II. Marcus Herz und das Haus

[90] Herz, der auf Veranlassung des sehr wissenschaftlichen Kaufmanns David Friedländer und in dessen Begleitung von Königsberg nach Berlin gekommen war, hatte außer der Heilkunde auch Philosophie studirt. Er hatte schon in Königsberg einige scharfsinnige philosophische Schriften verfaßt, und war Kant's geliebter Schüler. Seine frühe Jugendzeit hatte er in sehr beschränkten Verhältnissen und in sehr gewöhnlicher Umgebung zugebracht, die spätere blos in wissenschaftlichem Umgange. So lernte er eigentlich weder Menschen noch Welt kennen, und sein Geist wurde in viel höherem Grade ausgebildet als sein Charakter. –

Schon in Königsberg hatte er viel von der Bildung gehört, welche in Berlin durch alle Stände verbreitet sei, und so kenntnißreich er war, so trat er doch aus diesem Grunde seine Reise hierher mit einer gewissen Bangigkeit an. Die Antwort eines Schusterburschen sollte ihn sehr bald in seiner Furcht bestärken. Er hatte unterweges einen seiner Pantoffeln verloren, und kaum hier angekommen, bestellte er sich einen anderen genau nach dem Muster des übriggebliebenen. Diese Bedingung fand sich jedoch keinesweges[91] erfüllt als der neue Pantoffel ankam, und er fragte etwas erzürnt den Ueberbringer, den Burschen des Schuhmachers, ob er wohl in der That der Meinung sei, daß dieser Pantoffel dem anderen völlig gleiche? – So auffallend nun auch die Ungleichheit war, so brachte dies den Jungen doch nicht einen Augenblick in Verlegenheit. Er maß vielmehr Herz mit keckem Blicke von oben bis unten, und sprach dann. »Sie wissen wohl noch nicht, liebes Herrchen, daß es in der ganzen Welt nicht zwei völlig gleiche Dinge giebt?« –

Herz sprang ganz verblüfft vom Stuhle auf, zahlte schweigend den Pantoffel, und ließ eine ziemliche Zeit vergehn bis er sich in eine Berliner Gesellschaft wagte.

Indeß wurde er bald inne, daß er auch die geistreichste nicht zu scheuen habe. Nicht nur sein Wissen machte ihn für eine Jede geeignet, sondern auch sein stets bereiter Witz, der ihm die schlagendsten, wenngleich bisweilen wenig schonenden Repliken eingab, die bald in der ganzen Stadt umliefen. –

Schon zur Zeit unserer Verheirathung war Herz ein geachteter Arzt. Bald wurde er ein sehr gesuchter, und dies brachte uns in gesellige Beziehungen zu vielen größtentheils sehr achtbaren Familien, welche er ärztlich behandelte. In Kurzem fing er auch an, in unserer Wohnung philosophische Collegia zu lesen, zu welchen sich ein sehr gewähltes Publikum einfand. Diese hatten um so mehr eine förderliche Ausdehnung unserer Verbindungen zur Folge, als er die tüchtigeren und ihm interessanteren unter seinen Zuhörern bisweilen zum Abendessen einlud. Später traten noch sehr beifällig aufgenommene Vorlesungen über Experimental-Physik hinzu, in welchen er durch vortreffliche Instrumente und[92] Apparate unterstützt wurde. Sie wurden von Personen aus den höchsten Ständen besucht, sowohl Wißbegierigen, als allerdings auch bloß Neugierigen, und führten unseren Gesellschaften viele der ausgezeichnetsten Notabilitäten zu. Diesen Vorträgen wohnten selbst die jüngeren Brüder des Königs1 bei, und auch den damals etwa fünfjährigen Kronprinzen2 brachte dessen Erzieher Delbrück mit sich, um ihn einige interessante Experimente sehen zu lassen. Ich erinnere mich, selbst für den kleinen Prinzen einige mit Phosphor angestellt zu haben.

Diesen Vorlesungen danke ich auch unter Anderem die Bekanntschaft der Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt, welche später zu einer Freundschaft für das Leben werden sollte, die meine heiteren Tage verschönt, meine düsteren erhellt hat. Sie hatten nämlich den Erzieher derselben, den späteren Geheimen Staats-Rath Kunth veranlaßt, Herz wegen der Anlage eines Blitzableiters zu Rathe zu ziehen, einer damals – es mochte um das Jahr 1785 sein – hier zu Lande noch ziemlich seltenen Vorrichtung, welcher an dem der Humboldtschen Familie gehörenden Schlosse zu Tegel angebracht werden sollte, und bald führte er uns seine beiden Zöglinge zu, welche in Kurzem in unseren geselligen Kreis eintraten. –

Unter so begünstigenden Umständen bildete sich unser Haus, von welchem ich ohne Uebertreibung sagen kann, daß es in nicht langer Zeit eines der angenehmsten und gesuchtesten Berlins wurde. Zog Herz durch sein geistreiches[93] Wesen sowie als berühmter Arzt an, so ich – die Zeit liegt jetzt weit hinter mir – durch meine Schönheit. Doch ich will nicht ungerecht gegen mich sein. Ich hatte wenigstens Sinn für alles Wissenschaftliche. Es gab kaum eine Wissenschaft, in welcher ich mich nicht einigermaßen wenigstens umgesehen hätte, und einige trieb ich ernstlich, so Physik und späterhin mehrere Sprachen. –

Herz war ein scharfer Kritiker. Es gehörte nicht viel dazu, daß er ganze Werke der Unklarheit beschuldigte. Oft und gern führte er einen Ausspruch von Malebrauche an, daß es eine ganze Klasse sehr fruchtbarer Autoren gebe, in deren Werken sich kaum eine Stelle finde, von welcher man behaupten könne daß sie selbst sie verstanden hätten.

Das Erscheinen von Göthe's Götz und Werther bezeichnete einen Wendepunkt in der schönen Literatur. Es ist begreiflich, daß ein Solcher zugleich eine allgemeine literarische Parteiung zur Folge haben mußte. Sie fehlte selbst in unserer Ehe nicht. Mich, die junge, mit lebhafter Phantasie begabte Frau zog Alles zu der neu auftauchenden Sonne, zu Göthe, hin. Mein Mann, älter, mit Lessing persönlich befreundet, in Diesem nicht nur den größten Kritiker der Deutschen, sondern, in Widerspruch mit Lessing's eigener Ansicht, einen großen Dichter achtend, wies selbst in der schönen Literatur alles zurück, was nicht mit Lessingscher Klarheit und Durchsichtigkeit geschrieben war. Er theilte diesen Sinn mit mehreren seiner Freunde, unter Anderen mit David Friedländer. Als dieser eines Tages mit der Bitte, ihm eine dunkle Stelle in einem Götheschen Gedichte zu erklären, und die stille Hoffnung im Herzen, er werde es nicht vermögen, zu ihm kam, wies er ihn mit den Worten[94] an mich: »Gehn Sie zu meiner Frau; die versteht die Kunst, Unsinn zu erklären!« –

Als einst Karl Philipp Moritz eben bei mir war, trat Herz, Göthe's Gedicht »der Fischer« in der Hand zu mir ein. – »Kühl bis an's Herz hinan!« – rief er. »Erkläre mir doch gefälligst einer, was das hier sagen will!« – »Aber wer wird dies Gedicht auch da verstehn wollen!« erwiderte Moritz, den Zeigefinger auf die Stirn legend. – Herz sah ihn groß an. – Es giebt gewiß Vieles in der Poesie, was nur demjenigen verständlich ist, welcher Gleiches oder doch Aehnliches selbst empfunden hat, und ich darf sagen, daß Herz nicht Vieles solcher Art empfunden hatte.

Mit dem Auftauchen der romantischen Schule steigerten sich nun vollends meine ästhetischen Leiden. Hier war für Herz alles unwahr oder unverständlich. Aber den Höhepunkt erreichten sie mit Novalis. Für die Mystik hat freilich die bloße Wissenschaftlichkeit kein Organ. Und dazu kam, daß auch mir allerdings in den Schriften dieses Dichters Manches unverständlich blieb, wenngleich ich seinen Geist und sein Streben im Ganzen wohl begriff. Herz, der eben in Novalis' Schriften nur blätterte um seinen Witz an ihnen zu üben, wußte meisterlich eben solche Stellen aufzufinden. Eines Tages las er mir wieder eine Solche vor, und wollte sie von mir erklärt haben. Nach einigen vergeblichen Versuchen mußte ich gestehn, daß ich sie nicht verstände. – »Aber Du meinst wohl etwa« – sprach Herz mit einem sehr sarkastischen Lächeln – »daß das Männchen selbst sie verstanden hat?« –

Und doch verdankte Herz vielleicht meiner Neigung an Geheimnisse des Geistes zu glauben, welche der kalten Vernunft[95] unerklärlich sind, sein Leben. Wenige Jahre nach unserer Verheirathung verfiel er in ein hitziges Fieber. Im Laufe desselben war zwar eine augenblickliche Besserung eingetreten, die Aerzte hofften jedoch für den Kranken wenig von derselben. Sie erklärten vielmehr, daß nur ein ruhiger Schlaf, dessen er in den 16 Tagen der Krankheit nicht genossen hatte, ihn vielleicht noch retten könnte. Schon seit mehreren Tagen, während welcher er fortwährend delirirte, hatte er wiederholt gesagt, daß er gern schlafen möchte, daß er aber in diesem fremden Hause und diesem fremden Zimmer nicht einschlafen könne. (Das fremde Zimmer war jedoch sein Studierzimmer.) Würde man ihn jedoch aus diesem Lazareth hinaus und in das Zimmer tragen, in welchem die Bildnisse Leibnitzens, Eulers, Lessings und Anderer hingen, dann würde er schlafen. Er bezeichnete damit unser Gesellschaftszimmer. Die Kälte war sehr heftig, und die Aerzte wollten eine Ortsveränderung, namentlich nach irgend einem Zimmer, welches nicht schon lange vorher durchheizt worden sei, nicht zugeben. Herz selbst würde in ihrem Falle unfehlbar die gleiche Weigerung ausgesprochen haben. Aber meine Mutter und ich drangen darauf, und als am 17. Tage der Zustand des Patienten solcher Art war, daß die Aerzte ihn völlig aufgaben, willigten sie aus dem einzigen Grunde ein, weil nun doch nichts mehr zu verlieren sei.

Vorsorglich hatten wir schon am Tage vorher das Zimmer durchheizen lassen, und es war durchwärmt als der Kranke gegen Mittag in seinem Bette hineingetragen wurde. Und fast in demselben Augenblicke verfiel er in einen ruhigen, sanften Schlaf, welcher sechs Stunden anhielt, und während dessen wir in der ängstlichsten, gespanntesten Erwartung[96] waren, weil Sello, damals einer der berühmtesten Aerzte, erklärte, daß möglicherweise der augenblicklich günstig scheinende Schlaf zum Todesschlafe werden könne. Der Patient erwachte, und die Krankheit war gebrochen. Schwämme von der Lippe bis tief in den Schlund hinein bezeichneten die Krise. – Hinterher gewann freilich der Fall für Herz selbst ein psychologisches Interesse, und er beschrieb den ganzen Krankheitsverlauf einem Freunde in einem Briefe, von welchem er später einen sehr interessanten Auszug in Moritz's »Erfahrungsseelenkunde« gab.

So sehr Herz die Geselligkeit liebte, so suchte er doch eigentlich nur Erholung von seiner Thätigkeit in ihr. Denn diese war in der That unermüdlich, und er erachtete nichts feindlicher gegen sich, als was ihn an ihr hinderte. Daher vor Allem die Migräne, an welcher er oft litt. Er trotzte ihr, so lange es irgend möglich war. War sie jedoch heftig genug, um ihn von seinen Berufsgeschäften abzuhalten, so stieg seine Ungeduld und sein Aerger, sie nicht überwinden zu können, auf's höchste. – »Aber« – rief er einmal in einem solchen Anfall dieses Uebels – »wie ist es nun, wenn ein Feldherr am Tage einer Schlacht, die über das Schicksal eines Staates entscheidet, von solcher Migräne befallen wird?«

Fußnoten

1 Friedrich Wilhelms III. Anm. d. Herausg.


2 Den jetzigen König. Anm. d. Herausg.


Quelle:
Herz, Henriette: Ihr Leben und ihre Erinnerungen.Berlin 1850, S. 97.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Ihr Leben und ihre Erinnerungen
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