29) Der Gelehrte.

[100] »Wenig Menschen wissen, wie viel man wissen muß, um zu wissen, wie wenig man weiß!« sagt ein bekanntes Sprüchwort; und in der That muß man schon viel gelernt haben, um zu der Einsicht zu gelangen, daß man nur wenig oder gar nichts weiß.

Man verwechsele den Vielwisser nicht mit dem Gelehrten. Der Erstere ist ein Mann, der viel gelesen und[100] ein gutes Gedächtniß hat; der Letztere dagegen ist einer, der bei dem, was er gelesen, auch viel gedacht und ernstlich geforscht hat.

Der Vielwisser dankt seine Kenntnisse nur der Lectüre; der wahre Gelehrte verdankt die seinigen der Beobachtung der Thatsachen und dem Nachdenken.

Der Mann, der eine Wahrheit entdeckt hat und sie auf jede Weise gründlich darzuthun vermag, ist ein Gelehrter.

Der wahre Gelehrte ist bescheiden, selten ruhmsüchtig und nie pedantisch.

Man glaube nicht an die Weisheit eines Pedanten.

Die eigentlichen Wissenschaften, das heißt, die mathematischen und die physikalischen, haben ebenfalls ihre Vielwisser.

Diese kennen genau Alles, was in ihrem Fache gesagt und geschrieben worden ist.

Haben sie indeß nicht selbst etwas dazu beigetragen, die Wissenschaft zu befördern, so dürfen sie keinen Anspruch auf den Titel eines Gelehrten machen.

In der Wissenschaft sei man in der Regel so lange ungläubig, bis man völlige Ueberzeugung erlangt hat. Dabei scheue man indeß die Prüfung des Angezweifelten keineswegs; vielmehr nehme man sie mit solcher Gründlichkeit vor, daß man, wenn es irgend möglich ist, zur Entdeckung der Wahrheit gelangt.

Quelle:
Fresne, Baronesse de: Maximen der wahren Eleganz und Noblesse in Haus, Gesellschaft und Welt. Weimar 1859, S. 100-101.
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