B. In der Öffentlichkeit

[236] Die überaus meisten Menschen zahlen Steuern. Natürlich tun sie das höchst ungern, zumal ihnen jene Summen, die Vater Staat von ihnen verlangt, viel zu hoch erscheinen. Die Obrigkeit steht nicht selten auf dem gegenteiligen Standpunkt. Diese Unterschiedlichkeit in der Auffassung von staatsbürgerlichen Pflichten führt zuweilen zu gewissen gegenseitigen Aversionen, die jedoch nur dem Staatsbürger Kopfschmerzen bereiten, während sie die Steuerbehörde mit souveräner Überlegenheit erträgt.

Immerhin muß anerkannt werden, daß dem Bürger als Entgelt für die regelmäßige Entrichtung seiner Oboli auch ein paar Rechte eingeräumt werden. Zu ihnen gehört die jederzeitige Benutzung öffentlicher Wege und Straßen.

Wer in der Hauptverkehrszeit offenen Auges durch die Straßen einer Stadt geht, wird unschwer feststellen können, daß das Leben auch hier bequemer, reibungsloser, höflicher ablaufen könnte, wenn die Leute ein wenig mehr Rücksicht aufeinander nehmen wollten!


[236] Die Straße ist für alle da! Erstaunlicherweise vergessen das die meisten Menschen. Und wenn es zu Kollisionen kommt, sind sie nur höchst selten bereit, einen Teil der Schuld auch bei sich selbst zu suchen. Das Prinzip der breiten Ellenbogen taugt an und für sich schon nicht viel, und auf der Straße ist es völlig undiskutabel.

Sobald wir uns in die Öffentlichkeit begeben, wollen wir der Umwelt grundsätzlich den gleichen Lebensraum, die gleiche Bewegungsfreiheit zubilligen, die wir für uns selbst in Anspruch nehmen. Und da das Leben in der Gemeinschaft nun einmal ohne die Innehaltung bestimmter Regeln nicht möglich ist, wird ein jeder gut daran tun, sich an diese Regeln zu halten. Das gilt sogar für einen harmlosen Gang durch die Stadt, von dem man eigentlich annehmen sollte, daß über seine »Technik« kein Wort verloren zu werden brauchte.

Und doch passiert es immer wieder, daß man innerhalb weniger Minuten mehrfach mit anderen Passanten zusammenstößt, über Hundeleinen stolpert, in einem gegnerischen Schirmgestänge hängenbleibt oder einem sperrigen Gegenstand ausweichen muß. Das alles wäre nicht nötig, wenn sich ein jeder ausnahmslos an bestimmte Regeln hielte, die ihm selbst nicht weniger zugute kommen als den Mitpassanten:

1. Auch auf dem Bürgersteig gilt das Gebot des Rechtsverkehrs. Man geht rechts und überholt links. (Bei Kollisionen kann derjenige, der links ging, für eventuelle Schäden haftbar gemacht werden.)

2. Hunde müssen an der Leine und ganz dicht »bei Fuß« geführt werden, damit niemand in Gefahr gerät, über die Leine zu stolpern und zu Fall zu kommen.

3. Wer mit Stock oder Schirm bewaffnet ist, vermeide – auch wenn er bester Laune ist – denselben übermütig und unbesorgt durch die Luft zu schwingen. Wie leicht kann diese Fröhlichkeit in anderer Leute Augen gehen!

4. Aufgespannte Schirme müssen so gehalten werden, daß sie dem Träger nicht die Sicht nehmen.

5. Sperriges Gut darf keinesfalls so getragen werden, daß es andere Passanten gefährdet. Scharfe Gegenstände (z.B. Sägen) müssen entsprechend verpackt sein. Insbesondere Skiläufer haben die Angewohnheit, ihre Bretter sorglos zu schultern und dabei zu vergessen, daß sie mit den Skispitzen hinter sich einen erheblichen Raum »bestreichen«. Skier müssen daher in dichtem Fußgängerverkehr fast senkrecht getragen werden.

6. Stehkonvente auf Bürgersteigmitte behindern den Verkehrsfluß.

7. Die Ampelregelung an Straßenübergängen gilt auch für Fußgänger.

[237] 8. Wer sich tollkühn in den lichtgeregelten Fahrverkehr stürzt und damit zu Schaden kommt, kann keinerlei Haftansprüche gegen einen Fahrzeughalter geltend machen, sondern kann selbst zum Schadenersatz verurteilt werden.

9. Hauptverkehrsstraßen überschreitet man nach Möglichkeit nur auf den Fußgängerüberwegen, den sogenannten »Zebrastreifen«.

10. Und noch ein Wort zur Hilfsbereitschaft: Wer Körperbehinderte, Blinde, alte oder gebrechliche Personen sieht, der sei ihnen behilflich, wenn sie die Straße überqueren oder eine Straßenbahn besteigen wollen. Diese Hilfeleistung muß uns inneres Bedürfnis sein und zugleich ein Dank, daß uns ein ähnliches tragisches Schicksal erspart blieb.

Soweit die primitivsten Verkehrsregeln.

Darüber hinaus aber gibt es noch ein paar ungeschriebene Allgemeingesetze, die in das Gebiet des Anstandes, der Höflichkeit und der Rücksichtnahme fallen und nicht minder wichtig sind.

Alten Leuten weicht man aus, auch wenn sie versehentlich auf der falschen Seite gehen sollten.

Der vollendete Kavalier besteht einer Dame gegenüber nicht auf seinem »Vorgehrecht«.

Niemandem fällt eine Perle aus der Krone, wenn er einem Passanten, der etwas verloren hat, den betreffenden Gegenstand aufhebt und nachbringt, anstatt ihm nur nachzurufen: »He, Sie – Sie haben was verloren!« Eine derartige Aufmerksamkeit ist an sich selbstverständliches Gebot der guten Erziehung – sie wird zur Pflicht Damen und alten Herrschaften gegen über.

Wer mit einem anderen Passanten zusammenstößt, entschuldigt sich, wobei der wohlerzogene Herr den Hut lüftet.

Ist ein Fußweg so schmal, daß ein Passieren unmöglich wird, so macht der Herr der Dame, der Jüngere dem Älteren Platz. Das Ausspielen körperlicher Überlegenheit ist eine grobe Flegelei.

Man ißt nicht auf der Straße.

Man wirft auch keinen Abfall, gleich welcher Art, fort – selbst wenn die Straßenreinigung letztlich vom Geld der Steuerzahler finanziert wird.

Damen, die auf der Straße rauchen, sind entweder keine – oder Amerikanerinnen. (Eine wohlerzogene Amerikanerin wird das aber auch nicht tun.)

Wo sich ein Menschenauflauf bildet, bleibe nur derjenige stehen, der die Absicht hat, helfend einzugreifen. Neugier ist kein schöner Charakterzug.

[238] Alle Entgegenkommenden auffällig anzustarren, ist ebenso taktlos wie die Angewohnheit, sich umzudrehen. Wer da glaubt, »den Blick nicht von ihr wenden« zu können, der tue das unauffällig, indem er zuerst an ein Schaufenster tritt.

Und noch eine Regel für unsere Damenwelt: Eine vollendete Dame läuft auf der Straße nie!


Zu zweit gilt die rechte Seite als Ehrenplatz. Normalerweise wird also der Herr die Dame, der Jüngere den Älteren rechts gehen lassen. Diese Regel hat jedoch eine Ausnahme: Wenn die rechte Seite die gefährdete ist, muß der Herr rechts von der Dame gehen. Verheiratete, Verlobte (und auch Verliebte) lieben es zuweilen, Arm in Arm zu gehen. Im dichten Fußgängerverkehr ist davon abzuraten, da der Herr gegebenenfalls häufig ausweichen bzw. zurückbleiben muß. Selbstverständlich darf der Herr jeder Dame bei Glätte, auf Stufen und Übergängen den Arm bieten, auch wenn er mit ihr nur oberflächlich bekannt ist.


Zu dritt. Hier ist eigentlich der mittlere der Ehrenplatz, dem in der »Rangfolge« die rechte Seite folgt. Geht jedoch ein Herr in Gesellschaft zweier Damen, so kann er selbst den mittleren Platz einnehmen, während er die ältere zur Rechten, die jüngere zur Linken führt. Doch nur – bei schönem Wetter! Wenn es nämlich regnet und der Herr einen Schirm hat (merken wir uns hier noch einmal, daß jeder Herr ständig einen Schirm dabeihaben sollte!), dann geht die ältere der beiden Damen in der Mitte, der Herr seitwärts, wobei er das Kunststück fertigbringen muß, den Schirm so geschickt zu halten, daß er beide Damen gegen den Regen schützt, während er selbst auch im stärksten Guß noch verbindlich lächelt. Den Kinderwagen schieben in Deutschland größtenteils die jungen Mütter. Nur selten werden sie von den stolzen Vätern abgelöst. Im Gegensatz zu Amerika, wo keine Frau in Gegenwart ihres Mannes auf die Idee käme, den »go-cart« zu schieben. Jede Mama wird gut daran tun, sich mit ihrem Jüngsten nicht gerade in den dichtesten Fußverkehr zu stürzen. Müßte sie es doch einmal, dann sollte sie sich noch strenger an das Gebot des Rechtsverkehrs halten, um Karambolagen mit anderen Passanten zu vermeiden. Die Passanten aber werden ihrerseits ebenfalls Rücksicht nehmen und bedenken, daß eine Mutter mit Kinderwagen weniger beweglich ist als der Einzelgänger.

Manche jungen Mütter allerdings haben eine wenig glückliche Hand: Eine gute Freundin von mir pflegt beispielsweise jeden Nachmittag um 5 Uhr ihren Sohn in den Kinderwagen zu packen, zwei Hunde an die Leine zu nehmen und dann auf den dichtest bevölkerten Straßen zum Einkaufen zu fahren. Und das im Zentrum einer Stadt von nahezu einer Million Einwohnern. Erfolg: Täglich erneut zerfetztes Nervenkostüm und restloser Zerfall mit sich und der schnöden Umwelt. Ergänzend sei noch erwähnt, daß ihr Hausmädchen zur gleichen Zeit zu Hause sitzt und Kreuzworträtsel löst.


[239] Die Kunst des Grüßens. Sie glauben doch nicht etwa, lieber Leser, Grüßen sei keine Kunst? Im Gegenteil! Der formvollendete Gruß verrät dem geschickten Beobachter allerlei – über Erziehung, Stand, Milieu, gesellschaftliche Sicherheit und vieles andere.

Grundsätzlich gilt: Lieber zehnmal zuviel als einmal zuwenig grüßen! Wann immer wir einem Gesicht begegnen, das uns vertraut oder doch irgendwie bekannt vorkommt, grüßen wir. Insbesondere, wenn wir männlichen Geschlechts sind. Denn in Deutschland grüßt der Herr zuerst. (In England dagegen ist es die Dame, die zum Grußwechsel ermuntert. Man steht dort auf dem Standpunkt, daß es der Dame überlassen bleiben müsse, ob sie gegrüßt werden will oder nicht.)

Vergessen wir nie, daß ein Gruß eine freundliche Geste ist. Da sie zudem nichts kostet, wäre es falsch, mit ihr zu geizen. Freundliche Menschen kommen im Leben weiter als zurückhaltende, und so geht nichts über die verbindliche Liebenswürdigkeit eines gezogenen Hutes, eines netten Lächelns. Selbst wenn wir dem Gegrüßten in absehbarer Zeit nicht wieder begegnen sollten, haben wir uns ihm doch als jederzeit ausgeglichene, liebenswürdige Natur ins Gedächtnis gebracht.

Es grüßen also der Herr die Dame, der Jüngere den Älteren, der einzelne die Gruppe, die Unverheiratete die Verheiratete zuerst. Hierbei ist natürlich an junge Mädchen gedacht, denn wenn eine junge Frau einer älteren unverheirateten Dame oder einer etwa gleichaltrigen Dame begegnet, die einen »männlichen« Beruf ausübt, wird sie selbstverständlich zuerst grüßen.

Die Dame erweist ihre Grußbezeigung durch leichtes Senken des Kopfes, während der Herr mit angedeuteter Verbeugung seinen Hut lüftet – etwa bis in Schulterhöhe. Weniger sähe sparsam, mehr devot aus.

Der Gruß beginnt wenige Schritte vor dem zu Grüßenden. Allzu früh den Hut zu ziehen, zwingt dazu, mit der Kopfbedeckung in der Hand und steifem Oberkörper denkmalsähnlich zu passieren, was nicht sonderlich elegant aussieht. Und man darf mit dem Gruß ja keinesfalls fertig sein, d.h. den Hut bereits wieder aufgesetzt haben, ehe man an dem anderen nicht vorüber ist.

Das legere Tippen mit zwei Zeigefingern an die Hutkrempe ist auf der Straße ungezogen und drückt Mißachtung aus. Mit dieser plump vertraulichen Geste kann man höchstens Arbeitskameraden auf dem Bau begrüßen.

Natürlich nimmt man als Herr zum Gruß die zweite Hand aus der Tasche (wo sie ohnehin nichts zu suchen hätte) und die Zigarette, Zigarre oder Pfeife aus dem Mund.

Wer als Herr in der linken Hand eine Aktenmappe und in der rechten einen [240] Schirm trägt, tut gut daran, die Augen doppelt aufzumachen, denn er benötigt gegebenenfalls noch zwei Sekunden für den Schirm-bzw. Mappenwechsel, ehe er grußfertig ist.

Der Herr lüftet den Hut mit der dem Begrüßten abgewendeten Hand – wenn er verkehrsrichtig geht, also mit der rechten. Dabei wird weder die Hutinnenseite nach außen gewendet noch der Arm in der Form des einstmaligen tausendjährigen Grußes militärisch gestreckt.

(Noch ein Wort an die Herren, deren Beliebtheit ihnen zu mehr oder weniger zahlreichen Damenbekanntschaften verhalf: Wenn Sie einer Dame begegnen, mit der sie einst näher bekannt waren, und diese Dame befindet sich jetzt in Gesellschaft eines Ihnen unbekannten Herrn, dann versuchen Sie, blitzartig zu erfassen, ob ein Gruß eben dieser Dame nicht peinlich oder unerwünscht sein könnte. Da Sie aber von Kopf bis Fuß Kavalier sind, werden Sie diese Frage mit dem Instinkt eines Urwaldtieres richtig erfassen und besagter früherer Bekanntschaft jede möglicherweise unangenehme Rückfrage ihres Begleiters ersparen.)

Im übrigen gelingt der vollendete Gruß um so besser, je ungezwungener und innerlich freier er entboten wird.


Man grüßt uns. Wir danken grundsätzlich für jeden Gruß, der uns entboten wird – auch dann, wenn der andere uns unbekannt erscheint oder tatsächlich ist. Wer im gleichen Moment, da ihn jemand grüßen will, ostentativ wegschaut, gibt dem Grüßenden das Recht, ihn für einen unerzogenen Menschen zu halten.

Häufig kommt es vor, daß wir in Begleitung gehen und unser Partner bzw. unsere Partnerin gegrüßt wird von jemandem, den wir nicht kennen. Auch in diesem Falle erwidern wir den Gruß, obwohl er gar nicht uns galt – wenn auch um eine Nuance förmlicher.

Hohe Chefs haben natürlich grundsätzlich Anspruch darauf, von ihren Angestellten auch auf der Straße zuerst gegrüßt zu werden. Dennoch vergibt sich kein Chef etwas, der eine weibliche Angestellte in der Öffentlichkeit zuerst grüßt, weil sie hier ja Dame ist. Im Gegenteil, er festigt nur seinen Ruf als Kavalier. Auch dann, wenn er das gleiche weibliche Wesen am nächsten Vormittag mittels kurzen Klingelzeichens vor seinen gewaltigen Schreibtisch befiehlt.


Die Kunst des Begrüßens. Grüßen und Begrüßen ist ein himmelweiter Unterschied. In einem Falle setzen wir den Hut wieder auf und gehen weiter, im anderen bleiben wir stehen oder nähern uns dem oder der Getroffenen.

In den meisten Fällen wird einer der beiden durch Verlangsamen des Tempos seinen Wunsch zu einer Begrüßung kundtun. Bei Gleichaltrigen spielt es keine [241] Rolle, von wem die Initiative ausgeht. Anders dagegen ist es, wenn sich Dame und Herr begegnen. Hier bestimmt die Dame, ob einem flüchtigen Gruß ein Händedruck folgen darf. Der Herr mag dem Himmel innerlich also noch so dankbar dafür sein, daß er ihm eine entzückende Bekannte in den Weg führte – er darf dennoch keinesfalls auf die Dame zustürzen und sie mit herzlichem Handschlag begrüßen wollen, wenn ihm nicht ein leises Zögern im Schritt der Betreffenden unmißverständlich zu verstehen gibt, daß sie einer Begrüßung nicht abgeneigt wäre. (Glücklicherweise versteht es jede vollendete Eva ausgezeichnet, hier keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen.)

Ein solchermaßen ermunterter Herr wird sich der Dame mit dem inzwischen in die Linke genommenen Hut nähern. Auch den rechten Handschuh hat er bereits ausgezogen. Dennoch wird er, wenn gut erzogen, warten, bis ihm die Dame die Hand zur Begrüßung reicht. Mit ausgestreckter Rechten auf die Dame zutreten, mag herzlich gemeint sein und aufrichtige Freude über das Treffen demonstrieren – höflich und korrekt ist es nicht. Der Herr also zieht zur Begrüßung einer Dame auf jeden Fall den rechten Handschuh aus, die Dame dagegen darf ihn anbehalten.

Ein einzeln vor sich hinspazierender Herr wird ein ihm bekanntes, verliebtes, verlobtes oder verheiratetes Paar nur dann begrüßen, wenn er von der Gegenseite hierzu ermuntert wurde. Demgegenüber darf eine einzelne Dame eine annähernd gleichaltrige Bekannte auch dann begrüßen, wenn sich diese in Herrenbegleitung befindet.

Und wenn sich Paare begegnen, so ist es Sache der Älteren, den Anstoß zu einem »shake-hands« zu geben.


Man begrüßt uns! Wenn sich alle Beteiligten der Begrüßungszeremonie bereits kennen, verlaufen der oder die Händedrücke gemäß der bewährten Regel: Die Dame reicht dem Herrn, der Ältere dem Jüngeren, der »Höhere« dem »Niederen« die Hand, die dieser ergreift und mit einiger Festigkeit drückt. (Der Händedruck darf, besonders Damen gegenüber, nicht zu einer Demonstration des eigenen Bizepsumfangs ausarten. Dennoch hüte man sich vor jenem Handschlag, dessen Schlaffheit dem Gegenüber einen kalten Schauer über den Rücken jagt.) Übers Kreuz gibt man sich die Hände nicht – der Aberglaube verbietet es.

Zuweilen aber treffen sich Bekannte, die sich in Begleitung Dritter befinden. Auch sie können sich selbstverständlich begrüßen. Nur werden die Dritten diskret einige Schritte vorausgehen und dann wartend stehenbleiben, es sei denn, ihr Partner fordere sie auf zu bleiben, um sie vorstellen zu können.


Küsse, Handküsse und Umarmungen. Weder das eine noch das andere – und das dritte schon gar nicht!

[242] Die Öffentlichkeit ist nun einmal kein Schauplatz für Zärtlichkeiten. Und wenn das Objekt derselben noch so schön, noch so verführerisch wäre. Ebenso verführerisch wie die Vorstellung, von der zuschauenden Umwelt um diesbezügliche Rechte beneidet zu werden.

Auch der Handkuß auf der Straße ist fehl am Platze, meine Herren! Mehr noch – er ist ein ausgesprochener faux pas – selbst wenn er Ihnen einmal wöchentlich auf der Filmleinwand vorexerziert wird. Vertrauen Sie in Ihrem ureigenen Interesse nicht der Filmetikette. Handküsse gehören unter gar keinen Umständen unter den freien Himmel.

Ausnahme: Ein Gartenfest, als dessen Gast Sie den bereits anwesenden Damen vorgestellt werden. Da dürfen Sie sich über verheiratete Hände (als solche gelten auch jene, die einer unverheirateten, nicht mehr jungen Dame gehören, die eine Stellung im öffentlichen Leben innehat und den Titel »Frau« führt) – auf dem Gartenfest also dürfen Sie sich über weibliche Hände beugen, denn der Himmel über einem Privatgarten ist natürlich ebenfalls privat und gilt als Bedeckung im Sinne des Handkusses.


Andere vor, neben und hinter uns. Wenn wir Europäer nicht so zahlreich wären, brauchten wir uns über spezielle Regeln des Benehmens vor, neben und hinter unseren Mitmenschen gar nicht den Kopf zu zerbrechen. Und besonderer Hinweise bedürfte es auch nicht. Aber es ist bei uns nun einmal ziemlich eng. Europa hat – das mag uns trösten – bei einer Größe von 10 Millionen Quadratkilometern 531 Millionen Einwohner. Der amerikanische Doppelkontinent Nord- und Südamerika aber hat insgesamt nur 281 Millionen Einwohner, also wenig mehr als die Hälfte, ist dafür aber mehr als viermal so groß, nämlich 42 Millionen Quadratkilometer! Und aus dieser Enge ergibt sich die zwingende Notwendigkeit, aufeinander ein wenig Rücksicht zu nehmen.


Auch wenn wir »shopping« gehen.

Jedermann weiß, was Shopping ist. Ein Besuch zum Zwecke des Wählens, Beguckens, Grüßens, Anregungsuchens und – des Einkaufens. Aber letzteres eigentlich nicht so sehr. Es sind jene Stunden, in denen Haus- und häusliche Frauen teils mit, teils ohne Mann Ausschau halten, »was es so gibt«.

Es gab eine Zeit, in der man ein Geschäft nur dann betreten durfte, wenn man bereits eine feste Vorstellung von dem hatte, was man kaufen wollte. Es war jene Zeit, in der die Verkäufer sichtlich kühl wurden, wenn ein Käufer nicht innerhalb weniger Minuten bereits gewählt, gekauft, bezahlt und das Geschäft wieder verlassen hatte. Die Zeit, in der der Geschäftsmann der gnädig Liefernde, der Kunde der dankerfüllt Beschenkte war.

Diese Zeit ist vorbei.

[243] Der seriöse Kaufmann von heute weiß sehr wohl, daß der Kunde König ist und den Anspruch darauf hat, ein wenig liebenswürdig umworben zu werden. Und weil der kluge Geschäftsmann das weiß, behandelt er den Nur-Interessenten mit der gleichen Höflichkeit wie den Großabnehmer. Denn der Interessent von heute ist der Kunde von morgen.

Und deshalb ist sorgfältige Wahl vor endgültigem Kauf das gute Recht eines jeden, der ein Geschäft betritt.

Dennoch sollte sich das Bewußtsein, wieder König Kunde zu sein, in mäßigen Grenzen halten. Nicht zuletzt auch jenen gegenüber, die mit uns shopping gehen. Nehmen wir also gegenseitig Rücksicht aufeinander! Geben wir auch anderen, die neben uns stehen, Gelegenheit, sich ein wenig umzuschauen. Drängeln wir nicht. Auch hier gilt: »Der Gebrauch der Ellenbogen ist wirksam zwar, doch ungezogen!«

Es könnte sein, daß wir ein Geschäft in dem gleichen Augenblick betreten, da ein anderer es verlassen will. Dann machen wir Platz! Es ist hier nicht anders als in der Straßenbahn: Erst aussteigen lassen!

Durch eine Schwingtür treten wir grundsätzlich rechts. Hinein sowohl als auch hinaus. Das fördert den Verkehrsfluß und ist nur höflich. Und daß die gut erzogenen Herren der Schöpfung beim Betreten eines Geschäftes den Hut abnehmen, ist klar. Eine Ausnahme bilden nur Warenhäuser.

Vergessen wir auch nicht, daß Verkaufspersonal ebenfalls Anspruch auf Höflichkeit hat, selbst wenn wir König Kunde sind. Auch Könige sind höflich! Wir werden also unser Verlangen nach Vorlage bestimmter Waren stets mit einem verbindlichen »Bitte!« begleiten. Es nimmt keine zusätzliche Zeit in Anspruch und vermittelt dem bedienenden Personal das Bewußtsein der Anerkennung seiner nicht immer leichten Arbeit. Warum also nicht freundlich sein? Und wenn uns nichts gefällt, wir das Passende nicht gefunden haben, dann ist es nur recht und billig, mit einem verbindlichen »Danke!« die Bemühungen des Verkaufspersonals anzuerkennen.


Öffentliche Verkehrsmittel. Die Mehrzahl der Menschen, und besonders der arbeitenden Menschen, ist im Stadtverkehr auf die Benutzung von Straßenbahn, Autobus und ähnlichen Verkehrsmitteln angewiesen. In den Hauptverkehrszeiten ballen sich die Menschenmassen, ein jeder kennt nur ein Ziel – mitzukommen und, wenn irgend möglich, einen Sitzplatz zu ergattern. Leider wird dieses Ziel von einer bestimmten Kategorie unserer Zeitgenossen recht rücksichtslos verfolgt. Nirgends sind Charakterstudien aufschlußreicher als in Straßenbahn und Omnibus. Wie kaum sonst scheiden sich hier die Flegel von den Kavalieren.

[244] So verständlich es ist, wenn jemand nach langem Arbeitstag nicht auch noch auf der Heimfahrt stehen möchte, so sollte ein jeder doch bedenken, daß andere das gleiche Bedürfnis haben – und diese anderen vielleicht älter, gebrechlicher und nicht mehr ganz gesund sind. Vergessen wir niemals, daß die Härte der vergangenen Zeit heute noch viele in einem Alter zur Arbeit zwingt, in dem sie früher längst von der Last des Lebens ausgeruht hätten.

Überwinden wir uns selbst! Sparen wir uns den so unschönen Trick mit der Zeitung, in die man sich vertieft und dann so tut, als sähe man das alte Mütterchen, den alten Mann nicht, die neben uns stehen und große Mühe haben, sich auf den Beinen zu halten. Und den Körperbehinderten, der sich apathisch auf seine Prothese stützt und längst gewöhnt ist, daß man sein Opfer vergessen hat. Die Mutter, die mit Kind, Handtasche und Paket kaum weiß, wie sie an ihr Fahrgeld herankommen soll. Sollten wir in all diesen Fällen nicht schnell und freudig aufstehen, dem anderen unseren Platz anbieten und insgeheim dem Schicksal danken, das uns gesund erhielt? Ist nicht das dankbare Lächeln aus alten, runzligen Augen tausendmal mehr wert als die Bequemlichkeit unseres Sitzplatzes? Auch hier, im nüchternen, dichten Verkehr des Alltags, können wir Freude spenden – uns und anderen. Und wenn es uns gar zu schwer fällt, uns zugunsten anderer ein wenig zu beschränken, dann mag uns die Vorstellung helfen, daß neben uns unsere Mutter, unser Vater stünde – und wir werden in Gedanken an sie gern und freudig Platz machen.

Es muß nicht so sein, wie ich es kürzlich erlebte: Ich stand in einer überfüllten Straßenbahn, neben mir tauchte ein altes Mütterchen auf, das die 70 sicher schon überschritten hatte. Zur Rechten saß ein sehr junger Mann, die Zigarette im Mundwinkel, und las den Sportteil einer Zeitung. Zur Linken hatte ein alter Herr Platz genommen, der auch schon gute 60 gewesen sein mochte. Er erhob sich, als die alte Frau erschien, ein wenig mühsam und nötigte sie auf seinen Platz. Und dann fragte er den jungen Mann mit der Abgeklärtheit des Alters: »Sagen Sie, junger Freund, wie alt muß jemand sein, ehe Sie ihm Ihren Platz anbieten?« Der Gerechtigkeit halber muß berichtet werden, daß sich der junge Mann mit einer gemurmelten Entschuldigung erhob und sehr rot wurde. Und so ist wohl zu hoffen, daß künftige Erziehungsversuche bei ihm nicht mehr nötig sein werden.

Doch nicht nur im Wagen selbst, auch beim Aus-und Einsteigen können wir gute Lebensart demonstrieren. Herren lassen Damen grundsätzlich zuerst einsteigen, auch wenn sie nicht zu ihnen gehören. Dagegen steigt der Herr zuerst aus und ist seiner Dame behilflich, wenn sie ihm folgt. Und wenn er bei dieser Gelegenheit auch noch andere stützt, so schadet das nichts.

Wer auf der Plattform steht, wird auch einer wildfremden alten Dame oder [245] einem gebrechlichen alten Herrn beim Einsteigen helfend unter die Arme greifen und nicht tatenlos zusehen, wie sich die alten Leutchen mühsam am Handgriff emporziehen.

Schließlich kann man auch dem Schaffner gegenüber höflich sein und ihm seine in den Stoßzeiten sicherlich nicht leichte Arbeit der Fahrscheinausgabe vereinfachen helfen, indem man das Fahrgeld möglichst abgezählt bereit hält und nicht erst nach mehrmaliger Aufforderung umständlich beginnt, aus der innersten Tasche seine Geldbörse zu ziehen. (Juristisch ist übrigens die Erstattung des Fahrgeldes eine sogenannte »Bringschuld«, das heißt, der Fahrgast ist verpflichtet, von sich aus einen Fahrschein zu lösen.)


Unfälle erfordern Maßnahmen! Unsere schnellebige Zeit hat uns leider für Sorgen und Nöte, Kummer und Unglück anderer unempfänglich gemacht. Herzensträgheit, Bequemlichkeit und die berüchtigte Hornhaut auf der Seele lassen viele von uns auch dort achtlos vorübergehen, wo dringend und augenblicklich Hilfe notwendig wäre. So mancher sieht ein Unglück mit an, ohne helfend einzugreifen – er bleibt stehen, nimmt zur Kenntnis und ist doch unfähig, die eigene Lethargie zu überwinden und helfend einzugreifen. Und wie klein und unwichtig sind die Bedenken eigentlich, mit denen wir uns vor uns selbst entschuldigen! Zeitverlust, der angeblich nicht wieder gutgemacht werden könnte, mangelnde Geschicklichkeit, die Furcht, sich vielleicht zu beschmutzen, und vieles andere mehr. Liebe Freunde – habt ihr euch einmal überlegt, wie euch zumute wäre, wenn man euch nach einem Ohnmachtsanfall, einem Autounglück, einem Verkehrsunfall oder in einer ähnlichen hilflosen Situation allein ließe? Oder sich darauf beschränkte, euch teilnahmslos anzustarren? Habt ihr einmal daran gedacht, was ihr wohl von jemandem hieltet, der einen der Euren in einer solchen Lage kaltschnäuzig sich selbst überließe? Ist der Schmutzfleck in eurem Anzug oder auf dem Polster eures Wagens wirklich nicht die Gesundheit oder das Leben eines Dritten wert – eines Dritten, der morgen einer der Euren sein könnte?

Und deshalb – überwindet die Herzensträgheit! Seid hilfsbereit! Jeder Städter kennt die wichtigsten Telefonanschlüsse, die Hilfe bringen können. Funkstreife und Feuerwehr haben zumeist ganz leicht zu merkende Nummern. Fast jeder kennt einen Arzt. Fast jeder weiß die Adresse des nächstliegenden Krankenhauses. Holt Hilfe herbei, stoppt das nächste Fahrzeug und veranlaßt es zum Abtransport des Verunglückten!

Vergeßt nicht, daß Leben, Glück und Gesundheit eines Menschen, einer ganzen Familie von eurer Initiative, eurer Geistesgegenwart, eurer Hilfsbereitschaft abhängen – und handelt, wie es die einfache Nächstenliebe gebietet!


Im Fahrstuhl beweist die gute Hälfte aller Männer, daß ihr die letzten Feinheiten der vollendeten Etikette doch noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen[246] sind. Sie behält nämlich den Hut auf. Und das ist wider jede gute Sitte. Der Fahrstuhl ist nun einmal ein sehr enger, geschlossener Raum, und in geschlossenen Räumen trägt man grundsätzlich keine Kopfbedeckung. Es gibt großzügige Vertreter des männlichen Geschlechts, die auf dem Standpunkt stehen, das Gesetz des Hutes in der Hand gelte für den Fahrstuhl nur dann, wenn auch Damen darin sind. Das ist ungefähr dasselbe, als wolle man einsamen Junggesellen gestatten, den ach so schmackhaften Kompottsaft vom Kompotteller zu trinken ...

Gewöhnen Sie sich ruhig daran, meine Herren, den Hut beim Betreten des Fahrstuhls auch dann in die Hand zu nehmen, wenn Sie ganz allein sind. Es hat den Vorteil, daß Ihnen auch diese Geste der guten Erziehung zur Selbstverständlichkeit wird und Sie nicht Gefahr laufen, es irgendwann einmal zu vergessen. Nichts ist gefährlicher, als sich die Befolgung gewisser Manieren immer nur für die Öffentlichkeit aufzuheben. Sie sollen ja um ihrer selbst willen gepflegt werden und nicht, weil uns andere beobachten. Machen Sie keine Ausnahme – weder im Warenhausfahrstuhl noch in dem des großen, internationalen Hotels und nicht einmal im Schnellift des Empire State Building in New York, der Sie in kürzester Frist zum hundertzweiten Stockwerk in eine Höhe von 380 Metern emporhebt. Merken Sie sich schließlich in Ihrem ureigenen Interesse, daß Sie sich in jedem englischen Fahrstuhl mit dem Hut auf dem Kopf gesellschaftlich ruinieren.


In Wartezimmern herrscht stets eine eigenartige Atmosphäre. Wenn wir in das Wartezimmer einer Arzt-oder Zahnarztpraxis treten, empfängt uns zumeist tiefes Schweigen. Unser Gruß wird nur leise und fast zögernd erwidert. Jeder ist mit seinen Gedanken beschäftigt, blättert zerstreut in den ausgelegten und meist unansehnlichen Zeitschriften, die ausnahmslos die Spuren der Nervosität jener tragen, die da vor uns Ablenkung von großen Sorgen und kleinen Kümmernissen suchten – und nicht immer fanden. Unterhaltungen werden, wenn überhaupt, nur flüsternd geführt. Es scheint, als fürchte jeder ein lautes Wort angesichts der kommenden Entscheidung. Der tatsächliche physische Schmerz und die unbestimmte Angst vor der noch unbekannten ärztlichen Offenbarung legen sich lähmend über den Kreis der Anwesenden.

Tragen wir dieser Stimmung Rechnung. Versuchen wir nicht, uns zum Mittelpunkt zu machen, indem wir polternd ein Gespräch erzwingen und gar von uns und unseren Sorgen und Leiden erzählen. Die hier Versammelten haben mit sich selbst genug zu tun und wollen zumeist in Ruhe gelassen werden.

Das einzige, was wir tun dürfen, ist, Verzweifelten ein wenig Mut zuzusprechen, wenn ihre Nerven zu versagen drohen. Und wenn jemand nach uns kommt, der offensichtlich von Schmerzen gepeinigt wird, dann lassen wir ihm den Vortritt, sofern unser Zustand das gestattet.

[247] Keinesfalls aber beginnen wir, wenn wir von den Leiden anderer Kenntnis erhalten sollten, aus unserer Erfahrung zu berichten und womöglich weitschweifig auszuführen, daß gerade in unserem engsten Bekanntenkreis ein ähnlicher Fall sehr schlimm ausgegangen sei, daß überhaupt die Medizin in vielen Dingen noch machtlos wäre, und was der Taktlosigkeiten mehr sind. Wer in einem Wartezimmer schon ein Gespräch beginnen will, sollte dies nur tun, wenn er von der Natur mit der Gabe des Humors beschenkt wurde.

Sonst aber wird uns jeder Anwesende dankbar sein, wenn wir uns nach freundlichem Gruß ruhig niedersetzen und uns mit uns selbst beschäftigen. Zu diesem Zwecke liegen in jedem Wartezimmer Zeitschriftenmappen aus, die unserer Ablenkung dienen sollen. Wir behandeln sie sorgfältig, berücksichtigen, daß sie zumeist Leihgut sind, und reißen oder schneiden die uns interessierenden Artikel und Inserate auf keinen Fall aus.

Und wenn ein älterer Patient nach der Behandlung noch einmal das Wartezimmer betritt, um seine Garderobe zu holen, dann wird er es nicht selten dankbar empfinden, wenn wir ihm in den Mantel helfen und, vielleicht, zum Abschied alles Gute wünschen.

Grundsätzlich sollte in einem ärztlichen oder zahnärztlichen Wartezimmer nicht geraucht werden, auch wenn auf dem Tisch ein Aschenbecher steht und man selbst nur einen gebrochenen Daumen hat. Wer sich elend fühlt und ernsthafte Beschwerden hat, wird für diese selbstverständliche Rücksichtnahme dankbar sein.


Vor Gericht: »Herr Vorsitzender!« Natürlich hoffen wir, daß jedem Leser das Auftreten vor Gericht erspart bleiben möge. Angenehm ist es bekanntlich in keinem Falle. Dennoch kann man nie wissen, ob wir nicht eines Tages zumindest als Zeuge vor jene Schranken zitiert werden, hinter denen Recht gesprochen wird.

Das Gerichtswesen kennt – je nach Größe und Schwere eines Zivil- oder strafrechtlichen Falles – Amtsgerichte, Landgerichte, Oberlandesgerichte und als höchste Instanz den Bundesgerichtshof.

Dem Amtsgericht steht ein Amtsgerichtsrat als Einzelrichter vor.

Das Landgericht hat mehrere Abteilungen, sogenannte Kammern, an deren Spitze jeweils ein Landgerichtsdirektor steht, dem zwei Landgerichtsräte beisitzen.

Das Oberlandesgericht ist in Senate eingeteilt, die von Senatspräsidenten geleitet werden. Jeder Senatspräsident hat als Beisitzer zwei Oberlandesgerichtsräte. [248] An der Spitze des Bundesgerichtshofes, des höchsten deutschen Gerichtes, steht der »Präsident des Bundesgerichtshofes«, dem mehrere Bundesgerichtsräte beigegeben sind.

In den Strafkammern bzw. Strafsenaten der Land-und Oberlandesgerichte sitzen neben den Berufsrichtern auch Laienrichter, sogenannte Schöffen, als Beisitzer.

Wer als Zeuge vor Gericht steht, sei sich der großen Verantwortung bewußt, die sich mit seiner Aussage verbindet. Diese Aussage entscheidet möglicherweise über Freiheit oder Unfreiheit eines Menschen. Sie trägt aber gegebenenfalls auch dazu bei, daß eine Straftat ihre gerechte Sühne findet. Jedes Gericht ist darum bemüht, den wahren Sachverhalt ausfindig zu machen und nach ihm seine Entscheidung zu fällen. Hierzu bedarf es der Zeugenaussagen, die in jedem Falle sachlich sein müssen und nur Tatsachen, nicht aber Vermutungen enthalten dürfen. Ein Zeuge erfüllt seine verantwortungsvolle Aufgabe nur dann korrekt, wenn er seine Aussage auf tatsächliche Wahrnehmungen beschränkt, nichts hinzufügt und nichts fortläßt. Die Eidesformel bringt diese Verpflichtung klar zum Ausdruck.

Im übrigen ist jedes Gericht eine Stätte der Würde, der wir durch schlichte, unauffällige, korrekte Kleidung ebenso Rechnung tragen wie durch ruhiges, ernstes und höfliches Auftreten.

Gerichtliche Aussagen bringen uns mit dem Vorsitzenden des jeweiligen Gerichtes, dem eigenen und dem gegnerischen Rechtsanwalt zusammen. Rechtsanwälte werden mit »Herr Rechtsanwalt« angesprochen. Dagegen ist es nicht üblich, wenn auch keineswegs falsch, den Gerichtsvorsitzenden mit seinem offiziellen Amtstitel anzureden. Wir sagen also nicht »Herr Amtsgerichtsrat« oder »Herr Senatspräsident«, sondern nur »Herr Vorsitzender«, was in jedem Fall korrekt ist.

Vor Strafgerichten vertritt ein Staatsanwalt die öffentliche Anklagebehörde. Er wird »Herr Staatsanwalt« tituliert.

Wir selbst werden vor den Schranken des Gerichtes als Zeuge auch nicht mit unserem Titel, sondern mit »Herr Zeuge« angesprochen. (Sollten wir allerdings Angeklagter sein, dann fiele das »Herr« weg.)

Neben den Zivil- und Strafgerichten gibt es noch die Arbeitsgerichte und die Landesarbeitsgerichte, die Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern regeln. An ihrer Spitze stehen Arbeitsgerichtsräte bzw. Landesarbeitsgerichtsräte, die im Verhandlungsverlauf ebenfalls mit »Herr Vorsitzender« angesprochen werden.


[249] Rund um Räder – mit und ohne Motor


O diese Radfahrer! Vor rund hundert Jahren verstarb ein gewisser Freiherr von Drais, seines Zeichens Forstmeister. Wir erwähnen ihn hier nicht wegen der vermutlich zahlreichen Böcke, die er geschossen hat. Vielmehr gedenken wir seiner – mit einem weinenden und einem lachenden Auge – als Erfinder des Fahrrades, das denn anfänglich auch »Draisine« genannt wurde. Wenn er sich auf das edle Waidwerk beschränkt hätte, wäre dieser Appell an die Ritter der Pedale möglicherweise gar nicht notwendig geworden. Da Herr von Drais nun aber einmal das »Veloziped« erfand und heute überall unzählige dieser Fortbewegungsmittel dem großstädtischen Verkehr eine pikante Note der Unberechenbarkeit verleihen, kommen wir nicht darum herum, auch hier an ein paar Regeln zu erinnern, die konsequent mißachtet werden.

Wie so vieles ist natürlich auch die Behauptung, daß die Radfahrer an allem schuld seien, übertrieben. Fest steht jedoch, daß sie nur allzugern aus der Reihe tanzen – bildlich sowohl als auch wörtlich – und sämtliche anderen Verkehrsteilnehmer, vom Fußgänger bis zum LKW-Fahrer, laufend auf ihre Reaktionsfähigkeit hin prüfen. Das ist für den Geprüften unendlich viel aufregender als für den Prüfer. Und deshalb: Männer, Frauen und Kinder, die ihr auf euren Drahteseln durch die Gegend flitzt, hört auf die Mahnung und Bitte eines Menschen, der im Namen aller spricht, die da zu Fuß, am Steuer von Kraftfahrzeugen und auf den Führerständen von Straßenbahnen täglich und stündlich die nervlichen Opfer eurer Kapriolen zu werden drohen:

1. Auch ihr seid Verkehrsteilnehmer – als solche habt ihr im Straßenverkehr die gleichen Pflichten wie andere. Zu ihnen gehört nicht zuletzt die Rücksichtnahme.

2. Fahrt, sofern solche vorhanden, auf den Radfahrwegen. Ansonsten haltet euch scharf rechts.

3. Fahrt nicht zu mehreren nebeneinander. Es gibt – leider – in euren Reihen Artisten, die mühelos zu zweit den gesamten schnellen Motorverkehr blockieren.

4. Fahrt nicht im Fausto-Coppi-Tempo durch straßenüberquerende Fußgängergruppen, deren ältere Mitglieder vor euch ebenso erschrecken wie vor einem großen Lastzug.

5. Wie wäre es, wenn ihr eurer straßenverkehrsgesetzlich festgelegten Pflicht nachkommen und jeden Richtungswechsel durch rechtzeitiges Abwinken anzeigen wolltet? Ihr schont nicht nur die Nerven der Fußgänger und die Bremsbeläge der Kraftfahrer, sondern auch eure Gesundheit.

[250] 6. Wenn ihr an Kreuzungen mit Ampelregelung bei Rot halten müßt, dann tut das bitte vor dem Markierungsstrich. Die Fußgänger sind auf diesen schmalen Übergang angewiesen und haben zudem jeweils nur wenige Sekunden, in denen sie die Straße überschreiten können. Es ist nicht nur verkehrswidrig, sondern auch in höchstem Grade unhöflich und rücksichtslos, sechsreihig inmitten des Fußgängerüberweges zu stehen und die Passanten zu behindern.

7. Da wir gerade an Kreuzungen sind: Schlängelt euch nicht durch die haltenden Wagen, um euch dann in Linie zu einem Gliede, siebzehn Räder nebeneinander (das ist nicht übertrieben – ich habe kürzlich in Deutschlands zweitgrößter Stadt gezählt!), vor den vordersten Wagen aufzubauen. Wenn dann Grün kommt, vergeht eine Minute, ehe ihr euch untereinander geeinigt habt, wer rechts wie schnell fährt. Rechnet einmal nach: Bei 200 Ampelübergängen einer Großstadt, die zehn Stunden täglich in Betrieb sind und in der Stunde dreißigmal das Licht wechseln, vergehen an jedem Tag tausend Stunden, in denen sich der Verkehr nur zögernd und langsam aus dem Stand in Bewegung setzen kann, weil – ihr seinen Fluß behindert!

8. Vergeßt schließlich nicht, daß die Karosse auch des ältesten Automobils in jedem Falle härter ist als euer Schädel.

9. Erstaunlicherweise scheinen nicht alle von euch zu wissen, daß auch ein Fahrrad ein »Fahrzeug« ist. Das Sperrzeichen (weißes Feld mit rotem Rand), das bekanntlich »Gesperrt für Fahrzeuge aller Art« bedeutet, gilt auch für euch! Und wer als Fußgänger durch eine solchermaßen gekennzeichnete Straße geht, braucht nicht im geringsten damit zu rechnen, daß ihr euch über dieses Verbot großzügig hinwegsetzt.

10. Einbahnstraßen dürfen auch von Radfahrern nicht in entgegengesetzter Richtung durchfahren werden. Ein Verstoß kann euch teuer zu stehen kommen – wenn ihr nämlich karamboliert.

11. Vergeßt auch nicht, daß ihr nicht das geringste Recht habt, mit eurem Fahrrad auf dem Bürgersteig zu fahren. Der Gehweg heißt nicht so, weil dort gefahren werden darf.

12. Seid auch ihr »Kavaliere an der Lenkstange«. Die »Zebrastreifen«, jene Fußübergänge, auf denen der Fußgänger recht hat, verpflichten auch euch zur Vorsicht und notfalls zum Anhalten.

13. Wenn euer Drahtesel an sich auch ein technisch sehr einfaches und unkompliziertes Möbel ist, muß er doch eine Anzahl bestimmter Voraussetzungen erfüllen, wenn er verkehrssicher sein soll: Zwei gut funktionierende Bremsen, eine intakte Lichtanlage, eine Klingel und einen gut leuchtenden Rückstrahler in vorschriftsmäßiger Höhe.

[251] Bemüht also auch ihr euch, liebe Freunde, euch einzuordnen in die große Gemeinschaft derer, die sich da vorgenommen haben, Rücksicht zu nehmen und einander mit dieser Rücksichtnahme das Leben ein wenig zu erleichtern. Und denkt stets daran, daß man auch dann ein vollendeter Kavalier sein kann, wenn man statt eines Achtzylinders nur ein Fahrrad fährt.


Wir »rollern«! Seit die Italiener den Motorroller schufen, sind erst wenige Jahre vergangen. Trotzdem hat sich dieses praktische Fahrzeug zumindest die westliche Hälfte unseres Kontinents bereits erobern können. Und es ist aus dem Straßenbild nicht mehr


B. In der Öffentlichkeit

fortzudenken. Die führenden Herstellerfirmen haben rasch erkannt, daß mit der Schaffung dieses Vehikels einem echten Bedürfnis weitester Kreise Rechnung getragen wurde, und auf seine Verbesserung größte Aufmerksamkeit verwendet.

Insbesondere die Damenwelt hat diesem kleinen, sparsamen Motorfahrzeug rasch ihre Sympathien geschenkt. Es hat neben seinen niedrigen Betriebskosten zwei große Vorzüge: Es ist einfach in seiner technischen Handhabung, erfordert [252] also keine so »sportliche Hand« wie etwa ein Motorrad und schützt dank seiner besonderen Bauweise auch bei feuchter Straße die Kleidung vor Spritzern, macht also, wenigstens im Stadtverkehr, keine besondere Sportbekleidung notwendig. Hinzu kommt die Zuverlässigkeit des kleinen Zweitaktmotors mit seiner geringen Störanfälligkeit, die dafür garantiert, daß auch die technisch unbegabteste Eva stets ihr Ziel erreicht, selbst wenn sie die Zündkerze nicht vom Reifenventil unterscheiden kann.

Wie bei jedem Fahrzeug gehört auch auf dem Motorroller die Beachtung der Verkehrsvorschriften zu den juristischen, die Einhaltung der bereits bei den Radfahrern besprochenen Höflichkeitsregeln gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern zu den menschlichen Pflichten.

Die Bekleidung soll dem Charakter dieser Fortbewegung entsprechen, also sportlichen Einschlag haben. Wenn wir vorhin sagten, daß der Motorroller als »sauberes Gefährt« keine besondere Sportbekleidung notwendig mache, so liegt darin kein Widerspruch. Denn bei Sportbekleidung denken wir an Kombination, während unter sportlicher Bekleidung jene verstanden sein will, die wir auch sonst am Tage auf der Straße tragen. Damen werden also das sportliche Kostüm, vielleicht sogar aus Wildleder, oder Rock und Bluse mit einem Mantel darüber, vielleicht auch lange Hosen tragen. Zu diesen Hosen oder auch zum sportlichen Rock passen auf keinen Fall Schuhe mit hohen Absätzen! Sie sind auf dem Roller nicht nur ein fürchterlicher Stilbruch, sondern auch maßlos unpraktisch. Wenn Sie nämlich plötzlich in die Bremse steigen müssen, dann geht das mit Trotteurs wesentlich besser und sicherer als mit hochhackigen Pumps.

Die Füße stecken also in sportlichen Schuhen, während auf dem Kopf – keine freche Kappe thront! (Sie werden gleich sehen, warum, meine Damen!) Und schon gar nicht ein eleganter Hut, womöglich mit kecker Feder, von Schleiern ganz zu schweigen. Meine Damen – bitte hören Sie auf den Rat eines Mannes, der es gut mit Ihnen meint: Machen Sie sich die Tatsache zunutze, daß Sturzhelme heute nicht mehr drückende, unelegante stählerne Monstren sind, sondern sehr zweckmäßige, in allen Farben erhältliche federleichte Kopfbedeckungen, die Ihr reizendes Köpfchen mit ziemlicher Sicherheit vor Beschädigungen schützen, wenn Sie einmal die Balance verlieren sollten oder andere Sie anfahren! Und wenn Sie am Ziel Ihrer Fahrt angelangt sind, dann nehmen Sie den Sturzhelm ab und setzen jenes kecke Mützchen auf, von dem ich Ihnen so sehr abgeraten habe.

Und auch Sie, meine Herren, sollten diesen Rat beherzigen. Vergessen Sie nie, daß Sie auf dem Motorroller nicht jenen Meter Kühlerhaube vor sich haben, der bei einem Zusammenprall in einem Automobil den Stoß eventuell noch mildern könnte. Wenn es bei Ihnen scheppert, fliegen Sie in hohem Bogen mit dem Kopf [253] voran über Ihre Maschine. Und wenn Sie nichts anderes überzeugt, dann lesen Sie die Unfallstatistik. Der erschütternd hohe Anteil der Motorradfahrer und -roller an der Todesquote wird Ihnen bestimmt zu denken geben.

Lange war man sich in Gesetzgeberkreisen nicht darüber einig, ob man dem Sozius oder der Sozia das Sitzen im Damenreitsitz gestatten sollte. Tatsache ist, daß diese Art, auf dem Soziussattel zu sitzen, ladyliker ist und gefälliger aussieht. Ebenso steht aber fest, daß sie weniger Halt bietet und daher sowohl vom Fahrer als auch von der Sozia vollendete Maschinen-und Körperbeherrschung erfordert. Außerdem ermüdet sie auf langen Strecken erheblich. Diese Art, seitlich auf dem Soziussitz zu sitzen, ist bei uns mittler weile verboten worden. Damen, die mit ihrem Partner eine ausgedehnte Wochenendtour oder gar Ferienreise unternehmen, werden also doch gut daran tun, in bewährter Manier rittlings auf dem Roller zu sitzen.

Wenn Sie übrigens, meine Damen, eines Tages Lust haben sollten, selbst den Lenker in die Hand zu nehmen und Ihren Partner auf den Soziussitz zu verbannen, dann berücksichtigen Sie rechtzeitig den zumeist erheblichen Unterschied zwischen Ihrem und eines Mannes Körpergewicht. Wenn Sie selbst mit Ihren knapp einhundert Pfund im Schwerpunkt sitzen, Ihr Partner aber mit fast doppeltem Gewicht hinter diesem Schwerpunkt hockt, dann ändert das die Straßenlage so erheblich, daß Ihnen in einer schneidig genommenen Kurve möglicherweise Hören und Sehen vergeht. Allzu leicht kann dann aus dem Wochenendausflug eine völlig unbeabsichtigte Rutschpartie werden.

Wie wäre es für derartige Zwecke mit der »kleinen Hochzeitskutsche«?

Ich meine einen Roller mit Seitenwagen. Die Sozia sitzt bequemer als auf der Solomaschine. Auch für Gepäck ist mehr Platz. Und das Gespann hat immerhin den Vorteil, auf drei Rädern zu stehen, so daß die Notwendigkeit der Balance fortfällt. Man gibt ein paar Prozent der Höchstgeschwindigkeit auf, gewinnt dafür aber – übrigens für wenig Geld – ein erhebliches Maß an Bequemlichkeit.

Auch an die Motorrollerbesitzer sei trotz ihrer verlockenden Beweglichkeit hier die herzliche Bitte gerichtet: Nehmt Rücksicht! Freut euch, daß euch eure Brieftasche und die fortschrittliche Technik eine so vergnügliche, bequeme und saubere Fortbewegung ermöglichen. Diese Freude wird es euch leicht machen, jenen anderen, die zu Fuß gehen müssen, ihr langsameres Leben nicht zu erschweren. Fahrt nicht mit voller Geschwindigkeit durch Pfützen. Auch wenn ihr damit nur andere beschmutzt. Ganz abgesehen davon, daß es strafbar ist und ihr regreßpflichtig gemacht werden könnt. Erzwingt euch nicht freie Bahn durch dauerndes Hupen! Die Hupe ist ausschließlich für Notfälle vorgesehen. Ein guter Fahrer hupt am Tage kaum und nachts gar nicht.

Laßt euren Roller in Wohngegenden nachts nicht vor dem Haus laufen. Daß ihr [254] noch munter seid, berechtigt euch nicht, die Nachtruhe anderer mutwillig zu stören. Mit einem Wort: Benehmt euch so formvollendet, wie es die Proportionen eures Rollers sind.


Motorräder sind auch Fahrzeuge! Es gibt Leute, die das bestreiten und statt dessen behaupten, Motorräder seien eine Erfindung Beelzebubs. Sie stützen sich bei dieser Theorie auf die Tatsache, daß sie täglich mindestens zehnmal vor einem Rasenden zur Seite springen müssen, ebensooft in der Nacht von ihrem Geknatter geweckt werden, und verweisen im übrigen auf den hohen Anteil, den die Gilde der Motorradfahrer an den tödlichen Verkehrsunfällen hat. Sie haben natürlich bis zu einem gewissen Grade recht. Denn leider gibt es eine nicht geringe Anzahl von Motorradfahrern – zumeist sind sie sehr jung –, denen das Bewußtsein, mit einer kleinen Drehung der rechten Hand ein bis drei Dutzend Pferdestärken entfesseln zu können, jedes Gefühl für Rücksichtnahme auf die Umwelt raubt. So packt sie der Rausch der Geschwindigkeit, dem sie nur allzu leicht zum Opfer fallen – und mit ihnen noch andere.

Wer überlegt sich auch schon, wenn er knapp 18 Jahre alt ist, daß er bei einer Geschwindigkeit von 80 Stundenkilometern 22 Meter in der Sekunde zurücklegt! In einer einzigen Sekunde, die sicherlich so mancher gerade benötigt, um bei plötzlich auftauchender Gefahr überhaupt zu reagieren. Doch selbst, wenn seine Reaktionszeit ungewöhnlich kurz ist, also bei 0,5 Sekunden liegt, legt das Fahrzeug noch elf Meter zurück, ehe der Bremsvorgang eingeleitet wird. Zu dieser Strecke von 11 Metern kommt dann noch der eigentliche Bremsweg hinzu, der sich nach der Geschwindigkeit richtet. Bei 80 km/h beträgt er rund 64 Meter! Das heißt also, daß ein Kraftfahrer, der bei einer Geschwindigkeit von 80 km/h ein Hindernis er blickt, auch bei der geringen Reaktionszeit von 0,5 Sekunden sein Fahrzeug erst nach 75 Metern zum Stehen bringt – und auch das nur, wenn die Reifen haftfähig sind und die Straße trocken ist! Merkt euch diese Zahlen, liebe Freunde der gebändigten PS! Merkt euch darüber hinaus, daß der Bremsweg im Quadrat der Geschwindigkeit wächst – wenn ihr »120 Sachen« drauf habt, dann beträgt er bereits 161 Meter (144 Meter plus 17 Meter)! Das ist ein ziemliches Stück, und die meisten Hindernisse tauchen auf wesentlich kürzere Entfernung auf.

Was das mit Etikette zu tun hätte, meint ihr?

Sehr viel, liebe junge Freunde! Wenn ihr nämlich, modernen Zauberlehrlingen gleich, euer temperamentvolles Stahlroß reitet, in dem zahlreiche Pferdestärken darauf warten, entfesselt zu werden, dann kann es nur allzu leicht passieren, daß ihr die Geister, die ihr rieft, nicht mehr rechtzeitig zu bändigen vermögt. Und dann bringt ihr nicht nur euch in Gefahr – das könnte man euch vielleicht nicht einmal verbieten –, sondern auch andere, deren Sinn noch gar nicht nach Paradies[255] steht. Die noch gern diverse Jährchen auf der schönen Mutter Erde zubringen möchten, in Ruhe und Beschaulichkeit, die ihr ihnen belassen solltet!

Und deshalb genießt das bezaubernde Gefühl, Herr über die Maschine zu sein. Gebt euch getrost dann und wann dem Rausch der Losgelöstheit hin – aber nur, wenn ihr andere nicht gefährdet! Bleibt immer Herr, über die Maschine und mehr noch, über euch! Death is so permanent!

Ich hoffe, wir sind uns darüber klargeworden, daß das zweifellos Beglückende einer Motorradfahrt durch Sommer und Sonne nicht nur eine reizvolle Verbindung von Naturgenuß und technischem Erlebnis mit sich bringt, sondern zugleich auch eine Mahnung ist zur Rücksichtnahme auf die anderen. Vergessen wir nicht, daß es außer uns auch Leute gibt, denen das Hämmern der Kolben in den Zylindern nicht Musik, sondern Lärm bedeutet, störenden Lärm. Lassen wir ihnen ihren Frieden, indem wir darauf verzichten, jeden einsamen Herrgottswinkel motorisiert zu erforschen. Es gibt noch immer Fleckchen, in denen selbst ein kopfgesteuertes Gedicht aus Chrom und Leichtmetall eine Sünde wider die Schöpfung wäre.

Was die Motorradbekleidung angeht, so sollte auch sie den speziellen Anforderungen dieser Fortbewegung angepaßt sein. Außerordentlich praktisch ist die Kombination, die nicht nur warm hält, sondern auch die Kleidung gegen den unvermeidlichen Staub schützt. Einem Mann wird man vielleicht noch nachsehen, daß er zu einer kurzen Besorgung per Motorrad einfach seinen sportlichen Straßenanzug mit Trench- oder Dufflecoat darüber anbehält. Auf dem Kopf wird er ja – hoffentlich – nicht gerade einen Homburg tragen. Damen aber sollten nur in zweckmäßiger Motorradbekleidung auf den Soziussitz klettern. Ein elegantes Kostüm mit engem Rock, hochhackigen Schuhen und ein Schleierhut passen keinesfalls hierher!


Kavalier am Steuer des geliebten Autos! Das Auto ist heute kein Luxusfahrzeug mehr, sondern Mittel zum Zweck. Dieser Zweck kann verschieden sein. Er reicht von beruflich notwendiger Fortbewegung über die sonntägliche Erholung bis zur großen Urlaubsreise. Leider ist nun nicht allen, die da mit schlafwandlerischer Sicherheit am Steuerrad drehen, Gas geben und wegnehmen, kuppeln und bremsen, auch das in Fleisch und Blut übergegangen, was neben der technischen Beherrschung eines Wagens so gern vergessen wird: die Etikette rund um den Motor.

Wer mehrere Kilometermillionen am Lenker von Motorrädern, am Steuer ganz langsamer und ganz schneller Automobile und am Knüppel ganz kleiner und ganz großer Flugzeuge zurückgelegt hat, darf sich wohl gewisse Gedanken darüber machen, wie man auch hier das Leben reibungsloser ablaufen lassen könnte. Mehr als 25 Jahre unfallfreien Fahrens vermitteln gewisse Erkenntnisse. Ihre erschütterndste lautet zweifellos: Blitzender Chrom, Hochglanzlack und [256] Schweinslederhandschuhe machen noch keinen Kavalier am Steuer. Hierzu gehört wesentlich mehr – in erster Linie die Überwindung aller Versuchung, in die wir täglich geführt werden, seit aus dem ersten Automobil des Ingenieurs Karl Benz aus dem Jahre 1886 jene zuverlässigen Gebrauchsfahrzeuge wurden, die heute das Straßenbild beherrschen. Aus jener Zeit, da ein Automobil noch Luxus war, stammt die Bezeichnung »Herrenfahrer«. Sie hat sich bis zum heutigen Tage gehalten, wenn auch nicht immer mit Recht, denn keineswegs alle, die da fahren, sind auch Herren – leider. Wer offenen Auges durch die Straßen geht oder fährt, gewinnt den Eindruck, als führe die Berührung eines Steuerrades zu einem geistigen Kurzschluß, der einen Teil jener Nervenstränge lahmlegt, mit deren Hilfe normalerweise unser Handeln gegenüber der Mitwelt kontrolliert und in gesunde Bahnen gelenkt wird. Da fallen plötzlich Hemmungen ab, und aus Männern, die man gemeinhin für distinguiert und wohlerzogen gehalten hätte, werden rücksichtslose Rüpel, die ihrem Mundwerk ebenso die Zügel schießen lassen wie den Pferdestärken ihres Wagens.

Und es ist bei all dem nur ein Glück, daß auf jeden »Flegel am Volant« ein Vernünftiger kommt, der mit der Weisheit des Klügeren nachgibt, das Zucken in den Handflächen mannhaft unterdrückt und sich darauf beschränkt, sich sein Teil zu denken, statt ebenso unflätig zurückzubrüllen.

Auch das Automobil hat seine Gesetze. Sie sind zum Teil geschrieben, teils aber auch nur in jenem Kodex verankert, den alle Menschen guten Benehmens freiwillig anerkennen. Und gut wollen wir uns immer benehmen – auch als Automobilisten, und gerade als solche.


Schon beim Ein- und Aussteigen fängt die Höflichkeit an. Soweit wir allein ein Auto besteigen oder verlassen, bezieht sich die Höflichkeit lediglich auf die Umwelt. Wer am Bürgersteig hält und die rechte Tür öffnet, wird darauf achten, daß man nicht Passanten belästigt. Er wird auch die Tür, die ja in den Bürgersteig hineinschwingt, sofort wieder schließen, da sie den ohnehin nicht übermäßigen Platz auf dem Bürgersteig weiterhin beschränkt. Wer nach links, also zur


B. In der Öffentlichkeit

[257] Fahrbahn hin aussteigt, achte auf den vorbeiflutenden Verkehr! Plötzliches Öffnen der linken Tür kann zu unliebsamen Karambolagen und schweren Verletzungen führen. In derartigen Fällen trägt stets der Haltende, nicht der Vorüberfahrende die Schuld.

Wer Fahrgäste hat, behandelt sie, vor allem sobald sie weiblichen Geschlechtes sind, entsprechend höflich und zuvorkommend. Als vollendeter Kavalier hilft man einer Dame oder einem älteren Herrn in den Wagen hinein und stützt sie auch beim Aussteigen, man wird also als erster den Wagen verlassen und als letzter einsteigen.

Insbesondere beim Einsteigen bedarf es hier einer gewissen Fixigkeit, wenn man beispielsweise den Wagen nur an der linken Seite aufschließen kann. Dann heißt es aufschließen, von innen die rechte Türverriegelung öffnen, rasch wieder aussteigen, um das Fahrzeug herumgehen, den Fahrgast einsteigen lassen und hinter ihm die Tür schließen. (Achtung: Mäntel und Kleider klemmen sich gern ein!) Von dieser höflichen Betreuung älterer und weiblicher Fahrgäste wollen wir grundsätzlich nur in ganz seltenen Ausnahmefällen abgehen, etwa, wenn wir aus verkehrstechnischen Gründen nur wenige Sekunden halten dürfen.


Es gibt auch so etwas wie eine Sitzordnung in Automobilen. Der Ehrenplatz für eine Dame ist der Platz neben dem »Herrenfahrer«. Wenn der Wagen von einem Chauffeur gesteuert wird, tritt an seine Stelle der rechte hintere Sitz. Grundsätzlich sollte man also der Dame den Platz neben dem Fahrer anbieten. Er hat fast ausnahmslos den Vorzug der größeren Bequemlichkeit. Höchstens große, viertürige Reiselimousinen haben hinten die gleiche Beinfreiheit wie auf den Vordersitzen. Wer zusammen mit einer Dame einen Wagen besteigt, wird die Dame zuerst einsteigen lassen, hinter ihr die Tür schließen, um den Wagen herumgehen und selbst von der anderen Seite einsteigen. Wenn diese »Technik« aus Gründen starken Verkehrs nicht möglich ist, dann steigt der Herr zuerst ein, setzt sich auf den linken Sitz und ist der Dame aus dem Wageninnern heraus behilflich. Inkorrekt wäre es, die Dame zuerst einsteigen zu lassen und dann über ihre Füße hinwegzuklettern. Und daß weder eine Dame noch ein älterer Herr oder ein »Höherstehender« links sitzen, versteht sich von selbst. Der Ehrenplatz ist und bleibt auf der rechten Seite.


Nehmen wir also an, wir hätten unsere Mitfahrer mit aller Höflichkeit formvollendet auf den ihnen zustehenden Plätzen untergebracht. Die Fahrt kann also beginnen.

Und noch während wir die Kupplung weich greifen lassen und behutsam aus der Reihe der anderen parkenden Wagen in den vorüberflutenden Verkehr einscheren, haben wir bereits das erstemal Gelegenheit, höflich zu sein. Wir überzeugen uns nämlich durch einen sorgfältigen Blick nach rückwärts davon, daß[258] niemand kommt, mit dem wir zusammenstoßen könnten. Der Winker allein genügt nicht! Die weitverbreitete Meinung, daß bloßes Abwinken ohne weiteres berechtige, sich in den vorbeiflutenden Verkehr einzuschleusen, ist irrig. Dieses Einschleusen darf erst dann erfolgen, wenn wir sicher sind, kein gerade vorüberfahrendes anderes Fahrzeug zu behindern. In jedem Fall hat der Fahrende vor dem Anfahrenden die Vorfahrt.

Nun rollen wir dahin. Die Tatsache, daß die Geschwindigkeitsbegrenzung teilweise aufgehoben ist, verleitet uns nicht zu übermäßigem Rasen. Nehmen wir uns stets vor, zu jenen 50 Prozent zu gehören, die da weise und lebensklug sind und immer mit der Unvollkommenheit anderer rechnen. Die eigene fahrerische Vollkommenheit mag noch so groß sein – ein einziger Esel am anderen Steuer kann sie in Bruchteilen von Sekunden zunichte machen.

Natürlich nähern wir uns einer vorfahrtsberechtigten Straße mit aller erdenklichen Vorsicht. Aber nicht nur das – auch wenn wir selbst Vorfahrt haben, wäre es erfahrungsgemäß falsch, dieser Tatsache allzu blind zu vertrauen. Man weiß nie, ob nicht aus einer kleinen Nebenstraße plötzlich ein Optimist auftaucht, der sich einbildet, einen Privatvertrag mit dem lieben Gott zu haben. Diese Typen sind dichter gesät, als man glauben sollte. Die Unfallziffern beweisen es täglich aufs neue.

Wir halten uns bei mäßigem Tempo stets rechts. Andere durch beharrliches In-der-Mitte-Fahren am Überholen zu hindern, ist sowohl verkehrswidrig als auch rücksichtslos gegenüber der gesamten Umgebung, die vollkommen unnötig gestört wird, weil der Schnellere nunmehr nämlich mittels seiner Hupe um den Platz bitten muß, der ihm an und für sich ohnehin zustünde. Ebenso ungezogen ist es, das Überholtwerden durch plötzliche Temposteigerung verhindern zu wollen. Übrigens ist auch diese weitverbreitete Unsitte verboten.


Einem Fußgängerüberweg, der durch ein rotumrandetes Dreieck mit schwarzer Fußgängersilhouette darauf ebenso deutlich gekennzeichnet ist wie durch die Markierungslinien, die über die Fahrbahn laufen, nähern wir uns ganz langsam. Wir halten, wenn Fußgänger die Fahrbahn betreten wollen, und lassen sie passieren. Schüchternen älteren Personen sowie Müttern mit Kindern geben wir, falls sie zögern, beruhigende Winke. Keinesfalls aber brausen wir an diese Zebrastreifen heran, um dann unmittelbar davor mit quietschender Bremse zu halten! Kein Fußgänger vermag einem daherrasenden Wagen anzusehen, ob an seinem Steuer ein rücksichtsloser, unreifer Lausejunge oder ein Mann sitzt, der um die Güte der Bremsbeläge seines Wagens weiß.

An Straßenbahnhaltestellen hält der wohlerzogene Kraftfahrer an, wenn Fahrgäste ein- und aussteigen wollen. Auch hier erzwingen sich nur Flegel mittels ihrer Hupe die Durchfahrt.

[259] Bei nassem Wetter rasen wir nicht durch Pfützen, wenn die dabei unvermeidlichen Spritzer möglicherweise Passanten beschmutzen könnten. Ein solcher Fahrstil beweist nicht nur mangelnde Lebensart, sondern macht juristisch auch ersatzpflichtig.

Auf staubiger Landstraße und in Dörfern macht es durchaus keinen schlechten Eindruck, wenn wir beim Passieren von Fußgängern das Tempo mindern und so die Staubentwicklung auf ein Mindestmaß beschränken.


Beim Überholen merken wir uns grundsätzlich, daß zu diesem Manöver ein gewisser Fahrtüberschuß notwendig ist. Gefährlich und falsch ist es, an das zu überholende Fahrzeug dicht aufzuschließen, dann Gas wegzunehmen, nach links zu gehen, die entgegengesetzte Fahrbahn auf Passierbarkeit hin zu prüfen, dann wieder Gas zu geben und nun zu überholen. Richtig überholt man, indem man rechtzeitig, d.h. etwa in 50 Meter Abstand, langsam nach links geht (nicht ohne einen Blick in den eigenen Rückspiegel!) und dann zügig vorfährt. Auf schmalen Straßen, die häufig eine runde Fahrbahn haben, fahren Lastzüge zumeist auf Straßenmitte. Hier muß rechtzeitig Signal gegeben werden, da man von einem Kapitän der Landstraße zwar erwarten kann, daß er uns vorbeiläßt, nicht aber, daß er sein riesiges »Geschütz« in Sekundenschnelle nach rechts reißt.


Unübersichtliche Kurven darf man weder schneiden noch in ihnen überholen. Und das Überholen eines Fahrzeuges in einer blinden Rechtskurve ist unverantwortliches Spiel mit dem Tode! Zum Kurvenfahren an sich sei noch bemerkt, daß nur Laien und Anfänger die Geschwindigkeit in der Kurve mindern. Der versierte Autofahrer hat das Gas vorher weggenommen und, falls das noch nicht reichte, die Spitze gegebenenfalls weggeschaltet und nur in Notfällen weggebremst. Im gleichen Augenblick, da die Vorderräder eingeschlagen werden, hat der Fuß auf dem Bremspedal nichts mehr zu suchen, wenn man nicht ins Schleudern geraten und aus der Kurve getragen werden will! Und spätestens im Kurvenscheitelpunkt beschleunigen wir wieder. Das alles natürlich in ganz mäßigen, der Straßenneigung, dem Kurvenradius und dem eigenen Fahrkönnen angepaßten Geschwindigkeitsgrenzen. Kurven im »Powerslide«-Rennstil zu fahren, wollen wir den Meistern überlassen.

Mit einbrechender Dunkelheit erhöhen sich unsere Kavalierspflichten um eine weitere. Das korrekte Spiel mit den Scheinwerfern will nämlich gelernt sein. Wir setzen voraus, daß unsere Lichtanlage in Ordnung ist, die Lampen auf beiden Seiten vorschriftsmäßig brennen, d.h. beiderseits entweder Standlicht, Ab-oder Aufblendstellung miteinander gekoppelt sind und die Scheinwerfer selbst nicht zu hoch stehen. Vielleicht haben wir auch zwei Nebellampen montiert, bei denen wir uns jedoch merken wollen, daß sie nur bei Nebel eingeschaltet werden und nicht mit der Aufblendstellung der Scheinwerfer gekoppelt sein dürfen! [260] Und daß am Armaturenbrett das blaue Signallämpchen für die aufgeblendeten Scheinwerfer intakt ist.


So gerüstet begeben wir uns also auf Nachtfahrt. Das Spiel mit dem Fußschaltern – bei manchen Fahrzeugen ist es auch die Hand – kann beginnen. Es ist natürlich kein Spiel, sondern erfordert Korrektheit, Disziplin und Rücksichtnahme. Nichts ist alberner als der so beliebte Standpunkt, der andere müsse zuerst abblenden. Gewöhnlich blendet jeder höfliche Kraftfahrer im gleichen Augenblick ab, da vor ihm die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Fahrzeuges sichtbar werden. Nun kann es sein, daß man auf schnurgerader, kilometerlanger Straße einander bereits auf so große Entfernung ansichtig wird, daß ein Abblenden noch nicht notwendig ist, da noch keine Blendwirkung eintritt. Dann kann man noch ein wenig warten. Sobald jedoch der eine Fahrer abblendet, hat ihm der andere unmittelbar zu folgen! Denn das Abblenden des einen ist ja nichts anderes als die optische Bitte an den anderen, ebenfalls die Scheinwerfer auf klein zu schalten. Sie heißt auf gut deutsch: »Du blendest mich, bitte, blende ab!« (Es gibt nun Leute, deren Augen nicht blendempfindlich sind – einige von ihnen neigen inkorrekterweise dazu, grundsätzlich überhaupt nicht abzublenden. In diesem Zusammenhang sei auf eine interessante gerichtliche Entscheidung hingewiesen. Wer von einem Entgegenkommenden trotz mehrfachen Auf- und Abblendens laufend weiter angeblendet wird, hat dennoch kein Recht, nun auch seinerseits aufgeblendet weiterzufahren! Er macht sich strafbar, auch wenn man ihn im Hinblick auf die Rücksichtslosigkeit des anderen moralisch freisprechen möchte.)

Wer nachts überholen will, nähert sich dem zu Überholenden abgeblendet und blendet erst wieder auf, wenn er ihn passiert hat. Und dann blendet der Überholte, sofern er höflich ist, seinerseits eine kleine Weile ab!


Noch ein Wort zur Benutzung der Autobahn. Man sollte meinen, daß auf diesen breiten, übersichtlichen Schnellverkehrsstraßen mit ihren genau markierten doppelten Fahrbahnen kaum etwas passieren könne. Und doch ereignen sich gerade dort laufend Unfälle, die fast ausnahmslos schwerer Natur sind, weil hier stets hohe Geschwindigkeiten gefahren werden. Daß auf Autobahnen überhaupt etwas passieren kann, ist ein erschreckender Beweis für die menschliche Unzulänglichkeit. Die Ursachen liegen in einer bedenklichen Mischung aus Sorglosigkeit, Rücksichtslosigkeit und Unkenntnis der für Autobahnen gültigen Bestimmungen.

Bekanntlich hat die Autobahn – mit wenigen Ausnahmen – für jede Richtung eine eigene Fahrbahn. Diese wiederum ist durch den Mittelstreifen in eine rechte und eine linke Seite geteilt. Die rechte Seite dient dem normalen Fahren, die linke dem Überholen. Eine der häufigsten Unfallursachen ist der allzu sorglose Wechsel von rechts nach links. Die überaus meisten Fahrer stehen auf dem völlig [261] falschen Standpunkt, daß das Abwinken nach links ohne weiteres zum Fahrbahnwechsel berechtigte. Liebe Freunde am Steuer – das ist ein verhängnisvoller Irrtum! Stets hat die linke als die schnellere Bahn die Vorfahrt! Und ihr seid nicht berechtigt, einem sich euch links nähernden schnelleren Fahrzeug, das euch überholen will, mit gezogenem Winker vor den Kühler zu scheren in der Meinung, erst kämt ihr, weil ihr eurerseits auch gerade überholen wollt. Diese Unsitte hat schon zu unendlich vielen schweren Unfällen geführt. Und es muß leider gesagt werden, daß gerade die Fernfahrer, die Kapitäne der Landstraße, in erschreckendem Umfange dieser Mischung aus Unkenntnis, Leichtsinn und Rücksichtslosigkeit erliegen. Vermutlich im Bewußtsein der Widerstandskraft ihrer Riesenkähne.

Ein Oberlandesgericht hat vor wenigen Wochen eindeutig entschieden, daß in einem derartigen Fall der Überholte, nicht der Überholende die Schuld trägt. Es ist Sache des Rechtsfahrenden, sich vor dem Wechsel auf die Überholungsbahn hundertprozentig davon zu überzeugen, daß er nicht gerade selbst überholt wird.


Auch den Mitfahrern wären einige Ratschläge zu geben. Zunächst einmal: Mitfahren heißt nicht Mit-Steuern! Sosehr ich persönliches Verständnis dafür habe, daß einem alten Hasen sämtliche Hüte hochgehen, wenn ihn der Zufall an die Seite eines »Uhrmachers« spielt – so darf ich doch sagen: auch hier Beherrschung! Zudem ist es ein Phänomen, dessen Klärung bis zum heutigen Tage noch nicht gelungen ist, daß es unter der Sonne nicht einen einzigen Autofahrer gibt, der zugäbe, daß er noch ein wenig unsicher oder zumindest noch nicht sehr routiniert sei, woraus eindeutig abzuleiten ist, daß ein neben dem Steuer erteilter Ratschlag – und käme er auch aus noch so berufenem Munde – ohnehin nie auf fruchtbaren Boden fallen wird. Und deshalb nochmals: Mitfahrer – schweigt oder steigt aus! Ich habe meine Bekanntschaft in sichere und unsichere Kandidaten eingeteilt. Bei den sicheren steige ich ein, rede aber nicht dazwischen – bei den unsicheren schütze ich Migräne vor und bleibe zu Hause, fahre allein oder benutze die Straßenbahn.

Das Schweigen bezieht sich natürlich nur auf fahrtechnische Ratschläge. Ansonsten wird so mancher Fahrer, vor allem auf langen Strecken, dankbar für Unterhaltung sein, die keine Müdigkeit aufkommen läßt. Und ein schlafender Fahrgast macht nicht jedem Fahrer Spaß.

Wer als Gast in einem fremden Auto fährt, tut nach Möglichkeit nicht so, als sei es sein eigenes. Wer jemanden mitnimmt, verliert bald die Freude an seiner Gefälligkeit, wenn er dafür bestraft wird – weil der Gast vielleicht das geschlossene Fenster herunterkurbelt, ein offenes Fenster schließt, Apfelsinenschalen, Papier und Asche auf den Boden streut und ähnliches mehr. Jeder Gast wird nur dann wieder eingeladen werden, wenn er sich seinem Fahrtgastgeber und dessen Gewohnheiten anpaßt und zumindest höflich fragt, ob er ein Fenster [262] öffnen oder schließen oder ob er rauchen dürfe. Wenig beliebt sind auch jene Ausflugsgäste, die so viel Gepäck mit sich führen, daß der eigentliche Besitzer in Schwierigkeiten gerät, wenn er seine Zahnbürste unterbringen will.


Noch ein kleiner, aber wichtiger Hinweis juristischer Art: Wer Dritte zu Gefälligkeitsfahrten mitnimmt, ohne eine Insassenversicherung abgeschlossen zu haben, muß gewärtig sein, daß ihn seine Fahrgäste im Falle eines Unglückes, bei dem sie Schaden erleiden, haftpflichtig machen. Gegen diesen Haftanspruch schützt auch kein am Armaturenbrett angebrachtes Schild mit der Aufschrift: »Mitfahrer, du fährst auf eigenes Risiko!« Sicheren Schutz bietet nur ein von den Fahrgästen vor Fahrtantritt unterschriebener Zettel etwa folgenden Wortlautes:

»Ich fahre in dem Kraftfahrzeug Nr. (pol. Kennzeichen) auf eigenes Risiko mit und verzichte auch für den Fall auf Schadenersatz, daß mir auf Grund eines leicht oder grob fahrlässigen Verhaltens des Fahrers etwas zustoßen sollte.«

Zum Schluß sei noch auf eine Unart des Fahrstils hingewiesen, die auch schon häufig Anlaß zu ernsten Unfällen war: das Fahren mit lässig auf den Fensterrahmen gelegtem linken Ellenbogen und zwei Fingern. Wer in hohem Tempo so fährt, beweist damit jedem alten Hasen, daß er nur wenig Ahnung von den zahllosen Unfallmöglichkeiten hat, die überall lauern. Der angewinkelte linke Arm mag zwar in seinem Besitzer das Bewußtsein unwiderstehlicher Eleganz und sportlicher Vollkommenheit erwecken, Tatsache ist, daß er bei plötzlicher Gefahr für Sekundenbruchteile als »Steuerarm« ausfällt. Steuern muß dann die Rechte allein, womit sie beispielsweise für die Betätigung der Handbremse (soweit diese rechts angebracht ist) zunächst einmal ebenfalls nicht zur Verfügung steht.


B. In der Öffentlichkeit

[263] Ganz zu schweigen von der Gefahr eines bei hoher Geschwindigkeit platzenden Vorderreifens! Wer mit hundert Stundenkilometern durch die Gegend fährt, die Linke leger im Fensterrahmen, die Rechte zärtlich um die ebenmäßigen Schultern seiner Begleiterin gelegt, und dann einen Vorderreifendefekt hat, dem bleibt möglicherweise nicht einmal mehr Zeit zu überlegen, ob die letzte Lebensversicherungsprämie rechtzeitig bezahlt wurde.

Ich bin mir darüber im klaren, daß ich mit diesen Ratschlägen, Hinweisen und Warnungen bei einem Teil der Leser vor tauben Ohren gepredigt habe. Und doch wäre ich bereits glücklich, wenn die vorstehenden Mahnungen helfen würden, wenigstens einen einzigen Unfall zu verhüten!

Dennoch wollen wir das Thema Kraftfahrzeug nicht allzu ernst beschließen. Neulich fuhr eine reizende junge Dame mit ihrem Wagen durch die Stadt, und plötzlich schepperte es. Der Wagen hatte ein paar Schrammen mehr, die entzückende Lenkerin sprang empört heraus, stürzte auf ihr Opfer und rief verzweifelt: »Ja, bitte – schläft denn hier alles? Sie sind nun schon der vierte, mit dem ich heute zusammenstoße!«

Und diese entwaffnende Empörung erinnert mich an den »Brief an eine Frau am Steuer«, den ein liebenswürdiger Ehemann seiner Frau schrieb.


Geliebte Frau,

Du weißt, ich muß Dich für einige Tage verlassen. Das wäre nach achtjähriger Ehe kein Grund für einen Brief. Dennoch will ich Dir rasch noch einige Zeilen schreiben, ist doch heute ein denkwürdiger Tag – für Dich, für mich und nicht zuletzt für unsere Umwelt.

Du sitzt nun hinter dem Steuer. Du entsinnst Dich sicherlich, daß meine im allgemeinen gesunde Gesichtsfarbe plötzlich ins Fahle hinüberzuwechseln drohte, als Du mir kürzlich eröffnetest, Du machtest nun ebenfalls Deinen Führerschein. Eigentlich sei es nur Formsache, sagtest Du, denn fahren könntest Du schon lange. Überhaupt: Fahren können eigentlich alle, wenn man ihnen glauben darf. Viele haben nur keinen Führerschein. Aus purer Nachlässigkeit. Zu ihnen gehörtest auch Du. Bis gestern.

Seit gestern bist Du mir nun auch auf dem Papier ebenbürtig. Du wirst, ich wette meinen Kopf gegen einen alten Strohhut, Bimbo aus der Garage holen, noch während mich mein Zug nach Norden trägt. Ob Du wohl bemerken wirst, daß ich ihn heute nacht in weiser Voraussicht rückwärts hineingefahren habe? Nicht, daß ich Deiner Fahrkunst mißtraute – ich bin nur von der Überlegung [264] ausgegangen, daß es Dir Freude machen müsse, die lockende und hindernislose Breite eines Kieswegs vor Augen zu haben, wenn Du das erstemal allein hinter das Steuer kletterst – statt einer wenige Zentimeter vor dem Kühler aufwachsenden Wand, die in einer derartigen Situation sehr wohl drohend und kalt zu wirken vermag.

Die einzelnen Blümchen, mit denen ich das Innere, vornehmlich das Armaturenbrett, geschmückt habe, sind mehr als eine bloße Huldigung an Deine nun für die Dauer einer ganzen Woche einsame Schönheit. Mit ihnen hat es eine besondere Bewandtnis. Doch muß ich da ein wenig zurückgreifen.

Ich entsinne mich noch deutlich jenes strahlenden Sommertages auf der Autobahn, an dem Du mir plötzlich erklärtest, mich ablösen zu wollen. Da ich (von Dir) gut erzogen bin, wechselten wir die Plätze.

Ich hätte vielleicht nicht lächeln dürfen, als Du zum Zwecke des Startens auf die Hupe drücktest. Und daß ich mich mißbilligend räusperte, als Du anschließend die Starterklappe mit verbissener Energie zum Anlasser ernennen wolltest, beweist höchstens meine nur sehr beschränkte Eignung zum Fahrlehrer. Dann brachst Du den Winkerschalter ab, und ich habe noch heute Dein entwaffnendes »Oh« im Ohr, mit dem Du kopfschüttelnd auf das kleine Stückchen Bakelit starrtest, so, als könntest Du solche Pfuscherarbeit nicht begreifen. Du sahst mich mit Deinen grünen Augen fragend an, worauf ich verlegen die Achseln zuckte, was Dich zu beruhigen schien. Vermutlich hast Du diese Bewegung als nachträgliche Entschuldigung für den Ankauf eines so wenig widerstandsfähigen Fahrzeuges gedeutet. Jedenfalls legtest Du das erste in ehrlichem Streben gewonnene Einzelteil in den Handschuhkasten, und ich fragte mich im stillen, ob es Dir wohl gelingen werde, eben jenes Kästchen in ähnlicher Manier ganz zu füllen.

Auch jetzt erbatest Du noch keine Assistenz. Ich hätte Dir ob dieses Stolzes die Hände küssen mögen! Statt dessen entdecktest Du einen kleinen Griff, an dem Du erstmals nicht zogst oder drücktest, nein – Du drehtest daran und erbrachtest damit erneut einen Beweis für das Vorhandensein des so häufig bezweifelten weiblichen Instinktes für Technik, denn es war die Uhr, die Du aufzogst. Auf Deiner Stirn standen nachdenkliche Falten, und ich flüsterte schüchtern: »Verzeih, Liebling, es ist nicht der Motor, den Du da durchdrehst ...«, worauf Du zornig in Deine Tasche griffst und die Schachtel mit den Zigaretten hervorholtest. Und dann geschah das Wunder. Der Motor sprang plötzlich an – denn Du drücktest nun lässig auf den Anlasser, weil Du glaubtest, es sei der Zigarrenanzünder.

Du weißt, daß ich vom ersten Tage an, da ich Dir gehorchen durfte, Deine herrlichen langen Haare bewundert habe. Um so ungeschickter von mir, just in diesem [265] Augenblick, da Deine Bemühungen so wunderbar belohnt wurden, etwas vom umgekehrt proportionalen Verhältnis zwischen Haarlänge und weiblicher Intelligenz zu murmeln. Sicherlich hättest Du Dir, wenn diese meine störende Bemerkung nicht gefallen wäre, auf Umwegen einige Hinweise auf gewisse Eigenheiten beim Schalten sportlicher Wagen geben lassen. So aber verzichtetest Du auf jeglichen Rat.

Dennoch warst Du entschlossen, loszufahren. Du schaltetest. Es hörte sich an, als habe man den Gang mit der Armbrust hineingeschossen. Des wehrlosen Metalles ganzer Jammer packte mich an. Das Getriebe, damals noch nicht synchronisiert, schrie in maßlosem Schmerz auf, als reiße ihm eine unbarmherzige Riesenfaust Zahn um Zahn aus. Und es war doch nur Deine lange, schlanke Hand. Nun legten sich Deine beiden kleinen Fäuste mit wahrhaft eisernem Griff um das Steuerrad, dann heulte der Motor auf, erstarb jedoch in gleicher Sekunde und winselte nur noch hilflos. Der Wagen sprang zögernd nach vorn und hoppelte dann in kurzen harten Sprüngen über die Bahn. Unter der Motorhaube ertönte ein Wimmern, das aus dem Inferno der danteschen Hölle zu kommen schien. Du aber hieltest das Steuer, grausam und gnadenlos. Zäh und ohne Herz bezwangst Du, eine moderne Amazone, jenes armselige Gehäuse mit seinen Zylindern und Ventilen, von dem Narren männlichen Geschlechtes behaupten, es lebe und fühle und habe sogar so etwas wie eine Seele.

Du hattest gesiegt. Wir waren angefahren. Im vierten Gang.

Als sich der Zeiger des Tachometers der Hundertkilometergrenze näherte, hieltest Du mir fordernd die Hand hin und sagtest kühl: »Zigarette!«. Ich dankte dem Himmel, der uns die Autobahn zu dieser Stunde in gnädiger Laune allein überlassen hatte. In der Ferne schimmerte eine lange Steigung, auf die ich nicht unbeträchtliche Hoffnungen setzte. Ich riet Dir, rechtzeitig zu schalten. Und entsinne mich deutlich, daß meine Stimme angesichts der nahen Rettung nicht einmal mehr zitterte. »Etwa bei siebzig«, schlug ich vor, »und selbstverständlich mit Zwischengas ...« Du nicktest versonnen zu diesem Vorschlag, doch ich bin heute davon überzeugt, Du hättest genau so genickt bei der Mitteilung, daß die Katze unseres Nachbarn unerwartet an den Folgen einer Blinddarmoperation verstorben sei.

Am Fuße des Berges geschah es dann. Du griffst abermals zu Deiner Lieblingswaffe, zu der Armbrust. Abermals bezwangst Du das laut protestierende Getriebe – unbeirrt von seinem gequälten Aufschrei. Hast Du mir eigentlich innerlich schon verziehen, daß mich in diesem Augenblick die Nerven verließen, daß ich mir in einem Anfall von grenzenlosem Mitleid, gepaart mit heiligem Zorn – eine gefährliche Mischung übrigens! – den Hut vom Kopf riß und aus dem Wagen warf, bei siebzig Stundenkilometern? Und die belegten Brote, die auf meinem Schoß lagen, hinterherfeuerte? Und einen Apfel – es war ein Boskop? [266] Du schienst von all dem wenig bemerkt zu haben, denn noch immer tratst Du den Gashebel alraunenhaft bis zum Bodenbrett durch. Doch in jedem Manne schlummert ein Faun. Ich grinste, zog mit kurzem Ruck den Zündschlüssel heraus und schmiß ihn hinterher. (Du wirst Dich vielleicht noch erinnern, daß ich geschlagene zwei Stunden suchen mußte, ehe ich ihn wiederfand.) Wir haben dann längere Zeit miteinander nur noch das Notwendigste besprochen.

Wie gesagt also – auch Du konntest im Prinzip schon lange Auto fahren. Nun aber wirst Du, durch ein amtliches Papier zu selbständigem Handeln ermächtigt, die Gelegenheit wahrnehmen, um Dich allein und unbeeinflußt von meiner irritierenden Gegenwart mit Bimbo unter Menschen zu begeben.

Laß mich Dir also noch einiges kurz ins Gedächtnis rufen. Es sind dies beileibe keine Ratschläge. Die brauchst Du nicht mehr, denn Du hast einen Führerschein. Nur so – ganz allgemein.

Der Wagen hat insgesamt fünf Gänge. Vier von ihnen dienen der Erreichung von Zielen, die vor Dir liegen. Zwischen diesen Zielen versteckt liegen zuweilen auch Krankenhäuser. Ein weiterer Gang vermittelt die Rückwärtsbewegung. Sein Name ist geeignet, bei optimistischen Naturen – zu denen Du fraglos gehörst – die irreführende Vorstellung zu erwecken, als könne man mit seiner Hilfe Fehler, die die ersten vier Gänge auf dem Gewissen haben, wiedergutmachen. Dies ist ein Trugschluß – es gilt erfahrungsgemäß nur für ganz flache Straßengräben. Ich würde mich daher seiner nur in äußersten Notfällen bedienen. Dein natürlicher Charme und Deine Schönheit dürften Gewähr dafür bieten, daß sich, wo immer Du parken mögest, im Handumdrehen mehrere Kavaliere finden, die Dir Bimbo in die geeignetste Startstellung schieben.

Zum Schluß noch ein Wort über die Blümchen. Das Vergißmeinnicht am Zündschloß möge Dich daran erinnern, daß der Zündschlüssel nicht nur hineingesteckt, sondern auch herumgedreht werden will. Der Motor hat sich auf Grund eines Geheimabkommens verpflichtet, sonst unter keinen Umständen anzuspringen. Ein zweites Vergißmeinnicht schmückt die angezogene Handbremse. Wenn man selbige vor der Abfahrt löst, gewinnt der Start erheblich an Eleganz. Das dritte Blümlein dieser Gattung steckt an der Benzinuhr. Es möchte bescheiden auf die erstaunliche Unlust hinweisen, mit der sich Fahrzeuge mit leerem Benzintank vorwärtsbewegen. Das Tausendgüldenkraut am Tachometer in der Gegend der 8o-km-Marke gibt Dir im Bedarfsfalle einen Erfahrungswert über die Höhe der Reparaturkosten, die entstehen, wenn Du in diesem Geschwindigkeitsbereich mit anderen Fahrzeugen kollidierst. Auch Bäume sind in diesem Fall Fahrzeuge. Rechne zweckmäßig den Gulden zu 25 DM und berücksichtige, daß die Krankenhauskosten im Zweifelsfalle nicht einbegriffen sind. Das Tausendschön am Steuer schließlich soll Dir sagen, daß ich Dich nun schon 2920 Tage glühend liebe [267] und Dich daher so unversehrt wieder in die Arme schließen möchte, wie ich es heute durfte. In diesem Sinne möge der heilige Christophorus seine Hand segnend über Dich, die anderen und Bimbos Kotflügel halten!


Dein Werner


P.S. Apropos Kotflügel: Da fällt mir ein, ich habe ganz vergessen, Dir zu sagen, daß ich gestern abend nach der Konferenz in der Eile, nach Hause zu kommen, beim Rückwärtsfahren gegen irgend so einen dämlichen unbeleuchteten Dobbas gefahren bin und den linken hinteren Kotflügel eingebufft habe. Ich hatte natürlich keine Schuld. Es war so, paß auf – aber das erzähle ich Dir, wenn ich wieder da bin. Ich mache Dir dann eine Zeichnung. Laß doch die Beule inzwischen reparieren. Es wird nicht teuer sein. Etwa 120 bis 130 Mark. Herzlichst!


D.O.


Das elegante Paar näherte sich dem Eingang des für Küche und Keller berühmten Restaurants. Höflich öffnete der Herr die Schwingtür, trat zur Seite und ließ seine Begleiterin eintreten. Dann nahm er den Hut ab und ging hinterher. Graziös schritt die Dame durch den fast völlig besetzten Raum. In respektvollem Abstand folgte der Herr. Etwa in der Mitte des Restaurants blieb die Dame zögernd stehen, schaute sich nach allen Seiten um und deutete schließlich mit dem Schirm auf einen noch freien Tisch. »Was meinst du, Herbert, gehen wir dorthin?« In diesem Augenblick nahte der Geschäftsführer mit einer leichten Verbeugung, deutete ebenfalls auf die noch freien Plätze und meinte: »Darf ich bitten?« Dann ging er voran, nicht ohne mit einem Blick einen Kellner herbeigerufen zu haben. Während sich der Kellner um den Mantel des Herrn bemühte, nahm der Geschäftsführer der Dame die Garderobe ab: den Mantel, den Hut, die Handschuhe und den Schirm. All das luden Kellner und Geschäftsführer dem inzwischen herbeigeeilten Garderobenfräulein auf. Dann nahmen die Dame und der Herr zu gleicher Zeit Platz. Nun nahte der Kellner mit zwei Speisekarten, reichte sie dem Paar, legte dem Herrn eine Weinkarte vor und zog sich wieder zurück. Die Dame und der Herr begannen mit dem Studium all der schönen Dinge, die da verzeichnet standen. Die Dame hatte sich schnell entschlossen. Sie legte die Speisekarte beiseite und griff zur Weinkarte.

Nun erschien der Ober mit gezücktem Bestellblock.

Der Herr ließ zuerst die Dame ihre Bestellung aufgeben und schloß sich dann an. Und als der Kellner fragte: »Und was darf ich den Herrschaften zu trinken[268] bringen?«, fuhr die Dame mit der Spitze ihres gepflegten Zeigefingers auf der noch immer offen vor ihr liegenden Weinkarte entlang und sagte: »Nr. 24!« Und an ihren Begleiter wandte sie sich mit den Worten: »Nicht wahr, ein Steinwein ist dir doch recht?«, worauf der Herr begeistert zustimmte.

Während sich der Ober mit der Bestellung zurückzog, ergriff die Dame ihr Handtäschchen, zückte die Puderdose mit dem eingebauten Spiegelchen und tupfte sich die kleine Nase ab. Anschließend korrigierte sie die Konturen ihres wohlgeformten Mundes mit dem Lippenstift und brachte ein Zigarettenetui zum Vorschein, bot ihrem Begleiter eine Zigarette an und reichte ihm mit einem winzigen silbernen Feuerzeug Feuer. Dann entzündete sie auch ihre Zigarette.

Nach wenigen Minuten nahte ein Kellner mit der Suppe. Und während die Dame noch mit dem Ausbreiten ihrer Serviette beschäftigt war, nahm der Herr einen Löffel voll, fuhr erschreckt zusammen und warnte seine Begleiterin: »Du – sieh dich vor, das Zeug ist schrecklich heiß!« Worauf die Dame ebenfalls – allerdings mit entsprechender Vorsicht – zu essen begann. Dazu griff sie sich eines der knusprigen Brötchen und biß herzhaft hinein.

Wenig später kam der Getränkekellner mit der Bocksbeutelflasche. Er legte sie sich mit dem Etikett nach oben in die von einer Serviette geschützte flache Hand und wies sie dem Herrn mit einer leichten, fragenden Verbeugung vor. Der sah ihn etwas erstaunt an und meinte dann gutgelaunt: »Ich weiß – Bocksbeutel. Haben wir ja bestellt ...« Worauf der Ober das Glas des Herrn zu knapp einem Viertel füllte und abwartend stehenblieb. Der Herr unterhielt sich bereits wieder mit seiner Begleiterin, was den Kellner schließlich veranlaßte, das Glas der Dame zu füllen und dem Herrn nachzuschenken. Dann bewaffnete er sich mit den leeren Suppentassen und verschwand.

Im gleichen Augenblick tauchte sein Kollege mit dem Hauptgericht auf. Formvollendet legte er den Herrschaften einen Teil der Speisen vor, die sich die ausgezeichnet bereitete Mahlzeit vortrefflich schmecken ließen. Die Dame hatte ihren Hunger überschätzt und legte ihr Besteck gekreuzt auf den Teller – ein Zeichen, daß sie gesättigt sei. Als der Ober ihr noch einmal vorlegen wollte, sagte sie ein wenig erstaunt »Nein, danke!«, und man sah ihr an, daß sie sich über den Kellner wunderte. Der Herr dagegen hatte noch Appetit. Er zeigte das auch, indem er Messer und Gabel rechts und links vom Tischtuch her auf den Tellerrand legte. Der Kellner wußte natürlich, was das zu bedeuten hatte, und bediente den Herrn zum zweitenmal.

Nach dem Nachtisch fragte er: »Wünschen die Herrschaften einen Mokka?« Und die Herrschaften wünschten. Nun erhob sich die Dame, um den Waschraum aufzusuchen, während der Herr zu seiner Zeitung griff. Als seine Begleiterin wiederkehrte, kam auch der Ober mit dem Mokka. Interessiert und wohl auch wohlgefällig [269] beobachtete der Herr über den Zeitungsrand hinweg die Dame, die inzwischen ihr Make-up erneuert hatte und nun wieder Platz nahm. Während er noch die Aktienkurse überflog, goß sich die Dame ein, rührte ein wenig verloren im Mokkatäßchen und trank davon. Nun entschloß sich auch der Herr, die Zeitung zusammenzufalten und sich einzuschenken. Nach einer Zigarettenlänge rief der Herr: »Ober – zahlen!«, worauf der Zahlkellner dem Herrn die gefaltete, unter einer Serviette liegende Rechnung auf einem Teller hinstellte und ein paar Schritte zurücktrat. Während der Herr die Posten der Rechnung überflog, beugte sich die Dame interessiert zu ihm hinüber. »Ganz hübsche Preise, nicht wahr?« meinte sie. Doch dem Herrn schien das nichts auszumachen – er legte einen Fünfzigmarkschein auf die Rechnung, erhob sich und sagte zu seiner Begleiterin: »Erledige das doch bitte!« Und verschwand. Auch er wollte sich frisch machen.

Als er wiederkam, hatte der Zahlkellner den Rechnungsbetrag abgezogen und den Teller mit dem Restgeld, diskret durch die Serviette verdeckt, wieder auf den Tisch gestellt. Das Garderobenfräulein, vom Ober verständigt, brachte die Garderobe, reichte dem Herrn seinen Mantel, Hut und Schirm und half, während er sich von einem Ober in den Mantel helfen ließ, der Dame in ihre Sachen. Dann grüßten beide freundlich und verließen, der Herr voran, das Lokal.

Soweit, liebe Leser, der wahrheitsgetreue Bericht über »Zwei Menschen im Restaurant«, die ich kürzlich beobachten konnte. Beide sahen gut aus. Und waren geschmackvoll angezogen. Ein durchaus erfreulicher Anblick – von weitem wenigstens. Denn die nähere Betrachtung ergab, daß ... aber das haben Sie natürlich alle längst bemerkt: In diesem ganzen Spiel waren es nur die Kellner, die sich korrekt benahmen, während es bei den Hauptakteuren doch noch in vielen entscheidenden Punkten an den vollendeten Formen haperte!

Denn selbstverständlich war es falsch,

daß der Herr die Dame in das Lokal vorangehen ließ! Eine Gaststätte ist immer so etwas wie eine »terra incognita«, ein unbekanntes Gelände, das der Herr zuerst betritt,

daß der Herr auch im Lokal hinter der Dame herging. Er bahnt ihr den Weg, nicht sie ihm.

daß die Dame den Tisch wählte. Das ist Sache des Herrn. Wenn er ganz höflich sein will, kann er seine Begleiterin am Tisch selbst fragen, ob sie mit seiner Platzwahl einverstanden sei. Und daß die Dame mit dem Schirm auf einen Tisch zeigte.

daß der Geschäftsführer der Dame beim Ablegen der Garderobe behilflich sein durfte! Auf jeden Fall hätte das der Herr selbst tun müssen.


B. In der Öffentlichkeit

[270] daß die Dame den Hut absetzte. Den hätte sie aufbehalten müssen.

daß der Herr mit der Dame zugleich Platz nahm. Vielmehr wäre es seine Pflicht gewesen, der Dame den Stuhl zurechtzurücken und ihr im Moment des Setzens mit geübter Eleganz unterzuschieben. Auch diese Aufmerksamkeit überläßt man nicht dem Personal. Erst dann hätte der Herr sich selbst setzen dürfen.

daß die Dame ihre Bestellung selbst aufgab. Sie hätte ihre Wunsche dem Herrn sagen müssen, der sie seinerseits zusammen mit seiner eigenen Bestellung dem Kellner zu übermitteln gehabt hätte.

daß die Dame zur Weinkarte griff! Eine Weinkarte gehört nicht in die Hände der Dame, denn Wein sucht der Herr aus. Selbstverständlich darf er seine Begleiterin fragen, ob sie Rhein-, Mosel-, Franken- oder einen anderen Wein vorziehe (nur Damen ohne Herrenbegleitung wählen den Wein selber).

[271] daß eine wirkliche Dame ihr Make-up in der Öffentlichkeit vervollkommnet. Puderdose, Lippenstift und Kamm werden grundsätzlich nur in der Einsamkeit des Waschraumes benutzt!

daß der Herr sich von der Dame Feuer geben ließ. Schon ihr Griff zum Zigarettenetui hätte ihm Streichholz oder Feuerzeug in die Hand zaubern müssen! Und wenn es ihm an eigenem Feuer gefehlt hätte, dann wäre es seine Pflicht gewesen, sich rechtzeitig des Feuerzeuges der Dame zu bemächtigen – mit liebenswürdiger Selbstverständlichkeit. Und wenn die Dame das dennoch zu verhindern gewußt hätte, so hätte sie allerhöchstens sich selbst zuerst mit Feuer versorgen und ihm dann das Feuerzeug reichen dürfen.

daß der Herr sitzenblieb, während er seiner Dame Feuer reichte. Korrekterweise hat er zu diesem Zweck aufzustehen und gegebenenfalls um den Tisch herumzugehen. Auf diese höfliche Geste darf nur im äußersten Notfall – etwa infolge räumlicher Beengtheit – verzichtet werden. Doch selbst dann läßt sie sich unschwer andeuten.

daß der Herr mit dem Essen vor der Dame begann! Eine Dame nimmt auch in öffentlicher Gaststätte den Platz der Hausfrau ein. An ihr also ist es, die Tafel zu eröffnen.

daß die Dame in das knusprige Brötchen biß! (Wenn es der Herr getan hätte, wäre es nicht minder falsch gewesen.) Sowohl Brot als auch Brötchen oder Toast werden gebrochen, und zwar in mundgerechte Stücke! Brot oder Brötchen in zwei Teile zu brechen und dann von dem einen abzubeißen, ist auch nicht richtig, selbst wenn man es immer wieder beobachten kann. Der Grund für diese scheinbar sinnlose Regel ist ein ästhetischer: ein Brötchen- oder Brotteil, an dessen mundfeuchter Bißstelle sich das Halbrund einer mehr oder weniger vollständigen Zahnreihe abzeichnet, sieht nicht sonderlich appetitlich aus.

daß sich der Herr über die ihm vorgewiesene Bocksbeutelflasche wunderte. Der guterzogene Kellner tat doch nur seine Pflicht, als er dem Gast das Etikett der Flasche vorwies – zur Kontrolle der Echtheit des Jahrganges.

daß der Herr den ihm vom Kellner eingeschenkten Probeschluck übersah und den guten Mann damit in Verlegenheit brachte. Mit Hilfe des Probeschluckes nämlich hätte er sich von der Temperatur überzeugen müssen – wenn er etwas davon verstanden hätte.

daß die Dame durch gekreuztes Auflegen ihres Besteckes die Beendigung ihrer Mahlzeit anzudeuten versuchte. Ein gekreuztes Besteck bedeutet nämlich: Ich möchte noch einmal bedient werden! Vielmehr hätte sie Messer und Gabel parallel von rechts vorn nach links hinten auf den Teller legen müssen, das Messer rechts mit der Schneide nach innen. Dann hätte der versierte Ober sofort Bescheid gewußt.

[272] daß der Herr Messer und Gabel seitlich gegen den Tellerrand lehnte! Sein Besteck hätte so liegen sollen, wie es bei der Dame der Fall war. Bei ihm, der noch weiteressen wollte, wäre es richtig gewesen. (Und wenn wir vorhin sagten, der Kellner habe natürlich gewußt, was dieses Messer- und Gabelarrangement zu bedeuten hätte, meinten wir natürlich nicht den noch ungestillten Hunger des Herrn, sondern seine fragwürdigen Manieren!)

daß der Herr zur Zeitung griff, als die Dame sich erhob, um in den Waschraum zu gehen. Natürlich hätte der Herr ebenfalls aufstehen müssen, denn kein Herr, der einer ist, bleibt sitzen, wenn sich eine Dame erhebt.

Falsch und unhöflich zugleich aber war es,

daß der Herr auch sitzenblieb, als die Dame an den Tisch zurückkehrte und wieder Platz nahm,

daß auch die Rückkehr der Dame den Herrn in seiner Zeitungslektüre nicht zu stören vermochte. Es ist in höchstem Maße unhöflich und für die Dame kränkend, wenn ein männliches Wesen in ihrer Gegenwart liest. Das wäre allenfalls möglich, wenn auch die Dame ihrerseits den Wunsch nach einer Zeitung äußert. (Das Bild eines lesenden Paares aber vermittelt der Umwelt die aufschlußreiche Erkenntnis, daß da zwei Menschen sitzen, die sich nichts mehr zu sagen haben.)

daß sich Dame und Herr unabhängig voneinander den Mokka eingössen. Es ist schon möglich, daß weder er noch sie sich etwas dabei dachten. Und dennoch hätte es netter ausgesehen, wenn die Dame ein wenig Hausfrau gespielt und ihren Begleiter bedient hätte. Auch umgekehrt wäre daraus ein Schuh geworden, denn auch der Herr kann eine charmante Begleiterin getrost liebenswürdig versorgen. Aber so völlig indifferent und kühl, das brauchte doch wohl nicht zu sein.

daß der Herr rief: »Ober – zahlen!« Denn auch ein Kellner ist ein Herr, hat Anspruch auf Höflichkeit und weiß zudem, wenn er lange in guten Häusern tätig war, sehr wohl zu erkennen, daß sich hinter diesem sicher und herrisch klingen sollenden Ausruf nichts anderes verbirgt als gesellschaftliche Ungeschliffenheit. Deshalb wird der wohlerzogene Herr dem Kellner dezent winken und sagen: »Herr Ober – die Rechnung bitte!«

daß die Dame von der Rechnung überhaupt Notiz nahm! In diesem Augenblick hätte sie sich formvollendet an ihrer Handtasche zu schaffen machen sollen. Und daß sie gar noch auf die Höhe der Rechnung anspielte ... Aber Madame!

daß der Herr der Dame das Zahlen überließ, auch wenn es sein Geld war! Diese Aktion hätte er auf jeden Fall selbst durchführen müssen.

daß der Herr schließlich zusah, wie der Kellner seiner Begleiterin in den Mantel half! Für diese Assistenz beim Ab- und Anlegen der Garderobe ist einzig und [273] allein der begleitende Herr zuständig – selbst wenn ihm ein übereifriger Angestellter diese Arbeit abnehmen will.

daß der Herr hinaus vor der Dame ging. Genau so falsch, wie er seine mißglückte gesellschaftliche Vorstellung in diesem Raum begann, genau so unglücklich hat er sie auch beendet. Beim Weg aus dem Lokal hinaus nämlich geht die Dame vorweg, während der Herr die Nachhut bildet!

Ist es nicht erstaunlich, daß sich in unser Benehmen in der Öffentlichkeit so leicht Dutzende von Fehlern einschleichen können? Ist es aber nicht auch schade, wenn eine gewandtere und gesellschaftlich sicherere Umwelt gezwungen wird, ihren ersten günstigen Eindruck von uns bereits nach wenigen Minuten grundlegend zu korrigieren – weil wir ihr durch laufende Schnitzer schon in kürzester Frist die ein wenig tragische Erkenntnis vermittelt haben, daß Kleider doch nicht Leute machen oder nur ganz vorübergehend?

So hat denn unser Auftreten in der Öffentlichkeit, sei es auch nur an einem so neutralen Ort wie dem Restaurant, seine Gesetze, denen wir uns gern beugen wollen. Einmal, weil sie dem kultivierten Menschen ohnehin Bedürfnis sind, zum anderen, weil es unklug wäre, uns der Umwelt in unvorteilhaftem Lichte zu zeigen.

Es gibt im Zusammenhang mit dem Aufenthalt in einem Restaurant noch eine Anzahl anderer Pflichten gegenüber der Etikette, an die wir uns hier auch noch einmal erinnern wollen.

Verabredungen in einem Restaurant erfordern die rechtzeitige Anwesenheit des Herrn. Nichts ist für eine Dame unangenehmer, als allein in ein überfülltes Lokal treten und vergeblich suchend durch die Räume gehen zu müssen. Derartige Peinlichkeiten, die zudem unter Umständen noch mißverstanden werden können, wollen wir den Damen grundsätzlich ersparen, indem wir bereits einige Minuten vor der verabredeten Zeit erscheinen und unseren Platz so wählen, daß wir den Eingang im Auge behalten und der Dame bei ihrem Eintritt sofort entgegengehen und sie an den Tisch geleiten können.

Andere uns bekannte Tischgesellschaften grüßen wir nur im Vorübergehen. Es wäre inkorrekt, sich sofort an einen solchen Tisch begeben zu wollen, da wir nicht wissen können, ob unser persönliches Erscheinen nicht stört. Wenn man auf unsere persönliche Begrüßung Wert legt, dann wird sich ein Mitglied der Tischgesellschaft erheben, zu uns kommen und uns an den Tisch bitten. (Sollte er uns wider Erwarten heranwinken, so verstieße das gegen jede gute Sitte.)

Vorstellungen von später an unseren Tisch tretenden Gästen werden stets von einem Herrn (Ausnahmen sind reine Damengesellschaften) vorgenommen, der [274] zu diesem Zweck aufsteht. Mit ihm erheben sich alle anwesenden Herren des Tisches. Nur sehr alte, würdige oder gebrechliche Herren dürfen sitzenbleiben, wenn ihnen junge Leute vorgestellt werden. Damen dagegen werden bei der Vorstellung Platz behalten, es sei denn, unter den Neuhinzukommenden befände sich eine alte Dame, während sie selbst noch jung sind.

Gespräche werden grundsätzlich so geführt, daß die Umgebung nicht an ihnen teilhaben kann. Jede laute Namensnennung Dritter ist zu vermeiden.

Das Platznehmen an teilweise bereits besetzten Tischen erfordert eine vorherige höfliche Anfrage, etwa: »Bitte – sind hier noch zwei Plätze frei?« Erst wenn diese Frage bejaht wird, setzen wir uns, jedoch nicht ohne nunmehr mit einer leichten Verbeugung »Guten Tag« oder »Guten Abend« gesagt zu haben.

Spiegel, die an Säulen oder Wänden des Lokals hängen, sind innenarchitektonischer Zierat. Sie dienen nicht dem Kämmen, Pudern, Schminken oder der Krawattenkorrektur.

Blumenfrauen nähern sich mit zumeist teuren Blumen und verbindlichem Lächeln grundsätzlich dem Herrn, der nun schwankt zwischen angeborenem Kavalierstum und finanziellen Bedenken. Eine weltgewandte Dame wird ihm dann stets rechtzeitig zu Hilfe kommen, indem sie verbindlich dankt, noch ehe er seine Entscheidung treffen mußte. Damit ist der Herr einerseits der eigenen Entscheidung enthoben, hat aber andererseits ohne weiteres die Möglichkeit, dennoch eine blühende Aufmerksamkeit für seine Begleiterin zu erstehen.

Zwanglose Unterhaltungen mit fremden Tischnachbarn erfordern durchaus keine gegenseitige Vorstellung. Nur wenn sich – was selten genug vorkommt – im Laufe eines längeren Gesprächs eine gewisse Sympathie andeuten sollte, die eine Aufrechterhaltung der frisch geknüpften Verbindung erstrebenswert erscheinen läßt, wird man sich einander vorstellen, wobei auch die Visitenkarten gewechselt werden können.

Damen können jedes gute Restaurant auch ohne Begleitung aufsuchen. Wenn sie keinen freien Tisch mehr finden, werden sie zweckmäßigerweise nicht dort Platz nehmen, wo ein einzelner Herr sitzt, sondern besser einen Tisch wählen, an dem ebenfalls eine Dame oder ein Ehepaar sitzt.

Wer ein Lokal in größerer Gesellschaft aufzusuchen gedenkt, wird gut daran tun, einen Tisch vorauszubestellen. Er erspart sich und seiner Begleitung das wenig angenehme Suchen nach ausreichendem Platz.

Reklamationen werden ruhig und ohne Stimmaufwand dem Geschäftsführer vorgebracht. Kellner für Mängel in der Speisezubereitung verantwortlich zu machen, ist sinnlos und ungerecht.

[275] Kinder sollten nur ausnahmsweise in ein Restaurant mitgenommen werden. Nur wenn sie sehr gut erzogen sind und bereits ein gewisses Alter erreicht haben, werden sie weder den Eltern noch den übrigen Gästen zur Last fallen.

Überhaupt wollen wir weder selbst noch mit unserer Begleitung auffallen! So verzichten wir darauf, die gar nicht neugierigen anderen Gäste auf unsere Stimme oder unsere Fertigkeit im Klavierspielen aufmerksam zu machen. Wir singen nicht, und wir lassen alle eventuell in einer Ecke stehenden Musikinstrumente unberührt (selbst wenn wir »Heinzelmännchens Wachtparade« noch fehlerfrei spielen könnten). Vielmehr benehmen wir uns auch hier in der Öffentlichkeit genauso taktvoll, höflich und zurückhaltend, wie wir es im eigenen Kreise zu tun gewohnt sind oder künftig sein wollen.


Übrigens gibt es außer guten und anspruchsvollen Speiserestaurants auch noch einfache Gaststätten. Auch sie haben ihre eigenen Gesetze, denen wir uns anpassen. Wir stellen hier keine ungerechtfertigt hohen Ansprüche, bemängeln nicht das Fehlen von Tuchservietten und mokieren uns nicht, wenn auf der Speisekarte Austern und Artischocken fehlen. Wir betreten sie auch nicht in übertrieben eleganter Kleidung und exerzieren daselbst nicht eine Etikette, die beim Handkuß beginnt und in der Forderung nach Fingerschalen gipfelt. Hic non est Rhodos!


Ein Wort über Bars und Tanzlokale. Es gibt deren solche und andere. Regeln lassen sich nur für den Besuch solcher aufstellen. Bei den anderen endet die Zuständigkeit dieses Buches.

Nicht wenige Leute spüren ein leises Prickeln, wenn der Name Bar erwähnt wird. So sie männlichen Geschlechtes und unerfahren sind, ersteht vor ihrem geistigen Auge ein spärlich erleuchteter Raum mit der sogenannten intimen Atmosphäre, dem schweren, betörenden Duft von Chanel, den offenherzigen Dekolletés ätherischer Wesen, der leise rhythmischen Musik einer »Band«, einer endlosen Batterie von Flaschen mit fremdsprachigen Etiketten und – dem verständnisvollen, wimperverhangenen Blick aus den haselnußbraunen Augen einer schönen Barfrau, die auf sämtliche großen und kleinen Probleme ihrer Besucher einen Rat weiß. Weibliche Wesen dagegen neigen, sofern sie selbst nicht von Zeit zu Zeit in eine Bar geführt werden, zu der Annahme, daß diese Stätten nur geschaffen seien, um ihre Lebensgefährten vom Pfad der Tugend abzubringen.

Beide Vorstellungen sind nur natürlich. Denn je geringer die Sachkenntnis, desto präziser das Urteil.

Die Wirklichkeit sieht – sofern wir von »solchen« Bars reden – wesentlich anders aus. Natürlich ist eine Bar nicht grell erleuchtet. Die Lichtquellen sind geschmackvoll verkleidet und tauchen den Raum in einen warmen Schimmer gedämpften Lichtes, das den Vorzug hat, aus den Gesichtern aller Anwesenden[276] jede Härte zu bannen – wofür nicht nur die Damen dankbar sein sollten. Auch der Duft wird keineswegs schwer und betörend sein. Wenn die Ventilation gut ist, halten sich Rauch, Frischluft und der kaum wahrnehmbare Hauch guter Parfums gerade die Waage. Was die Dekolletés der Damen angeht, so sind sie keineswegs großzügiger als anderswo auch – vorausgesetzt natürlich, daß die Damen Damen und die Bars »solche« sind.


B. In der Öffentlichkeit

Das mit der Musik aber stimmt. Ein weichgestimmter Flügel oder ein Pianola mit einem guten Pianisten, ein Schlagbaß, der unaufdringlich den Rhythmus unterstreicht – mehr ist gar nicht nötig. Die so erzeugte dezente Tanzmusik stört nicht, dringt nur unvollkommen ans Ohr und fällt erst auf, wenn sie schweigt.

[277] Auch mit den vielen Flaschen hat es seine Richtigkeit. Aber die müssen sein. Denn zu einer guten Bar gehören Mixgetränke. Und deren gibt es unendlich viele.

Bliebe also noch das Wesen hinter der Bar. Es ist in jenen Bars, von denen wir hier sprechen, durchaus nicht immer weiblichen Geschlechts. Meistens hat es ein kurzes schwarzes oder weißes Dinnerjackett an, ein Schiffchen auf dem Kopf, beherrscht fünf Sprachen, steht mit unzähligen echten und unechten Prominenten auf vertrautem Fuß und schüttelt den Mixbecher mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie dreihundert erlesene Mixrezepte aus dem Ärmel. Was er dagegen nicht schüttelt, ist der Kopf, wenn sich die Pseudoprominenz auf den Barhockern ohrfeigt. So etwas soll auch schon in guten Bars vorgekommen sein, spricht jedoch nicht gegen sie, sondern nur gegen bestimmte Besucher.

Und was die Dame hinter der Bar angeht, so kann es durchaus vorkommen, daß da ein absolut ladylikes Geschöpf tätig ist, das dann und wann nachdenklich seltsame Kringel auf ein Stückchen Papier malt und auf die Frage eines Gastes: »Abstrakte Malerei?« antwortet: »Nicht direkt – es sind die Äste des Trigeminus. Ich stehe nämlich gerade im Physikum und habe morgen Anatomie.« In diesem Zusammenhang, meine Herren, die Bitte: Behandelt Barfrauen »solcher« Bars getrost als Bardamen. Sie werden es euch danken, wenn sie welche sind. Und sollten sie es wider Erwarten nicht sein – dann wart ihr wenigstens Herren.

Über das Benehmen in Bars ist nicht viel mehr zu sagen, als es schon bei den Restaurants gesagt wurde: Es soll formvollendet sein wie sonst auch, denn auch diese zuweilen verkannten Gaststätten sind keineswegs Tummelplätze der Manierenlosigkeit.

Damen werden Bars und Tanzlokale unter keinen Umständen allein aufsuchen. Selbst wenn ein solcher Besuch ohne die geringsten Hintergründe stattfände, wäre es doch von einer auf ihren Ruf bedachten Frau unklug, dem Gerede Nahrung zu geben, sie suche Bekanntschaften. Andererseits bringt ihr Soloauftritt unternehmungslustige Männer nur allzu leicht auf unerwünschte Gedanken.

Wer einen Abend in einer Bar verbringen will, der mache sich vorher klar, daß die dort ausgeschenkten Getränke Alkohol enthalten, und zwar teilweise in recht konzentrierter Form. Hier wie überall ist Übermaß vom Übel. Und schon mancher, der in nüchternem Zustand das Bild einer vollendet erzogenen Persönlichkeit abgab, enttäuschte andere nach übermäßigem Alkoholgenuß schwer. Im Vino liegt auch die Veritas des guten Benehmens! Man erspare sich und anderen die Peinlichkeit, von einem hünenhaften Portier mit sanfter Gewalt hinauskomplimentiert zu werden.


[278] Zum Thema Kleidung ist zu sagen, daß man sie mit gesundem Empfinden dem Zweck des Bummels und seinem Ziel anpassen sollte. Tagsüber genügen der Straßenanzug und das Nachmittagskleid auch für ein gutes Speiserestaurant.

Ein Paar wird übrigens dann am vorteilhaftesten aussehen, wenn es in »Größe« der Kleidung, Stil und Farben harmoniert. Monsieur wird also nach Möglichkeit nicht im grünen Trachtenanzug mit Jodlerhütchen erscheinen, wenn Madame ein elegantes graues Kostüm mit Hutgedicht trägt. Madame wiederum wird nicht gerade das hübsche frechgrüne Kleid wählen, wenn Monsieur zu diesem Ausgang den mittelblauen Einreiher anzog.

Der elegante Straßenanzug und das nicht minder elegante Nachmittags- oder Jackenkleid passen im allgemeinen auch zu einem abendlichen Restaurantbesuch. Netter sähe es natürlich aus, wenn ihr Kleid um eine Nuance eleganter wäre (z.B. schwarzes Jackenkleid) und sein Anzug dunkle Tönung hätte. Schließlich ist der Abend der Höhepunkt des Tages, dem man – auch wenn man nur bescheiden essen geht – äußerlich seinen Tribut zollen darf.

Immer nur dort natürlich, wo es hinpaßt. Der Trachtenanzug macht sich im eleganten Abendrestaurant ebenso unglücklich wie der dunkle Zweireiher mit silberner Krawatte in einem Biergarten. Und wer sich zu einer Opernpremiere in Frack und großes oder Smoking und kleines Abendkleid geworfen hat, wird anschließend nur ein Lokal aufsuchen, in dem diese festliche Kleidung nicht deplaciert wirkt. Das eventuelle Dekolleté der Dame muß im Lokal und selbst in der exklusiven Bar verhüllt sein.

Selbstverständliche Kavalierspflicht eines Herrn, der mit einer Dame ausging, ist es, sie nach Hause zu begleiten! Dieser Verpflichtung darf er sich nicht einmal mit dem Hinweis auf seine letzte Straßenbahn entziehen.


Und die Sache mit der Rechnung. Wir haben schon an anderer Stelle darauf hingewiesen, welche bewundernswerten Leistungen die emanzipierten Frauen vollbracht haben. Selbst der Gesetzgeber hat das so tüchtige weibliche Geschlecht dem männlichen neuerdings – zumindest theoretisch – als gleichberechtigt zur Seite gestellt. Das kam vielen Herren der Schöpfung ungelegen, die sich nicht damit abfinden wollten, daß geistige Kraft und beruflicher Erfolg nun nicht mehr ausschließlich männliche Domäne sein sollten. Und sie beschlossen, daß man der Frau, die da mehr Rechte verlange, neben diesen auch männliche Pflichten aufbürden könne. Das sollte soviel heißen wie: daß wir Männer nunmehr berechtigt seien, einiges von der Rücksichtnahme, Galanterie und Zuvorkommenheit der Damenwelt gegenüber fallenzulassen. In diesem Zusammenhang wurde auch – und wird immer noch – die Frage leidenschaftlich diskutiert:

Kann eine Dame in Herrenbegleitung zahlen? Die einstimmige Antwort all [279] derer, die da ehrlich bemüht sind, der ein wenig verschütteten Etikette zu neuem Glanz zu verhelfen, lautet: Nein – unter keinen Umständen! (Es sei denn, man sähe dem sehr jungen Mann die ersten langen Hosen noch an und die Dame hätte bereits graue Haare – wäre also Mutter, Tante oder wohlwollende Gönnerin.) Das heißt nicht etwa, daß gute oder auch nur oberflächlich Bekannte nicht bei »getrennter Kasse« ausgehen dürften. Natürlich können sie das. Und es wird in vielen Fällen aus nüchternen finanziellen Erwägungen sogar unumgänglich sein. Dennoch hat der Herr auch die Rechnung der Dame zu begleichen – sei es nun, daß sie ihm vorher bereits ihren Anteil gegeben hat, sei es, daß beide später die Auslagen miteinander verrechnen.

Keinesfalls aber darf es passieren – leider ist es passiert! –, daß ein hochgestellter Herr sich mit zwei nicht minder hochgestellten Damen zum Essen verabredet, um dann die ihm vom Ober überreichte Rechnung mit den deutlichen Worten zurückzureichen: »Nein – jeder für sich!«

(Ein Beweis, daß auch versierte Kellner ihre Gäste zuweilen überschätzen.)


Künstlerische Veranstaltungen. Der Besuch einer jeden künstlerischen Veranstaltung setzt eine gewisse innere und äußere Bereitschaft voraus. Ohne innere Bereitschaft sind Freude und Genuß nur oberflächlich. Die äußere Bereitschaft, die sich in der passenden Kleidung dokumentiert, gibt ihr den festlichen Rahmen. Wer eine Operette, ein Theater, ein Konzert oder eine Ausstellung zu besuchen gedenkt, der mag berücksichtigen, daß bereits die Vorfreude einen Teil des erwarteten Kunstgenusses bedeutet. In dem Augenblick, da man die Karten besorgt – und das sollte man rechtzeitig tun, um nicht etwa vor ausverkauftem Hause zu stehen –, werden die Gedanken des wahren Kunstfreundes bereits auf den Abend gerichtet sein. Diese Genüsse, die wir uns je nach Geldbeutel und beruflicher Abkömmlichkeit mehr oder weniger häufig gönnen, sind die leuchtend bunten Farbflecken im Grau des arbeitsamen Alltags.

Wahres Genießen erfordert eine gewisse Beschaulichkeit. In ruhiger Erwartung der kommenden Freude begeben wir uns zu der Vorstellung. Rechtzeitig – nicht gehetzt und im letzten Augenblick. Sonst wird auch der bequemste Fauteuil nicht zum Altar, vor dem uns die Musen opfern, sondern zum Sessel, auf dem wir verschnaufen.


Karten, wie gesagt, haben wir rechtzeitig besorgt oder bestellt. Wenn wir unseren Freunden diese Mühe abgenommen haben, so bedeutet das durchaus nicht, daß wir auch die Kosten dafür zu übernehmen hätten. Wir dürfen die Erstattung dieser Auslagen also durchaus höflich anmahnen, falls sie vergessen oder übersehen worden sein sollte.

Wir gewöhnen uns daran, niemals zu spät zu kommen! Pünktlichkeit ist nicht nur eine selbstverständliche Pflicht unseren Freunden, insbesondere natürlich den [280] Damen, sowie den anderen Besuchern gegenüber, sondern erhöht auch den ruhigen Genuß der Darbietung. Sollten wir uns aber doch einmal verspätet haben, dann nehmen wir unsere Plätze so unauffällig und rücksichtsvoll wie möglich ein, warten vielleicht sogar die Ouvertüre oder den Schluß des ersten Aktes ab. Anzug-, Kleider- und Frisurkontrollen erfolgen im Foyer, nicht etwa auf den Sitzplätzen!

Um die Garderobe der Dame kümmert sich der Herr. Er nimmt ihr die Sachen ab und verwahrt auch die Garderobenmarke. Auch Hüte sind abzugeben. Bei Konzerten können die Damen einen kleinen Abendhut aufbehalten. Es gibt sogar Länder, in denen es auffällt, wenn eine Dame zum Konzert keinen Hut trägt.

Das Einnehmen der Plätze erfolgt in der Form, daß der Herr vorangeht und die Dame folgen läßt. Da die Sitzreihen fast ausnahmslos so eng sind, daß bereits Sitzende belästigt werden, drängelt man sich nicht wortlos vorbei, sondern bittet mit einem höflichen »Gestatten Sie bitte!« für diese Störung um Entschuldigung. Wenn man die betreffenden Sitze passiert hat, dankt man ebenso korrekt. Wer seinen Sitz bereits eingenommen hat, wird bei Erscheinen Späterkommender zumindest als Herr aufstehen, um Platz zu schaffen. (Auch wenn er sich solchermaßen ein halbes dutzendmal als Kavalier gezeigt hat, darf man ihm doch keinesfalls ansehen, daß er mit den Zähnen knirscht.) Von ausgesprochen schlechten Manieren zeugt es, wenn man sich mit dem Rücken zu den bereits Sitzenden vorbeizwängt. Es ist leider ein vielverbreiteter Fehler, den insbesondere die jüngere Generation aus unerfindlichen Gründen nicht einsehen will. Im übrigen informieren sich routinierte Theaterbesucher bereits bei Kartenkauf über die Lage ihrer Plätze, wissen also genau, ob und wieviel Leute sie im Falle eines Zuspätkommens stören. Wer das Glück hat, Karten zu bekommen, die in der Mitte liegen, sollte auch so rechtzeitig erscheinen, daß nach Vorstellungsbeginn seinetwegen nicht eine halbe Reihe aufzustehen braucht.

Ein eigenes Programm erspart den aufdringlichen Blick in das des Nachbarn! Außerdem ermöglicht es, sich rechtzeitig über Besetzung und Inhalt der Darbietung zu informieren, was den Kunstgenuß vertieft.

Das Essen während einer künstlerischen Darbietung ist die Todsünde schlechthin! Weder eine appetitliche mit zartem Hühnerfleisch belegte Weißbrotschnitte noch kandierte Früchte erhöhen den Kunstgenuß – mögen nun Verdis »Macht des Schicksals«, Mozarts »Hochzeit des Figaro«, Strauß' »Fledermaus« oder Shaws »Pygmalion« gegeben werden. Erstaunlicherweise scheint aber das Einnehmen von Opern-, Theater- und Kinosesseln bei nicht wenigen Besuchern ein unbezähmbares Hungergefühl zu erwecken. Und ich stimme völlig mit jenem Intendanten eines großen Hauses überein, der auf Grund seiner diesbezüglichen [281] Beobachtungen allen Ernstes die Anbringung von Schildern mit der Aufschrift »Essen verboten« plant.

Randbemerkungen und Kommentare sollte man nicht einmal flüstern.

Operngläser haben die Aufgabe, uns das Geschehen auf der Bühne optisch nahe zu bringen. Sobald sie zu ungeniertem Mustern der anderen Theatergäste benutzt werden, sind sie fraglos in falschen Händen.

Mitsingen und Mitsprechen von Melodie und Text beweist zwar Vertrautheit mit der Darbietung, mehr aber noch schlechte Erziehung.


Applaus ist die glücklichste Dankesform, die Künstler für ihre Leistungen zu belohnen. Wer nach einer künstlerischen Darbietung die Hände schweigend in den Schoß legt, beweist damit eine Zurückhaltung, die durchaus fehl am Platze ist und nichts mit Erziehung zu tun hat, sondern stark nach versnobter Arroganz aussieht. Was wir jedoch nicht tun sollten, ist: bei offener Szene, wechselnden Bildern oder dunklem Zuschauerraum zu klatschen. Dieser vielleicht verständliche, dennoch aber unangebrachte Applaus zerreißt nur allzu leicht die Stimmung, die packendes Geschehen und vorbildliche Darstellungskunst geschaffen haben.

Mißfallenskundgebungen erfolgen nicht durch Pfeifen. Mangelnde Leistung quittiert der wohlerzogene Besucher durch Schweigen.

(Als Bernard Shaw einmal der Uraufführung eines seiner Stücke beiwohnte und unter dem frenetischen Jubel des begeisterten Publikums vor den Vorhang trat, ertönte plötzlich von der Galerie ein schriller, langgezogener Pfiff. Shaw nickte dem Unzufriedenen verbindlich zu und sagte in die atemlose Stille: »Ich bin völlig Ihrer Meinung, mein Freund, nur – was sollen wir zwei gegen die Masse machen?«)

Die Pause dient dem Promenieren in den Gängen und im Foyer, dem Zeigen der Garderobe – welche schöne Frau ließe sich nicht auch hier gern bewundern? – und der Betreuung der Damen, die sich in unserer Begleitung befinden. Ihre Aufgabe, meine Herren, ist es, den Damen Erfrischungen zu besorgen! Stehen Sie Ihren Mann beim Sturm auf die kleine Theaterbar! Würstchen und belegte Brötchen dagegen – wäre es nicht netter, Sie gingen anschließend irgendwohin essen? Senf, finde ich, paßt weder zu Parsifal noch zum Käthchen von Heilbronn. Etwas anderes dagegen können Sie in der Pause unternehmen – einen Logenbesuch, wie er früher üblich war. Voraussetzung ist natürlich, daß Sie in einer Loge gute Bekannte entdeckt haben.

Bekannte, besonders wenn sie sich in Begleitung befinden, begrüßt man nur dann persönlich, wenn ihr Gebaren dazu auffordert. Anderenfalls beschränkt man sich auf einen dezenten Gruß. Damen, die sich in unserer Begleitung befinden, lassen wir nicht etwa allein stehen, um andere begrüßen zu können!

Wer gesundheitlich nicht auf der Höhe ist, der verschiebe den Besuch einer Oper oder des Theaters. Insbesondere Erkältungskrankheiten stören – zumindest den ungetrübten Genuß der anderen Besucher. (Ich entsinne mich da einer Aida-Aufführung, in deren Verlauf ein verschnupfter Logenbesucher in die Arie »Holde Aida« viermal so exakt rhythmisch hineinnieste, daß sich im Publikum Empörung und Heiterkeit genau die Waage hielten.)


B. In der Öffentlichkeit

Die Besorgung der Garderobe nach Beendigung der Vorstellung übernimmt der Herr. Die Dame hält sich so lange abseits vom Garderobengedränge auf. Sobald der Herr in den Besitz der Sachen gelangt ist, zieht er die seinen rasch an, um dann der Dame ungehindert in ihren Mantel helfen zu können. Im übrigen ermöglicht das Verhalten der Theaterbesucher vor den Garderobentischen interessante Rückschlüsse auf Größe und Einrichtung der einstigen Kinderstube. Als ob es auf diese fünf Minuten ankäme!

Kritik sollte nicht um ihrer selbst willen geübt werden. Leute, deren Urteil nach dem Senken des letzten Vorhanges bereits feststeht und – noch dazu mit entsprechender Lautstärke – inmitten der anderen Besucher vorgetragen wird, sind immer verdächtig. Ganz besonders dann, wenn die Kritik negativ ist. Denn jede künstlerische Leistung muß in dem Beschauer erst einmal abklingen, ehe ein Urteil gefällt wird. Auch hier wirkt bescheidene, zögernde Zurückhaltung wesentlich angenehmer als die in Sekundenschnelle gebildete endgültige Meinung, die häufig doch nichts anderes ist als der Versuch, eine gewisse Unsicherheit zu verbergen.

Man sieht, daß sich auf künstlerischen Veranstaltungen nur allzu leicht Fehler des guten Tons in unser Benehmen einschleichen, die sich andererseits bei einigem guten Willen ebenso unschwer vermeiden ließen.

Wir waren uns zu Beginn unserer Betrachtung darüber klargeworden, daß der Besuch festlicher Veranstaltungen nicht nur innere Bereitschaft verlange, sondern auch äußerlich in einer ihrem Charakter entsprechenden Kleidung erfolgen müsse.

Festlichste künstlerische Abendveranstaltung ist die Oper. Glanzvolle Premieren und Festspiele im Charakter der Bayreuther Wagner-Tage rechtfertigen Frack und großes Abendkleid – insbesondere natürlich, wenn man seinen Platz in der Festloge hat. Zum Abendkleid der Dame ist allerdings zu bemerken, daß das große Dekolleté durch Schal oder Schulterpelz verdeckt sein muß. Smoking und kleines Abendkleid dagegen sind zu diesen Anlässen immer richtig. Doch heißt das – so festlich der Abendanzug auch aussehen mag – nicht, daß der dunkle Anzug mit weißem Hemd und grauem Seidenbinder sowie das elegante, einfarbige [284] (möglichst schwarze) Nachmittagskleid den Genuß der Darbietung unbedingt beeinträchtigen müßten. Zu dieser Aufmachung aber sollte man sich grundsätzlich aufraffen – der Umgebung, den Schauspielern und dem Komponisten zu Ehren.

Für die Operettenpremiere genügen Smoking und kleines Abendkleid, während laufende Vorstellungen ohne weiteres in dunklem Anzug und ebensolchem Nachmittagskleid besucht werden können. Mit dem Frack in der Operette dagegen wird man in den meisten Fällen »overdressed« sein.

Auch zu Theaterpremieren macht sich der Smoking gut, wenngleich heutzutage leider fast nur noch ältere Herren diesen korrekten Anzug wählen. Eigentlich ist es schade, daß die jüngere Generation vielfach das Gefühl dafür verloren hat, wie stark sich die Freude an einem künstlerischen oder auch nur unterhaltsamen Abend durch Wahl der passenden festlichen Kleidung steigern läßt.

Für Konzerte genügen fast immer der dunkle Anzug mit weißer Wäsche und das entsprechende Kleid. Der Abendanzug ist nur den ausführenden Musikern vorbehalten. Das gleiche gilt für abendliche Vorträge und ähnliche Veranstaltungen.

Sogenannte Matineen sind künstlerische Vormittagsveranstaltungen, die zumeist gegen 11 Uhr beginnen und aus verschiedenen Anlässen (etwa der Eröffnung von Ausstellungen, der Ehrung Lebender oder Verstorbener) stattfinden. Hier darf die frühe Tagesstunde nicht zu heller oder gar sportlicher Kleidung verleiten. Vielmehr gilt es, eine dem Charakter der Veranstaltung angepaßte gedeckte, besser noch dunkle Kleidung (Herren mit weißer Wäsche und grauem Binder) zu wählen. Hier behalten die Damen den Hut auf.


Wenn wir unsere Betrachtungen über künstlerische Veranstaltungen und jene Punkte, die in ihrem Zusammenhang nur allzugern vergessen werden, mit einem Hinweis auf das Kino beschließen, dann nicht etwa, weil es immer eine Stätte der Kunst ist. Leider ist das nur selten der Fall. Dennoch gilt viel von dem, was wir soeben sagten, auch für diese – nennen wir sie: Stätte der Unterhaltung. Nicht etwa in puncto Kleidung. Lichtspielhäuser werden gewissermaßen im Vorbeigehen besucht und gestatten auch sportliche Straßenkleidung. Darum also geht es nicht. Es geht vielmehr um die Tatsache, daß ein großer Teil der Kinobesucher, insbesondere der jüngeren, glaubt, mit der Eintrittskarte auch das Recht zur Mißachtung jeder Höflichkeit und Rücksichtnahme erworben zu haben.

Auch im Kino könnten


Zuspätkommende sich bei den bereits Sitzenden entschuldigen und sich mit der Vorder-, nicht mit der Rückfront an ihnen vorbeischlängeln,


[285] seitlich Sitzende auf mehrfache Bitten der Platzanweiserinnen zur Mitte aufrücken und so die Füllung der Reihen vereinfachen,


Damen ihre Monstrehüte abnehmen,


Liebespaare auf ein zärtliches Tête-à-tête verzichten und damit den hinter ihnen Sitzenden einen ungestörten Blick auf die Leinwand ermöglichen (die Kinositze stehen nämlich »auf Lücke«),


männliche und vor allem weibliche Besucher ihre Konfekt-, Schokolade-, Bonbon- und Kaugummipackungen vor Beginn des Hauptfilmes öffnen, anstatt während der ganzen Vorstellung mindestens die umsitzenden fünfzig Besucher durch ununterbrochenes Geknister zu stören,


die Besucher beiderlei Geschlechts darauf verzichten, ihrer Umgebung das Verständnis des Films durch geistreiche Kommentare wie »Jetzt küßt er sie!«, »Du, guck mal, wie der schießt!« oder »Mensch, Errol, paß auf, hinter dir!« zu erleichtern,


die Besucher schweigen (eine nicht geringe Anzahl von Leuten ist nämlich – erstaunlicherweise! – in die Vorstellung gegangen, um dem Geschehen auf der Leinwand zu folgen, und nicht, um sich eine halbe Stunde lang die Beschreibung des Krachs anzuhören, den der Nebenmann im Büro hatte und unbedingt während der Vorstellung seiner Begleiterin erzählen muß),


alle Anwesenden berücksichtigen, daß sich die Mehrzahl der Besucher den Genuß eines bescheidenen und verhältnismäßig billigen, vielleicht sogar des einzigen Vergnügens leisten, nicht aber sich über die Rücksichtslosigkeit anderer ärgern möchte.


Stätten der Besinnung: Dann und wann führt uns das Leben auch an Stätten, die für besinnliches Nachdenken und innere Einkehr geschaffen sind. Ihr Besuch erfordert innere Bereitschaft ebenso wie äußere Form.


Kirchen sind Gotteshäuser und damit höchste Weihestätten, denen wir auch dann Achtung schuldig sind, wenn wir nicht ihrer Glaubensrichtung angehören. Jede Religionsgemeinschaft hat ihr eigenes Zeremoniell, dessen Sitten sich auch der Außenstehende anzuschließen hat, selbst wenn er nur aus Gründen des Interesses und der Neugier das Gotteshaus betritt. Nichts wäre taktloser, als die Unterschiedlichkeit der eigenen Glaubensrichtung durch Mißachtung jenes Rituals zu demonstrieren, das anderen heilige Handlung ist. Der wahre Gläubige [286] ist in der Kirche mit sich und dem Höchsten allein – er hat Anspruch darauf, daß man seinen Glauben achtet und seine Zwiesprache mit Gott nicht stört. Das oberste Gebot in einem Gotteshaus heißt Ruhe.

Wer eine Kirche seines eigenen Glaubens betritt, hält sich an die ihm vertrauten Riten. Während der Protestant zur Sitzbank schreitet und, bevor er Platz nimmt, stehend ein stummes Gebet verrichtet, verhält der Katholik einen Augenblick vor dem am Eingang aufgestellten Weihwasserbecken.

Gotteshäuser Andersgläubiger betritt der taktvolle Mensch nach Möglichkeit nicht während eines Gottesdienstes, dessen Gebräuche ihm fremd sind. Sein zwangsläufig unsicheres Verhalten könnte eine Störung der Gläubigen bedeuten. Wer es dennoch tut, besitze so viel Feingefühl, sich unauffällig abseits zu halten und damit Rücksicht und Achtung anzudeuten.

Den vom Kirchendiener erbetenen Obolus verweigere man nicht. Jede Kollekte dient einem guten Zweck.

Die Kleidung entspreche der Würde des Ortes. Helle Sommeranzüge passen ebensowenig wie grell geblümte, dekolletierte Kleider oder gar Hosen bei weiblichen Besuchern. Nur schlichte Kleidung in gedeckten bzw. dunklen Farben ist zulässig. Auffälliger Schmuck gehört nicht in die Kirche. Im Süden sind für Frauen Kopfbedeckungen (Hut oder Schleier) unerläßlich. Frauen in langen oder gar kurzen Hosen müssen damit rechnen, der Kirche verwiesen zu werden. Papstempfänge, päpstliche Messen und Besuch der Peterskirche in Rom verlangen für weibliche Besucher einen schwarzen Schleier zum hochgeschlossenen schwarzen Kleid.

Im Gegensatz zu evangelischen und katholischen Gotteshäusern entblößen männliche Besucher in jüdischen Tempeln das Haupt nicht.


Auch andere Weihestätten, wie Friedhöfe und Ehrenmale, verlangen die ihnen gebührende Ehrfurcht.

Auffälliges Gebaren und laute, ungezwungene Unterhaltung sind hier fehl am Platze. Der Besuch eines Friedhofes sollte uns auch dann nachdenklich stimmen, wenn keiner der unseren daselbst zur letzten Ruhe gebettet wurde. Und wir werden – wenn überhaupt – nur auf den breiten Hauptwegen den Hut auf dem Kopf behalten, ihn aber stets abnehmen, sobald wir die schmalen Wege zwischen den Gräbern betreten.

Auch an Ehrenmale treten wir mit dem Hut in der Hand heran. Wir sind diese Geste denen schuldig, deren Gedenken das Mal gilt.


Die heranwachsende Generation. Das Geheimnis der guten Erziehung unserer Jugend ist eigentlich gar kein Geheimnis. Es gilt nur, die vorhandenen Anlagen [287] zu fördern, sofern sie gut sind – zu korrigieren, wo sie der Korrektur bedürfen. Während der Schulzeit erfolgt diese Formung der jungen Charaktere im Wechselspiel zwischen Elternhaus und Schule. Eltern und Lehrer arbeiten – wenigstens sollte es so sein – nebeneinander an der Erreichung des gleichen Zieles. Darüber sollten sich vor allem die Eltern klar sein. Nichts wäre unklüger, als im Schulbesuch der Sprößlinge nur eine lästige Gesetzespflicht zu sehen. Nicht wenige Eltern neigen jedoch zu dieser Verkennung und unterschätzen den tiefen Ernst, mit dem der überaus größte Teil der Erzieher seinem Beruf nachgeht. Nur – eines sollte nicht übersehen werden: die harmonische gegenseitige Ergänzung zwischen Elternhaus und Schule. Zweck der Schule ist es in erster Linie, korrektes Wissen zu vermitteln, selbstverständlich unter gleichzeitiger Überwachung des charakterlichen Wachstums. Die anderen großen Aufgaben aber, Erziehung und Entwicklung der Persönlichkeit, obliegen vornehmlich dem Elternhaus!


In der Schule erkennt man die Eltern an den Kindern. Wie leicht und einfach wird dem Lehrer seine verantwortungsvolle Aufgabe gemacht, wenn er sich vom Elternhaus unterstützt weiß. Wenn der ihm anvertrauten Jugend bereits vom Elternhaus das Fundament an Erziehung, Charakter und Einsicht mitgegeben wurde, auf dem er weiterbauen kann.

Leider neigen manche Eltern dazu, ihre Sprößlinge zu vergöttern und sie fühlen zu lassen, wie stolz sie auf sie sind. Dieses Verhalten macht die Kinder zuweilen eitel und erschwert dem Lehrer seine Arbeit. Keinesfalls darf ein Kind in seinen Eltern Verbündete gegen den Lehrer haben. Nichts wäre falscher, als die Junioren in ihrem Glauben zu bestärken, sie müßten für Schule und Lehrer lernen und arbeiten. Verhängnisvoller ist die gar nicht seltene elterliche Einstellung, daß mangelnde Leistung ihrer Kinder grundsätzlich Schuld der Lehrkräfte sein müsse.

Wer seinen Kindern im Elternhaus die korrekte eigene Welt täglich vorlebt, gewöhnt sie spielend an die Regeln des Lebens, ohne die es nun einmal nicht geht. Und es ist besser, die Heranwachsenden lernen diese Regeln frühzeitig an Hand des vorbildlichen Beispiels innerhalb der eigenen Familie, als daß ihnen das Leben später eine plötzliche und dann um so schwerer fallende Umstellung abverlangt.

Kluge Eltern werden deshalb bemüht sein, ihrem Sprößling bereits frühzeitig von sich aus soviel wie möglich mitzugeben. Es sind dies Gaben von bleibendem Wert, die niemand mehr den Kindern nehmen kann und die später einmal ein unersetzliches Lebenskapital darstellen. Ständiger Kontakt mit den Lehrkräften ist ebenso wichtig wie die Stützung des Lehrers als Respektsperson.

Eine Schule kann ihre verantwortungsvolle Aufgabe der Formung junger Menschen [288] nur dann vollkommen erfüllen, wenn sie sich von den Eltern unterstützt weiß. Pflicht der Eltern ist es daher, die Kinder nicht sich selbst zu überlassen, sondern – unmerklich – zu überwachen. Diese Überwachung umfaßt die Erziehung zur Pünktlichkeit ebenso wie zur gründlichen Erledigung der von der Schule gestellten Aufgaben. Sie erstreckt sich auch auf eine sinnvolle Kontrolle des Freundeskreises, der nicht selten einen starken Einfluß auf die heranwachsenden jungen Menschen ausübt – im guten wie im schlechten Sinne. Sie vergißt ferner nicht die Vermeidung all dessen, was das Kind in seiner oft unverständlichen Überempfindlichkeit in Gegensatz zu seinen Gefährten bringen könnte: Wohlsituierte Eltern werden, wenn sie klug sind, ihre Kinder trotz ihrer Möglichkeiten zur Bescheidenheit erziehen. Großmannssucht und Hochmut fallen besonders in jugendlichem Alter auf fruchtbaren Boden. Andererseits muß das Elternhaus auch verstehen, dem Kinde klarzumachen, daß Armut keine Schande ist. Es darf nicht so sein, daß dem Kind der Schulbesuch zur Qual wird, weil es glaubt, sich seiner bescheidenen Verhältnisse schämen zu müssen. Das aber wird um so weniger der Fall sein, je aufmerksamer gutsituierte Eltern zu verhindern verstehen, daß ihren Söhnen und Töchtern die Wohlhabenheit des Elternhauses zum Bewußtsein kommt.

Und noch eines mögen sich die Eltern klarmachen: Die Schule ersetzt nicht die Erziehung des Elternhauses. Sie vermittelt – wir sagten es schon – in erster Linie Wissen. Die Persönlichkeit und den Charakter aber formt das elterliche Heim. Je mehr das Leben in diesem Heim Vorbild ist, um so leichter wird die Schule sich ihrem eigentlichen Zweck widmen können. Deshalb, liebe Eltern:

Vermittelt euren Kindern täglich erneut die Erkenntnis, daß die Schule ihrem Wohle und damit ihrer Zukunft dient.

Gute Manieren, die ihr ihnen beibringt, machen sie immun gegen schlechte Einflüsse von außen.

Die Ordnung, die ihnen in eurem Hause in Fleisch und Blut übergeht, kommt ihnen in der Schule zustatten.

Interessiert euch für das, was eure Kinder lernen – seid noch einmal mit ihnen jung.

Wenn ihr ihnen ihre Sorgen tragen helft, werden sie nur halb so schwer wiegen.

Versucht, mit ihrem wachsenden Wissen Schritt zu halten. Erinnert euch eurer eigenen Schulzeit und des Gelernten. Ihr profitiert nicht nur selbst, sondern steigt in der Achtung eurer Kinder.

Laßt den Kindern genügend Zeit, sich in Sport und Spiel auszutoben. Die Jugend will Bewegung, insbesondere nach getaner Arbeit.

[289] Habt ein offenes Ohr für die großen und kleinen Sorgen der jungen Menschen. Euer Rat wird richtig sein – fremder dagegen kann verderblich wirken.

Am Auftreten eurer Kinder vermag ein Außenstehender euch zu erkennen.

Erzieht eure Kinder zu absoluter Ordnung und Pünktlichkeit, im Äußeren wie im Innern.

Laßt Unehrlichkeit den Lehrern gegenüber ebenso wenig durchgehen wie euch selbst gegenüber.

Sucht die Ursachen charakterlicher Mängel zuerst in eurer Erziehung und erst dann bei euren Kindern.

Lenkt eure Kinder erst dann mit strenger Hand, wenn Güte versagt.

Tadelt nicht nur – lobt auch!

Vergeßt schließlich nicht, daß auch ihr einmal jung wart.


Auf der Hochschule – Student sein, wenn die Veilchen blühen! Wieviel frohe Unbeschwertheit klang aus diesem Studentenlied, das noch vor einem Vierteljahrhundert in fröhlicher Runde gesungen wurde. Der heutigen akademischen Jugend bleibt wenig Zeit zum Singen. Ihre finanzielle Sicherheit ruht nur noch vereinzelt auf der soliden Basis des väterlichen Monatswechsels. Ein großer Teil verdient sich sein Studium selbst und hat kaum noch Zeit, um der angegriffenen Ehre oder des Nachweises der Männlichkeit willen Mensuren zu schlagen, strengem Bierkomment zu folgen und der Filia hospitalis Ständchen zu bringen. (Tempora mutantur – dieses Wort von den geänderten Zeiten sprach vor 1100 Jahren der wenig glückliche Kaiser Lothar I., der 855 die Reichsteilung einleitete. Nos mutamur in illis – daß »wir uns mit ihnen ändern«, mag der Verfasser feststellen dürfen, da er selbst einst mehr als zwei Dutzend Male dem Komment gehorchte und die Klingen kreuzte.)

Das Studentenleben von heute hat nichts mehr von der früheren Romantik, und die alte Burschenherrlichkeit ist fast ausnahmslos dem unerbittlichen Kampf ums Dasein, d.h. um die Mittel für das Studium gewichen.

Ich las da kürzlich in einer Reportage über die Lebensbedingungen der gegenwärtig etwa 115 000 westdeutschen Studenten einen nachdenklich stimmenden Satz: »Etwa die Hälfte unserer Studenten benötigt die der Zukunft gewidmete Zeit, um die Gegenwart zu ermöglichen ...« Daraus ergibt sich zwangsläufig eine gegenüber der vorigen Generation veränderte Situation. An die Stelle romantischer Fröhlichkeit ist die moderne Sachlichkeit getreten, deren es bedarf, wenn man trotz des gestiegenen Lebenshaltungsindexes mit einem erschreckend geringen Existenzminimum auskommen muß.

[290] Es liegt daher auf der Hand, daß Kleidung und Auftreten nicht mehr eine Vollendung aufweisen, wie sie in wirtschaftlich ruhigeren Zeiten den Studenten auszeichnete. Nichts also wäre ungerechter, als von dem augenblicklichen akademischen Nachwuchs einen vollen Kleiderschrank und jene gesellschaftliche Schule verlangen zu wollen, die einst das wohlfundierte Elternhaus und die studentische Korporation vermittelten. Andererseits aber sollten gerade die bewundernswerte Selbständigkeit, der Fleiß und die Energie, die ein solches Leben erfordert, die jungen Menschen nicht hochmütig machen. Stolz – ja, stolz dürfen sie sein auf das, was sie leisten. Hochmut aber steht ihnen dennoch schlecht an. Ich denke da an ein


B. In der Öffentlichkeit

paar Studenten beiderlei Geschlechts, die mit ihrem Werkstudententum [291] zugleich eine neue Ära der gelockerten Manieren einleiten möchten. Vermutlich wird es wenig Sinn haben, ihnen jetzt gewissermaßen auf die Schultern zu klopfen und zu sagen:

Liebe junge Freunde – es ist bewundernswert, was ihr leistet und wie tapfer und fleißig ihr euer Ziel verfolgt! Aber auch ihr werdet ja einst das gesellschaftliche Spiel des Lebens nach alten und bewährten Regeln spielen und euch aus diesem Grunde eines Tages mit eben diesen Regeln vertraut machen müssen. Wenn ihr dereinst einmal zur geistigen Elite zählen wollt – und dafür arbeitet ihr ja so verbissen –, dann werdet ihr gewisse Klippen genauso geschickt umsteuern müssen, als ob ihr in der Geborgenheit eines gutsituierten Elternhauses und nicht im grauen, unerbittlichen Alltag aufgewachsen wärt. Nur wenige werden euch dauernde Verstöße gegen die Etikette nachsehen, die nun einmal integrierender Bestandteil menschlicher Gemeinschaft ist. Gerade weil ihr so fest auf eigenen Füßen steht, sollte es euch leichtfallen, euch selbst zur Einhaltung dieser Regeln zu zwingen. Vergeßt vor allem nicht, daß sie euch euer Fortkommen ungewöhnlich erleichtern werden, weil die große Umwelt gesellschaftlichen Außenseitern gegenüber nun einmal ein – nicht selten berechtigtes – Mißtrauen hegt.

Wie gesagt, vielleicht würde ein solcher gutgemeinter Rat kein Echo finden. Und doch läge eigentlich nichts näher, als mit dem gleichen Eifer, der der wissenschaftlichen Arbeit entgegengebracht wird, auch dieses »Studium« zu betreiben. Es kostet materiell nichts und verlangt geistig nur die natürliche Erkenntnis, daß ein Leben in vollendeten Formen nicht nur Freude macht, sondern auch weiterbringt.

Eines, liebe Freunde, habt ihr uns Älteren voraus: Während man uns doch noch dann und wann zur Arbeit anhalten und daran erinnern mußte, daß wir ja für uns und das Leben, nicht für Universität und Elternhaus lernten, bedarf es dieses Hinweises bei euch nicht. Ihr seid ehrlich bestrebt, euer Studium so schnell wie möglich hinter euch zu bringen und zu geordneten Verhältnissen zu gelangen. An euch trat der Ernst des Lebens frühzeitiger heran, als es bei uns der Fall war. Ist das nicht ein Grund zur Dankbarkeit? Und so bleibt denn, trotz der Anerkennung, die ihr verdient, bescheiden – euren Kommilitonen ebenso wie euren Lehrern gegenüber.

Ehrt das große Wissen derer, die eure Hochschullehrer sind. Begegnet ihnen mit der Achtung, die ihre geistige Kapazität verdient. Bemüht euch, durch strenge Selbsterziehung jede Kritik an eurem Auftreten zu vermeiden. Daß ihr eher selbständig wurdet, ist nicht nur Leistung, sondern bringt auch die Verpflichtung zur entsprechenden Reife mit sich. Reife aber geht stets mit geschliffener Form Hand in Hand – oder sollte es wenigstens.

[292] Vergeßt nicht, daß jene, die eure Lehrer sind, sich selbst dem Prinzip einer vernünftigen Etikette unterordnen. Ihr werdet sie schwerlich davon überzeugen können, daß gutes Benehmen ein alter Zopf sei. Also, meine Herren Studiosi:

Eure Kleidung kann sauber und geschmackvoll sein, auch wenn sie nicht der Mode entspricht. Der Hörsaal ist kein Existentialistenklub.

Eure Hände mögen von der Bauarbeit, mit der ihr euer Studium finanziert, Schwielen tragen – dennoch brauchen sie nicht schmutzig und ungepflegt zu sein.

Ungeschnittene Haare zeugen nicht unbedingt von Genialität, lassen jedoch mit Sicherheit eine allgemeine Ungepflegtheit vermuten.

Pünktlichkeit ist selbstverständliche Pflicht gegenüber den Professoren wie den anderen Studierenden. Das Viertel nach jeder vollen Stunde, mit dem die Vorlesungen beginnen (c.t. – cum tempore), ist akademisch – jede weitere Minute nur noch unhöflich.

Auch in der Mensa, der preiswerten Hochschulgaststätte, könnt ihr so formvollendete Manieren an den Tag legen wie im gepflegten Restaurant. Nur Narren werden darüber lächeln.

Euren Lehrern gegenüber schlagt jenen höflichen Ton an, auf den wissenschaftliche Leistung, höheres Alter und gute Form Anspruch haben. Es wird euch möglicherweise einst im Examen zugute kommen – was allerdings nicht heißen soll, daß die Beherrschung der Etikette allein zum Staatsexamen ausreicht.

Versucht bereits während eurer Studienzeit, euch der Umwelt gegenüber so korrekt, zivilisiert und gut zu benehmen, wie man es später von euch erwarten wird. Zu dieser Umwelt gehören auch eure Kommilitonen. Je früher ihr einsehen lernt, daß auch gute Manieren Lebenskapital sind, um so eher wird man euch für voll nehmen.

Freut euch eures täglich wachsenden Wissens, aber spielt es nicht bei jeder Gelegenheit in den Vordergrund. Wahres Wissen macht eher bescheiden als hochmütig.

Behandelt schließlich eure Kommilitoninnen als Damen – auch wenn sie mit euch zum gleichen Examen büffeln.

Ansonsten überlegt einmal ganz genau, ob nicht auch ihr nach den gleichen Prinzipien leben könnt, die ein großer Kreis von Menschen guten Willens als die einzig richtigen erkannt hat. Ihr werdet über den Erfolg staunen.

Quelle:
Graudenz, Karlheinz: Das Buch der Etikette. Marbach am Neckar 1956, S. 236-294.
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