III.

Der Berliner Handwerkerverein. Das Rütli.

[16] Friedrich Wilhelm IV. wollte das absolutistische Regiment, das er von seinem Vater geerbt hatte, nicht aufgeben. Er glaubte im Geiste des wohlwollenden Despotismus des achtzehnten Jahrhunderts regieren zu können. Dem von allen Seiten bis an seinen Thron dringenden Ruf nach einer Verfassung schenkte er kein Gehör. Kein Blatt Papier, so erklärte er, solle sich zwischen ihn und sein Volk drängen. Wollte er bei dieser Politik Herr der Situation bleiben, so mußte er seinen Standpunkt auf das energischste verteidigen, unerbittlich jede liberale Regung verfolgen. Dazu aber besaß er nicht Charakter genug. Der Revolution wäre seine Regierung in keinem Falle entgangen, doch wäre er männlich ihr erlegen. Dies sollte nicht sein. Er suchte dem kommenden Sturm auszuweichen, indem er zu halben Maßregeln griff, und so stärkte er die öffentliche Meinung in ihren weitest gehenden Forderungen. Er bewilligte Büchern von mindestens zwanzig Bogen Umfang die Zensurfreiheit und erreichte damit nur, daß der Ruf nach vollständiger Abschaffung der Zensur nur um[16] so lauter ertönte. Er bewilligte statt der verlangten Volksvertretung mit beschließender Stimme provinzielle Vertretungen mit beratender Stimme; er mußte nachträglich einen Schritt weiter tun und aus den Provinzial-Landtagen den sogenannten vereinigten Landtag hervorgehen lassen.

Lauter halbe Zugeständnisse, für die er statt Dankes nur immer heftigere Angriffe und Erbitterung erntete. Die theologische Richtung, der er huldigte, die theologisierende Diplomatie und Generalität, von der er umgeben war, machte ihn vollends in hohem Grade unpopulär. Es wehte ein pietistischer Wind bei Hofe und ermutigte die protestantischen Synodalbehörden zu strengerer Ausübung der ihnen zustehenden Disziplinargewalt. Damit wurde Öl ins Feuer gegossen. Bei alledem wurde, weil man nicht für bildungsfeindlich gelten wollte, in vollständiger Verkennung aller Verhältnisse die Eröffnung von Arbeiter-Bildungsvereinen gestattet, die natürlich zu Sammelpunkten für alle Nuancen des damaligen Liberalismus sich gestalteten. Der Berliner Handwerkerverein in der Sophienstraße, der im Jahre 1843 gegründet wurde, war eine Bildungsstätte für heranwachsende Revolutionäre, nicht bloß des Arbeiterstandes, sondern aller Berliner Gesellschaftskreise. So wie ich im Sommer des Jahres 1845, zwanzigjährig, von meiner fünfjährigen Knechtschaft losgesprochen wurde, trat ich in den Handwerkerverein ein und während anderthalb Jahren war ich nun eines seiner rührigsten Mitglieder. In dem Vereine wurden belehrende Vorträge gehalten. Die Beantwortung der eingelaufenen Fragen gab zu Diskussionsübungen Gelegenheit. Der Verein hatte seinen Männerchor, sogar seinen Kreis junger Poeten aus dem Handwerkerstande. Mein erstes Auftreten mit einem Liede »Der Bettelmann«, zu dessen sentimentaler Melodie ich den Text gedichtet hatte, war, wie alles, was der politischen Stimmung der Zeit Ausdruck gab, von ungeheurem Erfolg. Der vor der Pforte des Palastes singende Bettelmann war das Volk, dem in der letzten Strophe zugerufen wurde, um die Freiheit dürfe man nicht betteln, man müsse sie sich erkämpfen. Das Gedicht war recht gering, seine Wirkung aus dem angegebenen Grunde trotzdem sehr groß. Etwas besser, wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, waren die Verse, mit denen ich einige Monate später Berthold Auerbach im Handwerkerverein begrüßte. Dem Bettelmann wäre damals in keinem Falle vom Zensor das »imprimatur« erteilt worden, der Gruß an Berthold Auerbach erschien Ende 1845 in den poetischen Jahresheften des Handwerkervereins. Er ist nicht in[17] meinem Besitz. Der Dichter der »Schwarzwälder Dorfgeschichten«, dem ich zwanzig Jahre später im Bade Tarasp begegnete, erinnerte sich noch wohl des Huldigungsabends, der ihm im Handwerkerverein bereitet worden war, als höflicher Mann natürlich auch meiner poetischen Ansprache.

Begründer und Präsident des Vereins war damals ein städtischer höherer Beamter, ein wohlwollender Mann, gemäßigter Liberaler, der sein Hauptaugenmerk darauf richtete, daß der politisch oppositionelle Geist, der unter uns herrschte, nicht in zu hellen Flammen aufschlug und die Regierung zum Einschreiten veranlaßte. Die eigentliche Seele des Handwerkervereins aber war Julius Berends, ein junger Theologe, der nach seinem ersten Auftreten auf der Kanzel wegen seiner bei den geistlichen Vorgesetzten mißliebig aufgenommenen Betrachtungen über die Bergpredigt kalt gestellt worden war und nun mit seinem Freunde Krause eine kleine Buchdruckerei betrieb, in welcher er selbst am Preßbengel stand. Diese Assoziation war nicht von langer Dauer. Krause druckte vom Jahre 1848 an die damals entstandene »Nationalzeitung«, welcher Schöpfung mehrere Mitglieder des Handwerkervereins, wie Ehrenreich Eichholz, Hermann Lessing und der Assessor Volkmar nahe standen. Die Redaktion übernahm Dr. Zabel, den ich als Oberrevisor mancher von mir gesetzten Doktordissertation kennen gelernt, die er auf Anordnung der Universität auf die Korrektheit ihres Lateins zu prüfen und eventuell zu korrigieren hatte, ein Liebesdienst, der von den Studenten nicht, wie er es verdiente, dankbar aufgenommen wurde; denn die armen Jungen hatten dafür zwei Taler für den Druckbogen zu entrichten. Herr Zabel aber erwies sich an der »Nationalzeitung« als ein ebenso gewandter Redakteur wie er in seiner früheren Stellung ein flüchtiger Lateiner gewesen war.

Durch Berends wurde ich in die damaligen literarischen Berliner Kreise eingeführt. In der Hinterstube eines Cafés am Gendarmenmarkt machte ich die Bekanntschaft Hoffmanns von Fallersleben, des unverwüstlichen Liedersängers; in einem Restaurant an der Spittelbrücke wurde ich in das »Rütli« aufgenommen, das eine Anzahl junger Poeten, Journalisten und Künstler in geselligem Verein zusammenfaßte. Da kamen Titus Ulrich, ein Epigone der Weltschmerzdichtung, Ernst Dohm und Rudolph Löwenstein, einige Jahre später Redakteure des »Kladderadatsch«, der Komponist Truhn, der Bildhauer Tod, der Karikaturenzeichner Scholz, der lange Saß und verschiedene andere zusammen, deren Namen mir[18] nicht mehr gegenwärtig sind, weil sie im Strom der bald eingetretenen politischen Bewegung versanken und dann nicht mehr ans Tageslicht gelangten.

Es ist überhaupt auffallend, wie gering die Zahl derjenigen war, die, obgleich sie vor 1848 als Führer der literarischen Opposition die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten und als kommende Männer angesehen wurden, im Revolutionsjahre sich in irgend welcher Weise hervortaten. Ich erinnere an Bruno Bauer, an Max Stirner und den Kreis lärmender Persönlichkeiten in ihrer Umgebung, die durch ihren offenen Umgang mit emanzipierten Weibern die Blicke auf sich zogen. Nur Edgar Bauer sah man noch in den ersten Monaten des Revolutionsjahres. Er suchte den enthusiastischen Jüngling Schlöffel an sich heranzuziehen, der berufen schien, einst einen Camille Desmoulins zu spielen, sein junges Leben aber bald im Großherzogtum Baden im ersten Gefecht der Aufständischen gegen die preußischen Truppen verlor. Jener Edgar Bauer gab zu Anfang der vierziger Jahre gemeinsam mit dem Elsässer Alexander Weill, der damals Berlin besucht hatte, einen Band Novellen heraus, Sie wurden bei meinem Lehrherrn gedruckt, deshalb hatte ich Bauer einigemal die Korrektur zu bringen. Schon beim Eintritt in sein Zimmer wurde ich durch die obszönen Lithographien verblüfft, die er an die Wand geklebt hatte; auch die Unterhaltung, die er mit mir während des Lesens der Korrektur begann, hatte einen widerwärtigen Charakter. Ich faßte von da ab eine unüberwindliche Antipathie gegen den Menschen, der denn auch, wie ich nachher erfahren, in einem Sumpf versunken ist. Aber auch die Männer im Handwerkerverein, welche berufen schienen, beim Eintritt einer Umwälzung auf der politischen Bühne eine Rolle zu spielen, gelangten zu dieser Ehre nicht. Berends, der wohl mit Glanz in die Nationalversammlung gewählt wurde, blieb ohne Einfluß und fast unbeachtet als parlamentarischer Volksvertreter. Alle diese freisinnigen Vereinsredner, die so großes Verdienst um die Vorbereitung der Ereignisse von 1848 sich erworben hatten, waren eben doch nur Gefühlspolitiker, zur Lösung praktischer Aufgaben fehlte ihnen die Vorschule und der politische Blick. Runge allein machte unter ihnen eine Ausnahme, er war später ein vorzüglicher Verwalter der Finanzen der Stadt Berlin.

Unter den Arbeitern, die zu den Zierden des Handwerkervereins gehörten, ist mein unvergeßlicher Freund, der Goldschmied Bisky als erster zu nennen. Wir schlossen uns eng zusammen. Er war nur[19] wenige Jahre älter als ich, auch ein Stück Poet, seine Freiheitslieder wurden wegen ihres markigen Tons gern gehört und im Album des Handwerkervereins abgedruckt. Er war eine schöne, männliche Erscheinung, mehr als dies: ein goldner Charakter, ein ganzer Mann. In den Verein kam auch ein später in einen politischen Prozeß verwickelter junger Kaufmann Neo mit seinen geistvollen Schwestern, wie denn Frauen und Mädchen an den Vortrags- und Vergnügungsabenden reich vertreten waren. Da wurde manche Blume umflattert, die infolge der nun kommenden politischen Ereignisse einsam verblühen sollte.

In dem Berliner Handwerkerverein atmete man in jenen Tagen den Lebensodem einer für Deutschland nahenden neuen Geschichtsepoche.

In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, nach den Kriegen gegen Napoleon, trat eine Wandlung im öffentlichen Geiste ein. Die besten Männer der Nation erstrebten eine stärkere Einheit als sie der deutsche Bundestag darbot, eine Volksvertretung und die Verantwortlichkeit der Regierungen in den bisher absolutistisch beherrschten Ländern. War es damals die studierende Jugend, welche in vorderster Reihe in der freiheitlichen Bewegung stand, so wurde sie im Jahre 1848 durch die vorwärts drängende Jugend der arbeitenden Klassen in die zweite Reihe gedrängt, um teilweise ihren Standesinteressen sich gefangen zu geben und in deren Dienste die Reaktion zu unterstützen. Als charakteristisches Merkmal des Jahres 1848 ist für Deutschland der Eintritt der arbeitenden Klassen in die politische Welt zu betrachten. Das wurde anfangs von dem für Erlangung der Bundeseinheit und eines modernen Verfassungslebens eintretenden bürgerlichen Ständen nicht klar erkannt, es kam diesen erst nach und nach zu vollem Bewußtsein, nachdem aus den anscheinend harmlosen Arbeiter-Bildungsvereinen eigentliche Arbeitervereine hervorgegangen waren, die als ihre Aufgabe die Verteidigung spezieller Arbeiterinteressen darlegten. Diese Interessen gelangten in den neu gebildeten Vereinen nicht von vornherein zu vollem Verständnis der Beteiligten. Eine von der Wissenschaft längst überholte Zunftmeierei, verführte noch viele junge Köpfe zu Forderungen, die sich in den meist sehr der Zeit vorauseilenden sozialpolitischen Programmen sonderbar genug ausnahmen. Doch genügten wenige Jahre zur Klärung der Geister, es entstand die sozialdemokratische Arbeiterpartei.

Dieser Entwicklungsgang konnte schon in den Jahren 1845 und[20] 1846 in dem Berliner Handwerkerverein von schärferen Beobachtern vorausgesehen werden. Von Paris in die deutsche Heimat zurückkehrende, wandernde Handwerksburschen, wurden die Apostel einer neuen, der sozialistischen Lehre. Der Handwerkerverein konnte ihnen nicht verschlossen werden. Vorsichtig tastend, suchte ein solcher Sendling, namens Mäntel, Mitglieder für seine geheime Verbindung anzuwerben. Man warnte vor ihm, man hielt ihn für einen Lockspitzel. Damit tat man ihm unrecht. Er wandte sich namentlich an die jüngeren, nicht viel über zwanzig Jahre zählenden Vereinsmitglieder. Durch den Schuhmacher Hetzel, einen unruhigen Kopf, den er gewonnen hatte, wurde ich in seine Geheimnisse eingeweiht. Er gehörte nicht der Richtung des in der Schweiz aufgetretenen Schneiders Weitling an, welcher in verschiedenen Schriften die Grundlinien zu einem ihm vorschwebenden utopistischen Gleichheksstaat gezeichnet hatte, der mir als ein pures Luftgebilde durchaus nicht imponierte; er sprach vielmehr von einer geheimen Arbeiterverbindung, welche auf dem Boden der zunächst zu erlangenden politischen Freiheit die Befreiung des Proletariats von den Fesseln des Kapitalismus sich zur Aufgabe gestellt habe. Ich fühlte aus dem, was Mäntel ziemlich verworren darlegte, den Grundgedanken heraus, daß er die Ansicht vertrat, der historische Werdegang einer sich ankündenden neuen Zeit solle im Auge behalten werden, es handle sich nicht um einen aus dem Haupte eines Schneidergesellen wie Weitling hervorgegangenen neuen Staat, sondern um die Unterstützung einer aus den gegebenen Verhältnissen mit historischer Notwendigkeit entstehenden Partei, welche in ihrer Weltanschauung den Alltags-Liberalismus nur als eine zu überwindende Zwischenstufe ansah und ihn theoretisch überholt hatte. Dies leuchtete mir vollkommen ein. Ich hörte Mäntel ruhig an, ohne mich des Weiteren ihm gegenüber zu etwas anderem als zur Diskretion zu verpflichten, woraus sich die Tatsache erklärt, daß ich selbst meinem Freunde Bisky von dem Gehörten keine Mitteilung machte. Schon seit einiger Zeit trug ich mich mit dem Gedanken, mir die Welt anzusehen: Ich hatte eine unwiderstehliche Sehnsucht, Paris kennen zu lernen. Schon seit Monaten hatte ich mir von meinem wöchentlichen Verdienst etwas für die Reise zurückgelegt. Meine zwei älteren Brüder, der älteste hatte sich bald nach der Abreise des zweiten, der als Arzt in die Provinz gegangen war, in Berlin niedergelassen, trugen das Ihre zu den Kosten der Reise bei und so durfte ich mich auf den Weg machen.

Quelle:
Born, Stephan: Erinnerungen eines Achtundvierzigers. Berlin, Bonn 1978, S. 16-21.
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