22) Die Naive.

[91] Naivetät ist eine ausschließlich weibliche Eigenschaft; die ihr verwandte Unbefangenheit würde bei einem jungen Manne kindisch erscheinen oder ihn sogar in das Licht eines Blödsinnigen setzen.

Selbst bei einem jungen Mädchen beweis't Naivetät in der Regel Unwissenheit oder Dummheit, auch Albernheit.

Bei jedem jungen Mädchen kann die Naivetät ein Beweis reizender Unschuld sein.

Bei einem jungen Mädchen, das in der großen Welt erzogen und über sechszehn Jahre alt ist, wird man die Naivetät entweder für erkünstelt, oder für Dummheit halten.

Das sicherste Mittel, diesen Uebelstand zu vermeiden, ist, in Gesellschaft nie nach einer Sache zu fragen, die man nicht versteht, sich aber unter vier Augen von den Seinigen darüber aufklären zu lassen, um nicht in seiner[91] Unwissenheit zu beharren, außerdem aber nur bei Dingen, die man weiß, mitzusprechen.

Erzwungene Naivetät ist jederzeit albern oder lächerlich, beweis't dabei aber auch eher das Gegentheil, als Unschuld.

Es ist außerordentlich schwierig, eine Naivetät zu äußern, die man nicht besitzt, man sei denn eine ganz vortreffliche Schauspielerin.

Wenn Mädchen von fünfundzwanzig Jahren eine kindliche Naivetät zeigen, so hat man alle Ursache, an ihrer Tugend zu zweifeln.

Quelle:
Fresne, Baronesse de: Maximen der wahren Eleganz und Noblesse in Haus, Gesellschaft und Welt. Weimar 1859, S. 91-92.
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