ganz Deutschland ist, womit die ganze, auf die Lüge vom Lloyd-Bankerotte in der betr. Notiz aufgebaute Schauergeschichte in sich selbst zusammenfällt.

Was aber »das Durchschauen« des angeblichen Schwindels betrifft, so haben die Unterzeichneten in Übereinstimmung mit Dietz nie etwas anderes behauptet, als daß der mit Kapital und Schiffen reichlichst ausgerüstete Bremer Lloyd jeder Konkurrenz von vornherein überlegen sein würde, wenn nicht im Gesetz eine Bestimmung Aufnahme fände, wonach nur neue Schiffe für die betreffende Linie eingestellt werden dürften ... Wir kämpft en also nicht gegen den bankerotten, sondern gegen den kapitalübermächtigen Lloyd. Das Märchen von dem Bankerott war damals noch nicht gedichtet.« –

Der Abgeordnete Dietz erließ noch eine besondere und recht scharfe Erklärung, worauf deren Urheber unter Benutzung einiger recht bequemen, resp. faulen Ausreden den Rückzug antrat. –[135]

Um diese Zeit erschien ich in Braunschweig, um meinen Wählern, resp. den Parteigenossen über die Tätigkeit der Fraktion Bericht zu erstatten. Da auch die inneren Fraktionsangelegenheiten zur Sprache kommen sollten, so mußte die Berichterstattung im geheimen vor sich gehen. Sie fand statt auf einer Kegelbahn und zwar nur vor einem engeren Kreise. Die Kegel bahn befand sich neben dem alten Kloster Riddagshausen bei Braun schweig. Um nicht die Aufmerksamkeit irgend eines Denunzianten oder der Polizei selbst auf uns zu ziehen, mußten wir völlig im Dunkeln bleiben und ich konnte meine Zuhörer, während ich sprach, nicht sehen.

In Braunschweig war es damals einem Xylographen namens Gerecke gelungen, sich in die Parteileitung einzudrängen, was nur bei den Zuständen unter dem Sozialistengesetz möglich gewesen. Dieser Gerecke war ein durchaus ehrenwerter Mensch und im persönlichen Umgang gar nicht unangenehm. Aber er hielt sich für ein verkanntes Originalgenie und die Beschäftigung mit philosophischen Problemen, die er, wenn ich recht unterrichtet bin, noch jetzt in Amerika betreibt, hatte ihn verdreht gemacht. Er »anarchistelte« recht bedenklich. In Frankfurt hatte er in jenem Kreise gelebt, welcher die schon erwähnte Kundgebung gegen die Fraktion losgelassen, und wollte nun den in jenem Kreise herrschenden Geist nach Braunschweig verpflanzen, wo die Parteigenossen bisher in Eintracht gewirkt hatten.

Meinem in der Dunkelheit vorgetragenen Rechenschaftsbericht folgte, wie es schien, so ziemlich allgemeine Zustimmung. Aber den Parteigenossen Gerecke ließen die in Frankfurt eingesogenen »Ideen« nicht ruhen. Er polemisierte – allerdings sehr vorsichtig – gegen mich und schien auf den Versuch, ein Mißtrauensvotum gegen mich vorzubereiten, loszusteuern. Als das Wort »Mißtrauen« von dem leise tastenden Redner ausgesprochen wurde, hörte man, wie jemand in seine Hände spuckte und dieselben mehrmals rieb und zusammenschlug. Dies rührte von dem Maurer Bock her, einem braven und tüchtigen Parteigenossen, der nur manchmal etwas hitzig war. Das Zeichen war durchaus nicht mißzuverstehen und der Redner beeilte sich, einzulenken und zu Ende zu kommen. Eine Weile lagerte eine unheimliche Stille über der Versammlung; dann wurde mir, soweit ich in der Dunkelheit bemerken konnte, das Vertrauen der Versammlung so ziemlich einstimmig ausgesprochen und die angedrohten »schlagenden Beweise« blieben glücklicher Weise nur eine Drohung. Hier zeigte sich, daß das Ansehen der Fraktion durch die Krakehlereien einzelner Gruppen nicht zerstört werden konnte.

Der alte Bock, der mir stets ein warmer persönlicher Anhänger blieb, ist vor einiger Zeit gestorben.

Daß die Einwände gegen die neuen Dampferlinien – soweit sie außer Berührung mit der Kolonialpolitik sich befanden – nur künstlich aufgedonnert waren, zeigte sich gleich nachher bei der Beratung des Nordostseekanals, gegen den sich sicherlich die gleichen Gründe geltend machen[136] ließen. Aber die Fraktion erklärte sich einstimmig für den Kanal und trug mir auf, ihre Zustimmung bei der ersten Lesung der Kanalvorlage zu begründen, was ich in einer kurzen Ansprache tat. Windthorst erwiderte darauf, daß er der Vorlage »garnicht sympathisch« gegenüberstehe.

Die aus der Frage der Dampfersubvention hervorgegangenen Streitigkeiten blieben zwar in der Partei noch lange der Gegenstand eifriger Diskussionen, aber tiefere Spuren hinterließen sie nicht und wir wurden bald von wichtigeren Kämpfen in Anspruch genommen.[137]

Fußnoten

1 Seitdem sind dreißig Jahre verflossen und es wird darum auch gestattet sein, eine Darstellung dieser Affaire mit Einzelheiten zu geben, die der großen Öffentlichkeit weniger oder nicht bekannt geworden sind. Die künftigen Geschichtsschreiber der Sozialdemokratie werden sich wohl mit dieser Sache eingehender befassen müssen, als bisher geschehen konnte. Vielleicht ist ihnen dann die vorliegende Darstellung eines der direkt an der Sache Beteiligten nicht unwillkommen. Das ist der einzige Zweck, den ich dabei verfolge, und es liegt mir absolut fern, damals bestandene persönliche Gegensatze heute auffrischen zu wollen. Aber ich werde auch kein Blatt vor den Mund nehmen.


2 1885 hatte sich die Fraktion vor der Abstimmung über die Dampfersubvention nochmals einstimmig gegen die Kolonialpolitik erklärt.


3 Hätte man gewußt, daß wir in fünf Jahren das Sozialistengesetz los sein wurden, so hatten sich diese Erscheinungen wohl kaum gezeigt.


4 Die Urheber der Frankfurter Erklärung beriefen sich darauf, daß sie zur »geldsammelnden Basis« der Partei gehörten. Unter der großen Heiterkeit der Fraktion wurde bei uns von Grillenberger festgestellt, daß gerade in Frankfurt und Umgebung damals die finanziellen Leistungen an die Partei minimal waren.


5 Jetzt kann man sagen, daß Ludwig Opificius, Prinz und ihre Freunde die Urheber dieses Pronunziamiento waren. Sie hielten sich aber vorsichtig im Hintergrund.


6 Bebel war mit Opificius befreundet. –


7 Die Kundgebung hatte von »mehreren hundert« Parteigenossen gesprochen. Da auf Sabor im ersten Wahlgang etwa 8000 – also rein sozialistische – Stimmen gefallen waren, so konnten neunzig Leute nicht behaupten, sie repräsentierten die Partei überhaupt. –


8 Ausgleiten der Feder.


9 Die Redaktion des »Sozialdemokrat« hatte diese elende Verleumdung schon zurückgewiesen.


Quelle:
Blos, Wilhelm: Denkwürdigkeiten eines Sozialdemokraten. 2 Bde, 2. Band. München 1919, S. 139.
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