Vom Spielen und Trinken

[139] Das alte Wort »im Wein ist Wahrheit« könnte auch auf das Spiel bezogen werden, denn das Spiel, jedes Spiel, vom gewagten Sportspiel bis zum bedächtigen Kartenspiel, vom elegantesten Tennis bis zum leidenschaftlichen Hasard offenbart Wahrheit, zeigt untrüglich den Charakter der Spielenden, wie der Wein jenen des Trinkenden.

Im Gegensatz zu Menschen, die krankhaft vertrauensselig oder geschwätzig sind, gibt es solche, die peinlich verschlossen bleiben, Hemmungen haben vor jeder vertraulichen Aussprache, gebannt sind in das Polareis einsamen Verschweigens-Menschen, denen man nicht näher kommt und denen es nie gelingt, in einem Kreis wirklich warm zu werden. Nur zuweilen unter dem Einfluß von Spiel oder Trunk zeigen sie ein plötzliches Erwärmtsein, ja eine überstürzte tolle Mitteilsamkeit.

Spiel und Trunk führen über eine gewaltige Skala, von harmloser Anregung und Unterhaltung geht ihre Wirksamkeit bis zu den Erscheinungen der verschiedensten Rauschzustände. Beiläufig bemerkt, die Fähigkeit des Berauschtseins scheidet die Menschheit auffallend von der Tierwelt. Selbstbeherrschung trotz Rausch gehörte einst ausgesprochen zum guten Ton. Man mußte, ohne Beine oder Kopf zu verlieren, reichliches Zutrinken[139] vertragen und ohne mit den Wimpern zu zucken am Spieltisch große Verluste ertragen. Solche Selbstbeherrschung war unerläßlich im gesellschaftlichen Leben. Es wurde für kleinlich angesehen von vornherein sich auf den »Mäßigen« aufzuspielen. Heute gehört es dagegen zum guten Ton, den Verhältnissen seiner Gesundheit und seiner Kasse Rechnung zu tragen. Die moderne Welt ist nach dieser Richtung zivilisierter und vernünftiger geworden.

Indeß sich die Trinksitten sonst überall gemildert haben, sind sie zu brutaler Unsitte gerade im Land der Prohibition geworden. Wie betrunkene Heloten den spartanischen Jünglingen als abschreckendes Beispiel gezeigt wurden, könnte man heute in Amerika so manches Opfer eingeschmuggelten Fusels als traurig abschreckendes Beispiel vorführen.

Jedem, der die Anregung eines guten Tropfens im geselligen Verkehr keineswegs entbehren mag, aber stets seiner selbst sicher, den guten Ton wahrt, muß es erlaubt sein und bleiben. Hier kommt so recht die goldene Mittelstraße des Horaz zur Geltung und Shakespeares Wort, daß er dem Junker Tobias in den Mund legt dem trübseligen Haushofmeister gegenüber: »Meinst Du, weil Du abstinent bist, soll die Welt keine Torten und keinen Wein mehr lieben?« Das könnte man heute manchem fanatischen Wasserapostel, manchem Spielverderber zurufen, der dem lebensfrohen Zeitgenossen das Glück der Stunde mißgönnt. In dieser Beziehung verlangt[140] der gute Ton, daß man jeden nach seiner Meinung ungestört leben läßt und auf jede Proselytenmacherei verzichtet.

Schwerer als beim Trinken hat es aber der gute Ton, sich durchzusetzen bei den verschiedenen Spielen, obwohl er entschieden zum »fair play«, zur Spielregel des selbstverständlichen Anstands gehört.

Wütende, leidenschaftliche, unsachgemäß aufgeregte Spieler, sei es beim Sport oder am Kartentisch, sind denkbar weit von den Regeln des guten Tons entfernt. Wie bei den antiken Wettspielen und kreuzritterlichem Sport hat sich neuerdings ein fester Sittencodex ausgebildet für anständiges Benehmen bei den verschiedensten Sportsarten, der eng mit deren Wesen in Verbindung steht und das Ausüben des Sportes zu einer wahrhaft tüchtigen Schule des guten Tons werden läßt.

Es ist wertvoll, hauptsächlich für den jungen Menschen beiderlei Geschlechts, wenn sich der gut geleiteten körperlichen Übung eine, man möchte sagen, gelungene seelische Übung gesellt und wenn am Schluß eines Wettkampfes Sieger und Besiegte einander mit ritterlicher Anerkennung begegnen, so daß nach äußerst angespannter Leistung die Entspannung froher Kameradschaft eintritt.

Durch die Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts im Sport ist vielmehr als durch die politische Gleichberechtigung ein wesentlicher Umschwung eingetreten im Begriff des guten Tones zwischen Mann und Weib, insbesondere zwischen Jungmädchen und Jungmann,[141] die beide in noch nie dagewesener Freiheit, Selbständigkeit und Selbstbejahung neben und miteinander sich sportlich betätigen. Dies bedeutet eine so große Umwälzung im Leben der Gesellschaft und vor allem in der Entwicklung der Jugend, daß sich die Lage noch nicht vollständig übersehen und in Regeln fassen läßt. Jedenfalls zeigt sich, daß unsere Jugend sich dem Neuen gewachsen zeigt und von sich aus zu Lebensformen eines guten Tons gelangt, der durchaus Anerkennung und Lob verdient. Die Beobachtung, daß ein Streben nach neuem gutem Ton instinktiv trotz der gründlichen Umwertung aller Werte Platz greift und sich ausorückt in vielen Schattierungen des Benehmens, die der älteren Generation ebensowenig geläufig sind wie der jungen Generation der umständliche gute Ton der »guten alten Zeit«, gehört zu den erfreulichsten Erscheinungen der veränderten Welt.

Das Interesse an der Modernisierung unserer Anstandsformen ist noch nicht ausgestorben und Höflichkeitsbezeugungen behalten ihren Wert, wenn es auch manchmal den Anschein hat, als wolle sie die junge Welt über Bord werfen. Der Wunsch gewisse gesellschaftliche Formen und Normen als gültig aufzustellen und an ihnen festzuhalten, ist lebendig geblieben. Verschiedene Strömungen machen den Versuch, die Moralphilosophie des guten Tons neu zu verfechten und bewußt zu betonen als Nachfolger der anerkannten Vertreter feiner Anstandslehre.[142]

Quelle:
Gleichen-Russwurm, Alexander von. Der gute Ton. Leipzig [o. J.], S. 139-143.
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