§. [128] 59.

Noch nie in der Welt wurden bedeutende Symptome anhaltender Krankheiten durch solche palliative Gegensätze behandelt, wo nicht nach wenigen Stunden das Gegentheil, die Rückkehr, ja offenbare Verschlimmerung eines solchen Uebels erfolgt wäre. Gegen langwierige Neigung zu Tagesschläfrigkeit[128] verordnete man den in seiner Erstwirkung ermunternden Kaffee, und da er ausgewirkt hatte, nahm die Tagesschläfrigkeit zu; – gegen öfteres nächtliches Aufwachen gab man, ohne auf die übrigen Symptome der Krankheit zu sehn, Abends Mohnsaft, der seiner Erstwirkung zufolge, diese Nacht einen betäubten, dummen) Schlaf zuwege brachte, aber die folgenden Nächte wurden dann noch schlafloser als vorher; – den chronischen Durchfällen setzte man, ohne auf die übrigen Krankheitszeichen Rücksicht zu nehmen, eben diesen, in seiner Erstwirkung Leib verstopfenden Mohnsaft entgegen, und nach kurzer Hemmung des Durchfalls ward derselbe hinterdrein nur desto ärger; – heftige, oft wiederkehrende Schmerzen aller Art konnte man mit dem, Gefühl betäubenden, Mohnsaft nur auf kurze Zeit unterdrücken, dann kamen sie stets erhöhet, oft unerträglich erhöhet, wieder zurück, oder andre, weit schlimmere Uebel dafür. – Gegen alten Nachthusten weiss der gemeine Arzt nichts Besseres, als den jeden Reiz in der Erstwirkung unterdrückenden Mohnsaft zu geben, welcher davon die erste Nacht vielleicht schweigt, aber die folgenden Nächte nur desto angreifender wird, und wenn er dann nochmals und abermals mit diesem Palliative in hochgesteigerter Gabe unterdrückt wird, so kommt Fieber und Nachtschweiss hinzu; – eine geschwächte Harnblase und daher rührende Harnverhaltung, suchte man durch den antipathischen Gegensatz der die Harnwege aufreizenden Cantharidentinctur zu besiegen, wodurch[129] zwar Anfangs Ausleerung des Urins erzwungen, hinterdrein aber die Blase noch unreizbarer und unvermögender wird, sich zusammenzuziehen, und die Harnblasen-Lähmung ist vor der Thüre; – mit den in starker Gabe die Därme zu häufiger Ausleerung reizenden Purgir-Arzneien und Laxir-Salzen wollte man alte Neigung zu Leibverstopfung aufheben, aber in der Nachwirkung ward der Leib nur desto verstopfter; – langwierige Schwäche will der gemeine Arzt durch Weintrinken heben, was doch nur in der Erstwirkung aufreizt, daher sinken die Kräfte nur desto tiefer in der Nachwirkung; – durch bittre Dinge und hitzige Gewürze will er langwierig schwache und kalte Magen stärken und erwärmen, aber der Magen wird von diesen nur in der Erstwirkung aufregenden Palliativen in der Nachwirkung nur desto unthätiger; – lang anhaltender Mangel an Lebenswärme so wie Frostigkeit, soll auf verordnete warme Bäder weichen, aber desto matter, kälter und frostiger werden die Kranken hinterdrein; – stark verbrannte Theile fühlen auf Behandlung mit kaltem Wasser zwar augenblickliche Erleichterung, aber der Brennschmerz vermehrt sich hinterdrein unglaublich, und die Entzündung greift um sich und steigt zu einem desto höhern Grade62; – durch Schleim erregende Niesemittel will man alten Stockschnupfen heben, merkt aber nicht, dass er durch diess Entgegengesetzte immer mehr (in der Nachwirkung) sich verschlimmert,[130] und die Nase nur verstopfter wird; – mit den in der Erstwirkung die Muskelbewegung stark aufreizenden Potenzen der Electrisität und dem Galvanism, setzte man langwierig schwache, fast lähmige Glieder schnell in thätigere Bewegung; die Folge aber (die Nachwirkung) war gänzliche Ertödtung aller Muskel-Reizbarkeit und vollendete Lähmung; – mit Aderlassen wollte man langwierigen Blutandrang nach dem Kopfe wegnehmen, aber es erfolgte darauf stets grössere Blutaufwallung; – die lähmige Trägheit der Körper- und Geistesorgane, mit Unbesinnlichkeit gepaart, welche in vielen Typhus-Arten vorherrschen, weiss die gemeine Arzneikunst mit nichts Besserm zu behandeln, als mit grossen Gaben Baldrian, weil dieser eins der kräftigsten, ermunternden und beweglich machenden Arzneimittel sey; ihrer Unwissenheit war aber nicht bekannt, dass diese Wirkung bloss Erstwirkung ist, und dass der Organism nach derselben jedesmal in der Nachwirkung (Gegenwirkung) in eine desto grössere Betäubung und Bewegungslosigkeit, das ist, in Lähmung der Geistes- und Körper-Organe (und Tod) mit Gewissheit verfällt; sie sahen nicht, dass gerade diejenigen Krankheiten, die sie am meisten mit dem hier opponirten, antipathischen Baldrian fütterten, am unfehlbarsten starben. – Den kleinen, schnellen Puls in Kachexien frohlockt der Arzt alter Schule63,[131] schon mit der ersten Gabe von (in seiner Erstwirkung den Puls verlangsamernden) unvermischten Purpur-Fingerhut auf mehrere Stunden langsamer erzwungen zu haben, aber bald kehrt dessen Geschwindigkeit zurück; wiederholte, nun verstärkte Gaben bewirken immer weniger und endlich gar keine Minderung seiner Schnelligkeit, vielmehr wird er in der Nachwirkung nun unzählbar; aller Schlaf, Esslust und Kraft weicht und der baldige Tod ist unausbleiblich stets die Folge, wenn nicht Wahnsinn entsteht. Wie oft man, mit einem Worte, durch solche entgegengesetzte (antipathische) Mittel, in der Nachwirkung die Krankheit verstärkte, auch oft noch etwas Schlimmeres damit erreichte, sieht die falsche Theorie nicht, aber die Erfahrung lehrt es mit Schrecken.


Quelle:
Samuel Hahnemann: Organon der Heilkunst. Dresden, Leipzig 51833, S. 128-132.
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