Haltung und Manieren

[205] müssen ebenfalls den Forderungen der Sitte entsprechen.

Wir haben am Eingang dieses Kapitels schon erwähnt, daß die innere Bildung nicht ausreicht, um dem Körper den notwendigen Halt oder »Haltung« zu geben. Bis zu einem gewissen Grade indessen beeinflußt der geistige Standpunkt allerdings die Darstellung des äußeren Menschen, denn der innere Gehalt verleiht oft auch nach außen Festigkeit oder Halt. Wir können sagen: die Haltung geht hervor aus der Achtung vor uns selbst und vor anderen. Der gekrümmte Rücken wird als Zeichen einer übermäßig unterwürfigen, kriechenden Gesinnung betrachtet; der echte Stolz trägt Körper und Haupt gerade.

Im täglichen Leben indessen wird diese gerade Haltung nicht mehr so unbedingt gefordert, wie in früheren Zeiten, wo unsere Großväter und Großmütter auf ihren Stühlen saßen »wie eine Pinne strack«, ohne sich je einer Rücklehne zu bedienen. Wir dürfen uns jetzt anlehnen, wozu die bequemen niedrigen Möbel ja so verführerisch einladen. Die Haltung beim Stehen oder Sitzen soll nichts Steifes, Gemachtes haben, sondern natürlich und frei sein, – auch frei von jener Aengstlichkeit, die sich nur auf die Kante des Stuhles setzt. Ebenso häßlich aber ist das andere Extrem, das jetzt viel öfter anzutreffen ist. Die Art, wie manche Herren und Damen in den Sesseln und Sofas liegen, statt zu sitzen, sich wohl gar darin »rekeln«, zeugt von einem ebenso großen Mangel an Selbstachtung, wie an Rücksicht für die Gesellschaft.[205]

Diese Rücksicht verwehrt auch einer Dame, die Beine übereinander zu schlagen. Der Herr darf sich das schon erlauben, für eine Dame aber ist diese Stellung unpassend, welche dem Publikum zuweilen Toilettengeheimnisse entdeckt, die das Oberkleid zu verhüllen bestimmt ist. Die Füße zu kreuzen ist dagegen nicht nur erlaubt, sondern erscheint, wo dieselben sichtbar sind (was bei den jetzigen kurzen Kleidern ja meistens der Fall ist), hübscher, als sie nebeneinander zu setzen. Daß das »Läuten« mit den Beinen, das Trommeln mit den Füßen höchst unanständig ist, versteht sich von selbst.

Ein leichter, graziöser Gang gehört mit zu den Bedingungen einer angenehmen Erscheinung, während ein schlürfender, schleppender oder hüpfender Gang die schönste Gestalt unvorteilhaft erscheinen läßt. Man achte deshalb schon bei den Kindern darauf, daß sie gut gehen und stehen; der Turn- und Tanzunterricht muß nachhelfen, wenn die angeborene Anmut fehlt.

Wie die Füße, so soll man auch die Hände möglichst ruhig halten. Das lebhafte Agieren derselben beim Sprechen, das Berühren anderer am Arm oder an der Schulter macht stets einen unfeinen Eindruck. Noch fataler ist die Gewohnheit mancher Menschen, mit den Händen an ihrem eigenen Körper umher zu fahren, die Finger bald ins Haar, bald in Nase, Mund oder Ohren zu stecken. Wie solche Menschen es wagen können, anderen die Hand zu bieten, welche soeben in einer jener feuchten Höhlen gewühlt hat; wie es ihnen möglich ist, damit etwas Eßbares anzufassen und zum Munde zu führen, – das wird jedem Beschauer unbegreiflich sein. Man findet diese anstößige Manier besonders häufig bei Menschen, die ganz allein leben, und es wäre ein Liebesdienst, wenn ein guter Freund sie darauf aufmerksam machen wollte. Die Arme oder Ellenbogen auf den Tisch zu stützen, ist ebenfalls unschicklich; weiß[206] man sonst nichts mit ihnen anzufangen, – und es ist merkwürdig, wie oft diese sonst so nützlichen Gliedmaßen im Wege sind! – so kann man sie einfach übereinander legen, aber auf der Brust, und nicht, wie manche korpulente Personen das lieben, sie auf dem Leibe ruhen lassen. Herren verfallen zuweilen auf das Auskunftsmittel, sie in die Taschen zu stecken, doch bedauern wir, ihnen sagen zu müssen, daß das ebenso häßlich, wie unschicklich ist.

Manche physische Vorgänge lassen sich nicht unterdrücken, doch sucht man sie so viel wie möglich zu verbergen: so das Gähnen, bei dem man die Hand vor den Mund hält, was weniger unangenehm berührt, als wenn man, bei geschlossenem Mund, den Atem durch die Nase entweichen läßt. Das Nießen sollte man nicht unterdrücken, da der Versuch dazu meist mehr auffällt, als der Laut an sich, doch lasse man ihn, bei sich wie bei anderen, möglichst unbeachtet. Das »zur Gesundheit« oder »wohl bekomme es« Wünschen, was früher dabei üblich war, ist gänzlich abgekommen. Ebenso gebrauche man das Taschentuch ohne Verschämtheit und hüte sich besonders, es nur halb aus der Tasche zu ziehen oder es zu benützen, ohne es auseinander zu nehmen. Die Ostentation freilich, mit der manche Herren ihr bunt seidenes Taschentuch entfalten und gebrauchen, ist ebenso anstößig. Zum Auswerfen, das bei Erkältungen oft nicht zu vermeiden ist, hat man sich ebenfalls des Taschentuchs zu bedienen; denn ein Spucknapf, dieses in anderen Ländern, z.B. in England, gänzlich unbekannte, häßliche Möbel, findet sich doch nicht immer im Salon, und es ist ungeschickt, es suchen zu müssen.

Was wir sonst noch über gute und schlechte Manieren zu sagen haben, ist bei anderen Gelegenheiten erwähnt; wir fügen hier nur noch den Rat hinzu, daß ein jeder sich zu Hause, im engsten Familienkreise, stets so benehmen[207] sollte, wie es das vorhin aufgestellte Princip: die Achtung vor sich selbst und vor anderen, verlangt. Das Sichgehenlassen daheim ist in vielen Fällen die Ursache der häßlichen Angewohnheiten, die im Salon so sehr verletzen.


Der Hexentrank, durch den weiland Doktor Faust neue Jugend gewonnen, ist nicht mehr zu erlangen, und der Gürtel der Venus, der Schönheitsspender, scheint auch verloren gegangen zu sein. Den ersteren muß die Pflege des Körpers, müssen Haltung und Manieren ersetzen, und statt des letzteren dient uns


Quelle:
Calm, Marie: Die Sitten der guten Gesellschaft. Stuttgart 1886, S. 205-208.
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