Meine einzige Begegnung mit Franz Liszt

[113] Seit dem Jahre 1866, wo ich meine »Sakuntala« bald nach Wien in Budapest selbst dirigierte, kam ich häufig, später fast jährlich dahin, um die Erstaufführung meiner Orchesterwerke zu dirigieren oder meine Opern zu inszenieren.

Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, dürfte es 1876 gewesen sein, als ich meine einzige Begegnung mit Franz Liszt hatte. In diesem Jahr ging ich zur Inszenierung meiner »Königin von Saba« dahin. Liszt war in Budapest anwesend; in der Mittagsstunde suchte ich ihn auf. Liebenswürdig wie immer, lud er mich ein, abends wiederzukommen. Ich kam und traf auch einen jungen Geiger da, ich glaube sein Name war Ploti. Liszt spielte mit ihm meine Suite op. 11. Nun, so hatte ich sie allerdings noch nie gehört. Er spielte manches anders, aber er hatte eine Art divinatorisches Erspähen seelischer Akzente, die man nicht hinschreiben kann, weil sie, subtiler Natur, grobsinnig leicht übertrieben werden können. Ich war gerührt von dieser wohlwollenden Aufmerksamkeit gegen den jungen Musiker, der ich noch war. Wir tranken Tee – er nahm etwas viel Rum hinein – und ich mußte lange bleiben.

Aus der anregenden Unterhaltung blieb mir nur ein einziges Wort im Gedächtnis haften (es ist lange her). Er sagte: »Im[113] Konzertsaal erhält sich die Musik länger, ein Stück wird seltener gehört, daher weniger abgenützt. Aber die Oper! Es gibt keine ausgegrabenen Opern; was nicht in seiner Zeit gelebt, lebt auch später nicht.«

Ich dachte aber im Nachhausegehen: Und was ist's mit »Tristan«, »Fidelio«? –

Quelle:
Goldmark, Karl: Erinnerungen aus meinem Leben. Wien, Berlin, Leipzig, München 1922, S. 113-114.
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