öffentliche Vergnügungen,

[325] welche den geselligen Verkehr vermitteln. Solche sind: Theater, Konzerte, Vorlesungen etc.

Da wir diese Vergnügungen besuchen, um zu hören, so erwächst uns daraus schon die Verpflichtung, uns still zu verhalten und nicht die Vortragenden oder unsere Nachbarn durch Plaudern zu stören. Sei es auch eine auf das Gehörte bezügliche Bemerkung, sei es die geistreichste Kritik – man muß damit warten, bis eine Pause eintritt. Während der Darstellung oder des Vortrags ist sie unerlaubt. Nicht minder störend als das Plaudern und leider auch nicht minder häufig ist das Zuspätkommen bei solchen Gelegenheiten. Wenn im Theater jemand nach Beginn der Vorstellung anlangt und, um zu seinem Platz in der Mitte des Parketts zu gelangen, ein halbes Dutzend Personen nötigt, aufzustehen, für viele die Bühne zwei Minuten lang unsichtbar und das Vorgetragene unhörbar macht, so begeht er dadurch eine Rücksichtslosigkeit gegen die Schauspieler wie gegen das Publikum, welche den strengsten Tadel verdient. Die bei manchen Bühnen und Konzertlokalen eingeführte Einrichtung, daß der Saal nach Beginn der Aufführung geschlossen wird, sollte überall nachgeahmt werden; ein rücksichtsvoller Besucher indessen wird, kommt er je einmal zu spät, eine Pause abwarten, um seinen Platz einzunehmen.[325]

Eine andere, häufig gehörte Klage betrifft die Hüte der Damen, welche diese in Theater und Konzerten gern auf dem Kopf behalten. Die einen thun es, weil sie glauben, besser darin auszusehen, die anderen, weil sie den Hut der fraglichen Behandlung in der Garderobe nicht aussetzen wollen. Wie dem auch sein mag, sie schulden jedenfalls die erste Rücksicht dem Publikum, dem sie durch den Hut die Aussicht beeinträchtigen (wenn derselbe nicht sehr klein ist), und so möchten wir ihnen anraten, entweder einen weniger kostbaren Hut aufzusetzen oder sich der Kapuze zu bedienen, die ja auch über einen etwaigen Kopfputz getragen werden kann.

Zeigen die Damen diese Rücksicht gegen die Herren, so werden diese ihnen gewiß den Gefallen thun, sich nicht in den Pausen vor ihnen hinzupflanzen und, mit dem Rücken nach der Bühne hin gewendet, sie und das Publikum einer genauen Inspektion durch das Opernglas zu unterwerfen. Daß die Herren während einer dreistündigen Sitzung gern ein Weilchen stehen, ist ihnen nicht zu verargen (die Damen dürfen das leider nicht!), aber dieses »Hinpflanzen« während des ganzen Zwischenakts, welches den vor ihnen sitzenden Damen jede Aussicht benimmt, dieses Inspizieren und Lorgnettieren gehört entschieden zu den schlechten, den verwerflichen Sitten.

Hat ein Herr eine Dame ins Theater begleitet, so wird er, wenn sein Platz ihn von ihr trennt, sie in den Zwischenakten aufsuchen, sich erbieten, sie in das Foyer (darf man nicht sagen »Vorhalle«?) zu führen, ihr Erfrischungen zu bringen und was dergleichen Aufmerksamkeiten mehr sind. Nach dem Schluß der Vorstellung hilft er ihr den Mantel anlegen und begleitet sie wieder nach Hause zurück.

Vorlesungen oder Vorträge waren eine Zeitlang bei[326] uns außerordentlich beliebt; es gab kaum einen Gegenstand, über den nicht ein Vortrag gehalten wurde, und keine berühmte Persönlichkeit, mochte sie nun die Gabe der Rede besitzen oder nicht, konnte der Aufforderung entgehen, einen Vortrag zu halten. Es war Mode, Vorträge zu veranstalten, wie sie zu hören. Jetzt hat die Passion dafür nachgelassen, und wir glauben uns nicht darüber beklagen zu sollen. Sind doch die Vorlesungen ein Produkt jenes Verlangens, sich in möglichst kurzer Zeit und mit möglichst wenig Mühe über irgend einen Gegenstand belehren zu lassen: heute über unsere afrikanischen Kolonieen, morgen über Victor Hugo, nächste Woche über den Vegetarianismus. Daß der Vortragende, welcher seinen Gegenstand in den engen Rahmen einer Stunde zusammenpressen muß und nicht allzuviel bei dem Publikum voraussetzen darf, nicht allzu gründlich sein kann, liegt auf der Hand. Wir sind deshalb im allgemeinen für diese Art unterhaltender Belehrung oder belehrender Unterhaltung, welche der Neigung unserer Zeit zur Oberflächlichkeit Vorschub leistet, nicht sehr eingenommen; jedenfalls hören wir sie nur dann gern, wenn der Redner nicht liest, sondern frei vorträgt und mit gründlichen Kenntnissen über seinen Gegenstand die Gabe verbindet, denselben in knapper und anziehender Form zu behandeln. Daß aber Männer der Wissenschaft dem Publikum einen von ihnen schon in zehn anderen Orten gehaltenen und bereits gedruckten Aufsatz vorlesen wollen – wie dies öfter geschehen – halten wir für gänzlich unstatthaft.

Die genannten Vergnügungen: Theater, Konzerte und Vorlesungen, spielen aber im gesellschaftlichen Leben nicht nur eine Rolle an und für sich, sondern auch dadurch, daß sie so reichen Stoff zur Unterhaltung bieten. Es findet nicht leicht eine Gesellschaft statt, in der nicht die neueste Oper oder Tragödie, das Konzert der letzten Woche, der[327] Vortrag des Herrn X. besprochen würde. Und welche Urteile bekommt man da zu hören! Sie bieten einen trefflichen Gradmesser für die ästhetische Bildung des Publikums. »Sie wohnten neulich der Aufführung von Gounods ›Margarete‹ bei? Nicht wahr, wie schrecklich! Der Faust war viel zu dick und das Gretchen zu alt!« – »Ich hatte gestern rechtes ›Pech‹: kaufe mir ein Billet zu ›Mutter und Sohn‹ von der Birch-Pfeiffer, und man gibt statt dessen ›Was ihr wollt‹ von Shakespeare. Ich sehe nur ernste Sachen gern.«

Solche und ähnliche Bemerkungen kann man täglich hören; und doch sind diese gedankenlosen Naivitäten immer noch besser als die Kritik derjenigen, die mit ihrem Urteil warten, bis sie das »Blättchen« gelesen haben. Das »Blättchen«, das sein kritisches Amt meist nur nebenbei besorgt, es oft in sehr wenig befugte Hände legt – es ist das Evangelium der urteilslosen Menge. Die neue Sängerin hat uns zwar recht gut gefallen, aber das »Blättchen« sagt, sie habe detoniert – folglich finden wir sie schlecht; der Tragöde hat uns enthusiasmiert, zu Thränen gerührt, allein das »Blättchen« tadelt die Auffassung der Rolle – folglich erkaltet unser Enthusiasmus und wir schämen uns unserer Thränen. Die Sängerin aber und der Tragöde, die vielleicht wirklich gut waren, fallen durch, weil das, »Blättchen« sie abfällig kritisiert und das Publikum diese Kritik urteilslos nachspricht.

Jeder wirkliche Kritiker nun weiß, daß es weit schwerer ist, richtig zu loben, als richtig zu tadeln; das Publikum im allgemeinen aber glaubt seine geistige Ueberlegenheit am besten durch Tadel zu konstatieren. Wer also auf wirkliche Bildung Anspruch macht, wer sich als ein urteilsfähiger Besucher von Theater, Konzerten und Vorträgen erweisen will, der sei vorsichtig mit seiner Kritik. Er hüte sich sowohl vor dem übereilten, oberflächlichen Urteil wie vor[328] dem gedankenlosen Nachbeten. Er sage einfach, wie es ihm persönlich gefallen hat, gestehe es auch ebenso einfach ein, wenn er sich zu keiner Kritik befähigt fühlt, – das stellt ihn immer noch höher in den Augen wirklicher Kenner, als jenes geistlose Schwatzen.

Wir können nicht von öffentlichen Vergnügungen sprechen, ohne einer Art derselben zu gedenken, die in unserer Zeit eine so große Rolle spielt, daß man sie unmöglich mit Schweigen übergehen kann. Wir meinen die Bazars. In großen wie in kleineren Städten bringt wohl jedes Jahr eines oder mehrere dieser Verkaufsvergnügungen zu irgend einem guten Zweck, und die jungen Damen lassen sich immer gern bereit finden, diesen guten Zweck zu unterstützen. Sie putzen sich dafür, legen Maskeradenkostüme dafür an, spielen Kellnerinnen, Blumenmädchen, Postillone – und was sonst noch! Nun, wir haben nichts dagegen einzuwenden, weder gegen den guten Zweck, der den Vorwand liefert, noch gegen das Vergnügen, das die Hauptsache dabei ist; wohl aber möchten wir protestieren gegen das Uebertreten aller sonst in gebildeten Kreisen geltenden Grenzen, das man zuweilen dort zu beobachten Gelegenheit hat.

»Ein Bazar ist eine Erziehungsanstalt für Koketten,« hörten wir einmal jemand sagen. Der Ausspruch ist hart, aber nicht unwahr. Es herrscht da eine Art Maskenfreiheit, die aber, ohne die Masken, sehr unangenehm berührt. Die jungen Damen glauben die Rolle, die sie darstellen, ganz durchführen zu müssen, und zwar recht stark aufgetragen, denn nie haben wir wirkliche Verkäuferinnen und Kellnerinnen so zudringlich gesehen wie manche ihrer Nachahmerinnen. Da wappne jeder Besucher sich mit eisernem Panzer oder – sehr reicher Börse, denn die Ansprüche, welche an ihn gestellt werden, sind unglaublich! Jene reizende Blondine[329] bietet dem Herrn Lieutenant eine gestickte Garnitur an; er hat gar keine Verwendung dafür – einerlei, sie läßt ihn nicht los, er muß kaufen! ... Die dunkeläugige Zigeunerin dort will dem Herrn Assessor wahrsagen; er erklärt ihr, daß sie das gestern schon gethan – thut nichts, sie wird ihm heute etwas besonders Gutes verkünden, doch muß er ihre Hand mit Silber – wenn nicht mit Gold – kreuzen! Und nun erst die Cigarren- und Blumenhändlerinnen! So teures (und schlechtes!) Kraut und so kostbare Veilchen haben die Herren wohl niemals sonst acquiriert. Aber freilich, sie bekommen auch das süßeste Lächeln zu der Cigarre mit in den Kauf, und das niedliche Blumenmädchen befestigt das Sträußchen mit seinen eigenen zarten Händen dem Herrn Hauptmann ins Knopfloch! Herausgegeben wird natürlich nicht; dazu ist man zu großartig!

So geht es recht bunt und recht laut zu auf solch einem Bazar – etwas zu bunt und zu laut für den guten Geschmack. Wir würden deshalb jeder Mama, die ihrer Tochter erlaubt, bei einem solchen Verkauf mitzuwirken, raten, sie dabei strenger zu bewachen, als auf einem Ball und ihr die gerügten Ausschreitungen nicht zu gestatten.


Öffentliche Vergnügungen

Fußnoten

1 Siehe S. 75 und 76.


2 Siehe S. 247 u. f.


3 Siehe S. 106 und 107.


Quelle:
Calm, Marie: Die Sitten der guten Gesellschaft. Stuttgart 1886, S. 325-330.
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