H. Tragische Stunden

[150] Wahre Freundschaft, echter Takt und aufrichtige Herzlichkeit zeigen sich vornehmlich in tragischen Stunden. Wenn es gilt, mit eigenem oder fremdem Lied fertig zu werden, Beistand zu leisten und Schicksalsschläge mit seelischer Größe zu tragen, dann erst offenbart sich der Charakter eines Menschen. Es ist ungleich leichter, für einen Bekannten, der das große Los gewonnen hat, Worte des Glückwunsches zu finden, als einem Schwerkranken Trost zu spenden. Jenes läßt sich mit oberflächlicher Heiterkeit tun – dieses verlangt Reife und Herz.

Nicht anders ist es, wenn wir plötzlich selbst erkranken oder vom Schicksal getroffen werden und damit der Pflege Dritter überlassen bleiben oder auf deren Trost angewiesen sind. Verhalten wir uns im Trösten ebenso wie im Leiden nicht anders, als wir es von anderen erwarten würden.


Krankheit betrifft nicht nur uns selbst, sondern auch unsere Umwelt. Unser vielleicht hilfloser Zustand macht uns von Dritten abhängig. Belasten wir sie nicht [150] mehr, als es die Verhältnisse erfordern. Seien wir mit unseren Forderungen nicht maßlos – die Welt dreht sich weiter, auch wenn wir auf dem Krankenbett liegen. Natürlich dürfen wir in einem gewissen Umfange Sonderwünsche hegen, Rücksichtnahme erwarten, Hauptperson sein – aber nur soweit, wie es unser Zustand notwendig macht. Vergessen wir nicht, daß wir anderen zusätzliche Last aufbürden, die gern getragen wird, solange sie gerechtfertigt ist, die aber – das erfordert die Selbstdisziplin – in Grenzen bleiben muß. Das gilt für das häusliche Krankenlager ebenso wie für den Aufenthalt im Krankenhaus.

Verlangen wir zu Hause an Betreuung und Rücksichtnahme nicht mehr, als wir selbst anderen gegenüber in gleicher Lage entgegenzubringen bereit wären. Bleiben wir auch mit unseren Wünschen in den Grenzen medizinischer Vernunft. Kranke, besonders Schwerkranke, sind sich oft nicht darüber klar, daß ärztliche und sonstige betreuerische Maßnahmen ihrem Wohl dienen. Und weil sie das oft nicht einsehen, neigen sie zu Nörgeleien und Unzufriedenheit. Solange also der Geist auch bei schwerer Erkrankung noch wach ist, wird er sich bemühen, für die besondere Form der Betreuung, so unangenehm sie auch sein mag, Verständnis aufzubringen. Jeder Pflegende ist letztlich darauf bedacht, den ihm anvertrauten Kranken so schnell wie möglich gesund zu sehen. Helfen wir ihm dabei durch Vernunft, so gut wir können!

Wer an ansteckender Krankheit leidet, wird Verständnis dafür aufbringen, wenn man ihn isoliert, auch wenn diese Isolierung Einsamkeit mit sich bringt. Wer die Unmöglichkeit des Besuches Dritter schmerzlich empfindet, mag sich Rechenschaft darüber ablegen, ob er selbst in ähnlicher Lage nicht auch um sich und der Seinen willen von einem Besuch Abstand nehmen würde. Einsamkeit gibt Zeit zur Besinnung, und schon so mancher hat die Gelegenheit zu stiller Einkehr, zur Zwiesprache mit sich selbst und dem Leben, zur Beschäftigung mit Problemen, denen er sich sonst aus Zeitmangel nicht hätte widmen können, gefunden.

Egoismus gehört nicht auf das Krankenbett, weder auf das häusliche noch auf das einer Klinik. Gerade in Krankenhäusern, in denen viele Patienten gleichmäßige Betreuung erwarten, wäre es unverantwortlich, sich selbst und sein Schicksal in den Mittelpunkt stellen zu wollen. Die pflegenden Hände, die dort Tag und Nacht um uns sind, tun ihre Arbeit letztlich aus einem inneren Bedürfnis heraus, dessen ethischer Wert auch unsere Anerkennung finden sollte, indem wir nicht mehr verlangen, als billigerweise erwartet werden darf.


Den ärztlichen Hausbesuch wird man entsprechend vorbereiten. Daß Sauberkeit ohnehin oberstes Gebot ist, bedarf keiner Erwähnung. Selbstverständlich legen wir dem Arzt Seife und ein frisches Handtuch bereit. Schwierige Fälle werden wir nicht in Gegenwart des Kranken besprechen. Ebenso kurzsichtig ist der Versuch, den Arzt, der eine große Anzahl von Hausbesuchen zu erledigen hat, in langatmige Gespräche zu verwickeln. Man schildert ihm, falls der Kranke [151] das nicht selbst tun kann, sachlich und kurz das Erscheinungsbild der Erkrankung, ohne Nichtdazugehöriges zu erwähnen. Ebenso sollte man von der Unsitte Abstand nehmen, dem ärztlichen Berater eigene Hausrezepte vorzuschlagen. Wer einen Arzt hinzuzieht, wird sich dessen Anweisungen widerspruchslos fügen.


Einschneidende Veränderungen im Ablauf des Alltags bringt der Tod eines nahen Angehörigen mit sich. Jeder Trauerfall, der in engstem Familienkreis eintritt, macht unverzüglich eine Anzahl von Maßnahmen notwendig:


1. Benachrichtigung der nächsten Angehörigen,


2. Einholung des vom Arzt ausgestellten Totenscheines,


3. Vorlage des Totenscheines beim Standesamt, das die Sterbeurkunde ausfertigt,


4. Benachrichtigung des zuständigen Friedhofes und Wahl des Grabplatzes, falls nicht schon zu Lebzeiten ein Grab gekauft wurde,


5. Beauftragung eines Bestattungsinstitutes, das die Überführung des Verstorbenen zum Friedhof übernimmt,


6. Benachrichtigung der Versicherungsanstalt oder Sterbekasse, falls mit einem dieser Institute ein Vertrag abgeschlossen wurde,


7. Beschaffung der Trauerkleidung,


8. Beschaffung des Blumenschmuckes,


9. Fühlungnahme mit dem Geistlichen, der den Verstorbenen auf seinem letzten Wege geleitet,


10. Druck der zu verschickenden Todesanzeige,


11. Aufgabe einer Todesanzeige in der Zeitung.


Nach der Beerdigung:


12. Druck einer zu verschickenden Beileidsdanksagung,


13. Dankbesuch beim Geistlichen,


14. Benachrichtigung der Dienststelle des Verstorbenen zwecks Regelung der Witwenbezüge,


15. Bestellung eines Grabsteins.


An der Beerdigung bzw. der Trauerfeier, falls der Verstorbene eingeäschert wird, nehmen alle Verwandten und nächststehenden Bekannten teil. Wer eine Traueranzeige erhält, jedoch nicht kommen kann, wird ein handschriftliches Beileidsschreiben sowie Blumen oder eine Kranzspende schicken.

Es gibt Fälle, in denen der Verstorbene auf eigenen Wunsch in aller Stille, also in allerengstem Familienkreise beigesetzt wird. Die Hinterbliebenen vermerken [152] in der dann später verschickten Anzeige diesen Wunsch und haben zugleich Gelegenheit zu der Bitte, von Beileidsbesuchen Abstand zu nehmen. Dieser Wunsch ist selbstverständlich stets zu respektieren. Er entbindet jedoch nicht von der Verpflichtung eines Kondolenzschreibens.

Auf dem Friedhof trifft sich die Trauergemeinde vor der Friedhofskapelle. Den örtlichen Gepflogenheiten entsprechend bleibt es jedem Trauergast überlassen, ob er seinen letzten Blumengruß zuvor zum Friedhof schicken lassen oder ihn selbst am Grabe niederlegen will.

Von der Kapelle aus bewegt sich nach der Aussegnung der Trauerzug zum Grab. An der Spitze geht der Geistliche, dem die Sargträger folgen. Unmittelbar hinter dem Sarge schreiten die allernächsten Angehörigen, denen sich die übrigen Trauergäste anschließen. Während dieses Ganges tragen die männlichen Trauergäste den Hut in der Hand – nur sehr alten Herren wird man es nachsehen, wenn sie ihre Kopfbedeckung aus gesundheitlichen Gründen aufsetzen.

Die Plätze in Grabnähe bleiben den nächsten Angehörigen vorbehalten. Fernerstehende halten sich im Hintergrund und treten erst an die Gruft, wenn die Familie dem Toten die letzte Ehre erwiesen hat. Anschließend drückt man den unmittelbar Hinterbliebenen stumm die Hand.


Die Trauerzeit ist eine Frage, die das Herz entscheiden muß. Nicht alle, die da schwarz gehen, trauern wirklich tief, ebensowenig wie alle, deren Beruf sie schon frühzeitig wieder zu normaler Kleidung zwingt, notwendigerweise das Bild eines teuren Toten vergessen haben.

Als Anhaltspunkte mögen folgende gebräuchliche Zeiten dienen:

Eine Witwe trauert im allgemeinen ein Jahr, wobei sie üblicherweise während des ersten Halbjahres tiefe Trauer trägt. Im zweiten Halbjahr und darüber hinaus kann sie die sogenannte Halbtrauer tragen, bei der das Schwarz ihrer Kleidung bereits durch Weiß aufgelockert oder durch Grau ersetzt sein darf. Laut Gesetz darf sie vor Ablauf von zehn Monaten nicht wieder heiraten. Ausnahmen sind nur nach ärztlicher Untersuchung möglich, um gegebenenfalls Vaterschaftsfragen zu klären.

Der Witwer trauert im allgemeinen ein halbes Jahr. Dieser vielleicht befremdliche Unterschied in der Länge der Trauerzeit mag sich daraus erklären, daß, besonders in einem kinderreichen Haushalt, die Mutter weniger entbehrlich ist als der Vater.

Eltern und Geschwister werden üblicherweise ein Jahr betrauert.

Der Takt gebietet es, während der durch die Kleidung äußerlich sichtbargemachten Trauer sich jene Zurückhaltung in gesellschaftlicher Hinsicht aufzuerlegen, die dem Schmerz über den Verlust entspricht.

Quelle:
Graudenz, Karlheinz: Das Buch der Etikette. Marbach am Neckar 1956, S. 150-154.
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