Das gesellschaftliche Kränzchen.

[87] Ein Kränzchen wird eine Gesellschaft genannt, welche sich in einem bestimmten Zeitraum immer wieder versammelt und nach vorhergegangener Uebereinkunft auch ihre bestimmten Regeln hat. Die junge Dame, welche in ein solches Kränzchen eintritt, um demselben anzugehören, hat daher auch die Verpflichtung, sich nach den Anforderungen desselben streng zu richten und weder aus Gleichgiltigkeit noch aus Zerstreutheit dieselben unbeachtet zu lassen.

Das Lesekränzchen ist wohl die ernsteste und den Geist am meisten fördernde Art dieser sich wiederholenden geselligen Gemeinschaft, und ich rate es jeder jungen Dame aus eigener Erfahrung recht angelegentlich, wenn sich ihr die Gelegenheit dazu bieten sollte, die Teilnehmerin eines Lesekränzchens zu verden, dieselbe nicht auszuschlagen.

Sie wird durch das gemeinsame Lesen mit älteren und neueren Dichterwerken bekannt, sie hört das Urteil anderer darüber, vielleicht älterer, erfahrener Personen, und kann daraus viel lernen, bildet sich auch danach das eigene Urteil.

Bei dem Lesen dramatischer Werke mit verteilten Rollen ist damit für sie der große Vorteil verbunden, daß sie es lernt und sich darin übt, mit Dreistigkeit und womöglich mit richtigem Ausdruck vor anderen zu lesen, und daß durch den Gesamteindruck des Ganzen auch ihr das Stück einen nachhaltigen, bildenden Eindruck gewährt Man versteht oft ein Schauspiel ganz anders, wenn man es mit verteilten Rollen, als wenn man es allein liest, namentlich ist dies bei ernsteren klassischen Stücken der Fall.

Es gelten auch bei dieser geselligen Unterhaltung Bescheidenheit und ein anspruchsloses Erwarten, bis sie zu einer Rolle herangezogen wird, für eine junge Dame zu den Regeln der seinen Bildung. Keine Hauptrolle darf sie beanspruchen, auch eine Nebenrolle soll sie annehmen und sich bemühen, sie gut zu lesen.

Ist sie im Lesen wenig geübt, ist ihr zu raten, im fremderen Kreise eine Hauptrolle lieber abzulehnen, da es den Eindruck des Stückes allzusehr stört, sobald dieselbe[87] stotternd oder mit ganz falschem Ausdruck gelesen wird. Anders verhält es sich im eng freundschaftlichen Kreise, in dem man Nachsicht mit ihr hat und sie sich durch allmähliche Uebung vervollkommnet.

Jedenfalls wird sie gut thun, ihre ihr zuerteilte Rolle vorher öfter sich laut durchzulesen und sich darüber den Rat erfahrener, älterer Personen einzuholen, wie sie dieselbe lesen soll. Es ist dies keine Demütigung für sie, sondern wird ihr nur förderlich sein, denn »kein Meister wird geboren«, und auch das angenehme Talent, eine gute Vorleserin zu sein, verlangt Uebung.

Es gehört zur Rücksichtsnahme des guten Tones, während des Lesens keine Handarbeit vorzunehmen; namentlich die Herren nehmen daran großen Anstoß, wenn das Lesen durch das Geklapper der Stricknadeln und der Schere gestört wird.

Ist die junge Dame genötigt, das Kränzchen früher zu verlassen, als es geschlossen ist, so entfernt sie sich am taktvollsten stillschweigend, damit nicht durch ihr Aufstehen eine allgemeine Störung veranlaßt werde. Sie hat vorher in einer geeigneten Pause ihr früheres Gehen bei der Wirtin anzuzeigen und ihr Bedauern darüber auszusprechen, z.B.: »Entschuldigen Sie gütigst, wenn ich Ihren angenehmen Kreis heute früher verlasse.«

»Leider nötigen mich häusliche Verhältnisse, heute etwas früher aufzubrechen. Verzeihen Sie, wenn ich dadurch die Regeln des Kränzchens verletze.«

Falls sie indes mit dem Lesen ihrer Rolle noch nicht ganz fertig ist, hat sie ihr zeitiges Fortgehen vorher der Gesellschaft anzuzeigen und bittet eine andere Dame, ihre Stelle zu vertreten, damit keine Verwirrung entstehe.

Auch in einer größeren Gesellschaft ist es, wenn die junge Dame sie ohne Eltern oder Elternstelle vertretende Verwandte besucht und diesen beim Aufbruch nur zu folgen hat, durchaus schicklich, wenn sie ihr früheres Verschwinden aus derselben so wenig wie möglich bemerkbar macht. Sie empfiehlt sich nur der Wirtin mit höflicher Bitte um Entschuldigung, kann auch wohl den näheren Bekannten ein stilles Lebewohl zuflüstern, darf aber ja nicht ein allgemeines[88] Aufstehen der Gäste durch ihr geräuschvolles Fortgehen veranlassen.

In kleinerem und im Freundeskreise kann von diesen Regeln etwas abgewichen werden. Die junge Dame kann sich der ganzen Gesellschaft durch höfliche Verbeugung, einzelnen mit freundschaftlichem Händedruck empfehlen. Sich mit Küssen zu verabschieden, ist, besonders wenn man in Gegenwart von Herren sie den Damen gibt, nicht sein; es liebt nicht jede Dame, sich küssen zu lassen, ein junges Mädchen warte daher mit diesem Zeichen höchster Vertraulichkeit, bis die ältere Dame sie dazu auffordert. Dahingegen ist ein Handkuß von der jüngeren Dame an die ältere, ein schönes Zeichen respektvoller Ehrerbietung.

Weder in einer Gesellschaft noch bei der Visite versäume es die Fortgehende, den passendsten Zeitpunkt dazu zu wählen; bricht sie zu früh auf, ohne einen Entschuldigungsgrund dafür anzugeben, müssen die Wirte fürchten, daß sie sich gelangweilt hat, ebensowenig soll sie zu lange bleiben.


»Klug ist, wer zur rechten Stunde kommt,

Doch klüger, wer zu gehn weiß, wenn es frommt.«

E. Geibel.


Manche Dame fängt stehend, im Vorzimmer sogar, noch einmal ein Gespräch mit der sie höflich begleitenden Dame des Hauses an. Es ist dies nicht schicklich und kann nur dann gestattet werden, wenn man in sehr naher freundschaftlicher Beziehung zu derselben steht.[89]

Quelle:
Ernst, Clara: Der Jungfrau feines und taktvolles Benehmen im häuslichen, gesellschaftlichen und öffentlichen Leben. Mülheim 3[o.J.]., S. 87-90.
Lizenz:
Kategorien: