23) Der Widerspruchsgeist.

[92] Es giebt Menschen, die es nicht zu begreifen scheinen, daß man zuweilen, ohne seine Ehre oder seine Würde zu beeinträchtigen, der Meinung eines Andern beipflichten kann, auch wenn man sie nicht theilt. Selbst wenn dieser Andere Recht hat, setzen sie allen seinen Behauptungen ein: Nein, allen seinen Gründen ein: Im Gegentheil entgegen. Die Gewohnheit des Widerspruchs hat sich so fest bei ihnen eingewurzelt, daß sie zuweilen unerträglich, zuweilen aber auch auf eine höchst komische Weise lächerlich werden.

Der Widerspruch ist im Grunde nichts als eine Beschuldigung der Lüge oder der Unwissenheit, wie höflich auch die Formen sein mögen, in welche man ihn einkleidet.

Der Geist des Widerspruchs ist eine Manie, durch die man oft unwillkürlich fortgerissen wird, merkwürdige Paradoxen zu behaupten.

Das sicherste Mittel, sich in der Gesellschaft verabscheut zu machen, ist, Jedem und bei jeder Gelegenheit zu widersprechen.[92]

Es ist tausend Mal besser, ganz zu schweigen, als zu ungelegener Zeit Widerspruch zu äußern. Dieß gilt selbst dann, wenn man das Recht für sich hat.

Der Widerspruch ist aufregend und verletzend, weil er einen unmittelbaren Angriff auf die Eigenliebe in sich trägt.

Quelle:
Fresne, Baronesse de: Maximen der wahren Eleganz und Noblesse in Haus, Gesellschaft und Welt. Weimar 1859, S. 92-93.
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