Sykosis

[103] Zuerst also von der Sykosis, als demjenigen Miasm, welches die bei weitem wenigsten, chronischen Krankheiten erzeugte und nur von Zeit zu Zeit herrschend war. Diese Feigwarzen-Krankheit – welche in neuern Zeiten, vorzüglich während der französischen Kriege, in den Jahren 1809 bis 1814, so sehr verbreitet war, seitdem aber sich immer seltner und seltner zeigte – ward fast stets vergeblicher und schädlicher Weise (weil man sie für gleichartig mit der venerischen Schanker-Krankheit hielt) innerlich mit Quecksilber behandelt, die an den Zeugungs-Theilen entstandnen Auswüchse hingegen (denn an diesen Theilen pflegen sie zuerst sich hervorzuthun), welche gewöhnlich, doch nicht immer, unter Ausfluß einer Art Trippers1 aus der Harnröhre, nach geschehner Ansteckung durch Beischlaf nach mehren Tagen, auch wohl nach mehren, und selbst vielen Wochen ausbrechen, seltner trocken und warzenartig, öfterer weich, schwammig, specifisch (süßlicht und fast wie Heringslake) stinkende Feuchtigkeit aussiepernd, leicht blutend, in Form eines Hahnekamms oder des Blumenkohls (brassica botrytes) beim Manne auf der Eichel und an, oder unter der Vorhaut aufsprießen, beim Weibe aber die Umgebungen der Scham und die dann geschwollene Scham selbst, oft in großer Menge, überziehn, wurden bisher von den allöopathischen Aerzten nie anders, als durch die gewaltthätigste, äußere Behandlung, durch Wegätzen, Brennen, Abschneiden oder Abbinden zerstört, mit dem natürlichen, nächsten Erfolge, daß sie gewöhnlich[104] wieder hervorkamen und wiederum ähnlicher, schmerzhafter, grausamer Behandlung vergeblich unterworfen wurden, oder wenn sie sich ja auf diese Weise zerstören ließen, mit dem Erfolge, daß die Feigwarzen-Krankheit, nachdem ihr das, für das innere Leiden vikarirende Lokal-Symptom geraubt worden, nun auf andre, und schlimmere Weise in sekundären Uebeln zum Vorscheine kommt, indem weder durch die äußern Zerstörungen der gedachten Auswüchse, noch durch das innerlich gebrauchte, der Sykosis unangemessene Quecksilber das den ganzen Organism beherrschende Feigwarzen-Miasm im Geringsten vermindert ward. Außer der Untergrabung der allgemeinen Gesundheit durch das hier nur schädliche, meist in den größten Gaben und den schärfsten Präparaten gereichte Quecksilber, brechen dann theils ähnliche Auswüchse an andern Stellen des Körpers, entweder weißliche, schwammige, empfindliche, platte Erhöhungen in der Mundhöhle, auf der Zunge, dem Gaumen, den Lippen, oder als große, erhabene, braune, trockne Knollen in den Achselgruben, am äußern Halse, auf dem Haarkopfe u.s.w. hervor, oder es entstehen andre Leiden des Körpers, von denen ich bloß die Verkürzung der Flechsen der Beugemuskeln, namentlich der Finger nennen will.

Der vom Feigwarzen-Miasm abhängige Tripper2 sowohl, als auch die genannten Auswüchse (d.i. die ganze Sykosis) werden aber am gewissesten und gründlichsten durch den innern Gebrauch des hier homöopathischen Saftes des Lebensbaums,3 in einer Gabe von etlichen, Mohnsamen großen[105] Streukügelchen, mit decillionfach potenzirter Verdünnung4 befeuchtet, und wenn diese nach 15, 20, 30, 40 Tagen ausgewirkt hat, mit einer eben so kleinen Gabe billionfach verdünnter Salpetersäure abgewechselt, deren Wirkungsdauer eben so lange abgewartet werden muß, um Tripper und Auswüchse, das ist, die ganze Sykosis hinwegzunehmen, ohne daß etwas Aeußeres anzubringen nöthig wäre, als in den veraltetsten und schwierigsten Fällen das täglich einmalige Betupfen der größern Feigwarzen mit dem milden, ganzen (mit Weingeist zu gleichen Theilen gemischten) Safte, aus den grünen Blättern des Lebensbaums gepreßt.

War jedoch der Kranke zugleich mit andern chronischen Leiden behaftet, wie gemeiniglich nach so angreifenden Kuren, als bei Feigwarzen durch die allöopathischen Aerzte geschehen, so findet man oft entwickelte Psora5 mit Sykosis komplicirt, wenn vorher dergleichen, wie sehr oft, latent in ihm schlummerte, auch wohl, wenn üble Behandlung der venerischen Schanker-Krankheit vorangegangen war, diese beiden Miasmen zur dreifachen Komplikation noch mit Syphilis verbunden. Da ist es nöthig, zuerst dem schlimmern Theile, nämlich der Psora, mit den unten folgenden specifisch-antipsorischen Arzneien zu Hülfe zu kommen, und dann erst die für die Sykosis angezeigten Mittel zu brauchen, ehe man die gehörige Gabe des besten Quecksilber-Präparats, wie man gleich sehen wird, gegen die Syphilis verordnet; worauf man dann dieselbe abwechselnde Behandlung, wo nöthig, bis zur völligen Heilung erneuert. Nur muß man jeder dieser drei[106] Arten Arznei gehörige Zeit lassen, ihre Wirkung zu vollenden.

Bei dieser zuverlässigen Heilung der Sykosis von innen darf kein äußeres Mittel (außer jenem Thuja-Safte in alten schlimmen Fällen) auf die Feigwarzen angebracht oder aufgelegt werden, als bloß reine trockne Charpie, wenn sie feuchtender Art sind.[107]

Fußnoten

1 Gewöhnlich ist bei dieser Art Tripper der Ausfluß gleich vom Anfange an dicklich eiterartig, das Harnen wenig schmerzhaft, aber der Körper der Ruthe härtlich geschwollen, auch wohl auf deren Rücken mit Drüsen-Knoten besetzt und bei Berührung sehr schmerzhaft.

2 Das Miasm der gemeinen, übrigen Tripper scheint den ganzen Organism nicht zu durchdringen, sondern nur die Harn-Organe örtlich zu reizen. Sie weichen entweder einer Gabe von einem Tropfen frischen Petersilien-Saftes, wenn der öftere Harndrang seinen Gebrauch anzeigt, oder einer kleinen Gabe Hanfkraut-Saftes, der Canthariden oder des Kopahu-Balsams, je nach der verschiednen Beschaffenheit und den übrigen Beschwerden dabei, doch immer in den höhern und höchsten Kraft-Entwicklungs- (Potenzirungs-) Graden angewendet, wenn nicht schon vorher eine angreifende, reizende oder schwächende Kur durch allöopathische Aerzte eine im Körper des Kranken schlummernde Psora zur Entwicklung gebracht hat; da dann, wie häufig, oft sehr langwierige Nachtripper übrig bleiben, welche einzig durch eine antipsorische Kur geheilt werden können.

3 M.s. Reine Arzneimittell. Th. V.

4 Sind fernere Gaben Thuja erforderlich, so werden sie am hülfreichsten aus andern Potenz-Graden (VIII, VI, IV, II) genommen, eine Abwechselung von Modification des Heilmittels, die dessen Kraft, die Lebenskraft zu afficiren, erleichtert und verstärkt.

5 Die man fast nie in entwickeltem Zustande (folglich noch nicht der Komplicirung mit andern Miasmen fähig) bei solchen jungen Leuten antrifft, welche von Feigwarzen-Krankheit eben erst angesteckt und behaftet worden waren, ohne vorher eine gewöhnliche Quecksilber-Kur ausgestanden zu haben, die ohne heftigen Angriff auf die Konstitution bei Behandlung durch allöopathische Aerzte nie abzulaufen pflegt, dessen verderbliche Zerrüttung des ganzen Organisms dann auch die noch so tief schlummernde Psora erweckt, wenn dergleichen, wie so oft, im Innern vorhanden war.

Quelle:
Samuel Hahnemann: Die chronischen Krankheiten. 5 Bände, Bd. 1, Dresden, Leipzig 21835, S. 103-108.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die chronischen Krankheiten
Die Chronischen Krankheiten, Ihre Eigenthumliche Natur Und Homoopathische Heilung (1)
Die chronischen Krankheiten, 5 Bde. Ihre eigentümliche Natur und homöopathische Heilung.
Die chronischen Krankheiten, Bd.1, Theoretische Grundlagen
Die chronischen Krankheiten, ihre eigentümliche Natur und homöopathische Heilung: Erster Teil
Die chronischen Krankheiten: Theorieband