Was ist ein »Spaziergang« im Gefängnis?

[69] Schon mehrmals war die unserer Abteilung im ersten Stockwerk der Gefangenanstalt zugeordnete[69] Aufseherin K. frühmorgens mit der Frage an mich herangetreten:

»Gehen Sie mit spazieren?«

Jedesmal hatte ich verneint. Denn einmal empfand ich schon gelegentlich der öfteren Vorführungen beim Hinaustreten auf Flur und Treppen durch die Wegnahme meiner Beinkleider stets ein schüttelndes Frostgefühl, sodaß ich keineswegs Luft verspürte, mich an den rauhen Märztagen im Freien noch völlig zu erkälten, dann aber war ich auch durch die lange Nahrungsenthaltung viel zu sehr geschwächt und apathisch, um mich hinausführen, noch neues auf mich einwirken zu lassen. Ruhe wollte ich haben, am liebsten für immer.

Trotzdem erregte die Frage mein Interesse. Hatte man doch in nichts seine freie Willensbestimmung, mußte man sich in allem der Gefängnisordnung einfügen, sich somit schon vor der Verurteilung durchaus als Gefangene fühlen – hier hieß es einmal nicht: »Sie müssen!« Hier wurde man noch nach seinen Wünschen gefragt. So begann eine Art Neugier in mir aufzukeimen, was und wie ein solcher Spaziergang wohl sein möge. Meine Vorstellungen davon waren ziemlich phantastisch. Hatte ich das unseren Speisen zeitweilig beigemischte Fleisch seiner Zartheit und geringen Kraft wegen anfangs für Hühnerfleisch gehalten, so war ich jetzt allen Ernstes naiv genug,[70] an einen wirklichen Spaziergang, an ein Hinausführen ins Freie zu glauben.

Als ich daher endlich nach vielen vergeblichen Bemühungen durch ärztliche Bestimmung die Herausgabe meiner Beinkleider erlangt hatte, da erwartete ich äußerst gespannt die erneute Aufforderung, der ich sofort Folge leistete. Obgleich mir nun der Gedanke peinliche Sorge verursachte, man könne uns vielleicht gar in Gefängniskleidung über die Straße führen, wie ich es einst in meiner Heimat bei den Häftlingen der Arbeitsanstalt gesehen, obgleich ich in begreiflicher Erregung die Zelle verließ, so erstaunte ich doch nicht wenig, als die Aufseherin, sich im Gange aufstellend, um die Leute »ablaufen« zu lassen – wie der reglementmäßige Ausdruck lautet – uns anwies, einzeln, eine nach der anderen in gewissen Abständen die Treppe hinunter ins Erdgeschoß zu gehen, von wo wir wieder an einer wachestehenden Beamtin vorbei eine weitere Treppe passieren mußten und dann durch einen kellerartigen Gang des Untergeschosses, in dem die Baderäume liegen, den eine jetzt offenstehende Türe abschloß, in den düsteren, rings von hohen Mauern umgebenen Gefängnishof eintraten. Hier erwartete die Ankommenden abermals eine Aufseherin, ließ jede einzelne Gefangene an sich vorbeidefilieren, um hinter der letzten die Tür zu verschließen.[71]

Diese häufig wechselnde Leiterin des einzigartigen »Spaziergangs« führte ihre Pfleglinge nun nach einem etwas freundlicher aussehenden Platze des ziemlich geräumigen Hofes, wo zwar ebenfalls die undurchdringliche graue Mauer jeden Ausblick in die Welt der Freiheit wehrte, der Einblick jedoch durch gutgepflegte Rasenflächen ein minder oder und unheimlicher war. Die vorausgehenden Eingeweihten begannen nun rüstigen Schrittes auf einem Sandwege zwischen der Mauer und dem Rasenplatze, streng die Abstände festhaltend, im Einzelmarsch hintereinander herzugehen, was aber nicht etwa nach freier Wahl geschehen durfte, wobei vielmehr jede Gefangene ihren bestimmten Platz angewiesen bekam, den sie jedesmal wieder einzunehmen hatte.

Ich selbst bin in den langen Monaten meiner Untersuchungshaft sowohl durch den häufigen Wechsel meiner Leidensgenossinen, als auch durch mehrmalige Umquartierung zwischen sehr verschiedenen Mitgefangenen »spaziert«.

Obgleich mir in meinem derzeitigen Seelenzustande die umschließende Mauer noch nicht hoch genug erschien, wenn ich bemerkte, daß sich in den gegenüberliegenden Häusern während unserer Umgänge verschiedene Fenster der oberen Stockwerke öffneten, aus denen man uns neugierig beobachtete, so habe ich doch niemals den Eindruck loswerden können,[72] daß diese Art des Luftgenießens für lange Inhaftierte körperlich keine genügende Erholung bietet, seelisch aber durch die bei den, »Spaziergängen« gehandhabte Methode für empfindliche Gemüter geradezu peinvoll werden kann. Wirkt es doch schon niederdrückend genug, wenn Untersuchungsgefangenen, deren Verurteilung noch keineswegs feststeht, selbst die kärglichen Lichtblicke ihrer Freiheitsberaubung derartig verkümmert werden, daß sie mindestens ebensosehr als in der Zellenhaft ihre Unfreiheit fühlen müssen, weil sie nicht das geringste von der Außenwelt erblicken, so verstärkt sich dieses Gefühl noch bedeutend durch die Behandlung, die ihnen bei der kleinsten Abweichung von der strengen Vorschrift zuteil wird. Ich will nicht davon sprechen, daß reglementmäßig alle Gefangenen ohne jedes Prädikat einfach bei ihren Namen angeredet werden, denn wohin sollte es führen, wenn die eine mit »Frau«, die andere mit »Fräulein«, eine dritte vielleicht gar mit einer Extratitulatur benannt würde. Wenn aber eine jugendliche Untersuchungsgefangene lediglich darum, weil sie ein lächelndes Gesicht gezeigt, sich zur Strafe mit dem Gesicht gegen die Wand gekehrt aufstellen mußte zum Gaudium schadenfroher Mitgängerinnen, wie ich dies zu verschiedenen Malen beobachtet habe, so kann solche Entwürdigung entschieden nur schädlich wirken. Ist die Gestrafte von Natur leichtfertig,[73] so macht sie sich nicht viel daraus, für andere Gegenstand eines sehr unzarten Vergnügens zu werden. Ist sie aber noch kindlich unbefangen genug, für Augenblicke die traurige Lage vergessen zu können, in der sie sich hier mit Anderen befindet, dann sollte man solchem unglücklichen jungen Geschöpf wahrlich den kurzen Lichtblick gönnen, nicht aber in jedenfalls unabsichtlich rauher Weise das Ehrgefühl im Keime ersticken. Der Schaden einer derartigen Maßregel erstreckt sich jedoch nicht auf die Betroffene allein. Sie reizt die unfreiwilligen Zuschauer, dafern sie dazu veranlagt sind, zur Schadenfreude an, wirkt somit verrohend und keineswegs im guten Sinne erzieherisch ein.

Solche und ähnliche Vorgänge, die in einer Strafanstalt noch eher am Platze gewesen wären, passierten durchaus nicht selten. Sie rechtfertigen das Urteil, das eine lange Untersuchungshaft vielfach für eine härtere Bestrafung erklärt.

Wie sehr den Untersuchungsgefangenen die unschuldigsten Freuden verübelt und gewehrt wurden, beweise ein anderes Beispiel.

Eine noch ziemlich junge Frau, die mit Sicherheit einen Freispruch erwarten zu können glaubte und sich daher zeitweise in etwas unbekümmerter Stimmung befand, hatte einmal beim Rundgange verschiedene Gräser gepflückt und zu einem kleinen[74] zierlichen Bouquet zusammengestellt. Beim »Einrücken« – wie das Hineingehen im Gegensatz zum »Abrücken« (Hinausgehen) schon ganz zuchthausmäßig bezeichnet wurde – zeigt sie ihren kleinen Schatz voll unschuldiger Freude der begleitenden Aufseherin. Diese aber nimmt ihr ohne weiteres die harmlosen Gräser aus der Hand. Und sie fortwerfend sagt sie in streng verweisendem Tone:

»Hier ist nicht der Ort, um solche Allotria zu treiben.«

Ganz verschüchtert, mit Tränen in den Augen ging die Gescholtene davon. Aber aus dem Kreise der Wandelnden ertönten halbunterdrückte Schimpfworte, unter denen die Bezeichnung »verbissene alte Jungfer« noch zu den gelindesten gehörte.

Tatsächlich ließ die Art und Weise, in der hier die Disziplin gehandhabt wurde, einen sehr ungünstigen Rückschluß auf die Behandlung im Strafhause zu, so daß viele Neulinge mit Zittern und Zagen, in tötlicher Angst ihrer Bestrafung entgegensahen. Den Versicherungen Vorbestrafter, daß es in jenen Anstalten mitunter weniger streng zugehe, war man nicht geneigt, Glauben beizumessen. Was man hier zuweilen sah, erschien allein maßgebend. Wurde man hier schon beinahe als Verbrecher gehalten, wie mußte es erst nach der Verurteilung sein. So hatte auch ich mir nach allem vom Zuchthause eine noch[75] beiweitem abschreckendere Vorstellung gemacht, und obwohl ich später die Schrecken desselben noch von der schwärzesten Seite kennen lernen sollte, so konnte und kann ich doch nicht umhin, mich dem obenerwähnten Urteil anzuschließen.

Damit will ich übrigens durchaus nicht sagen, daß die Aufsichtsbeamtinnen der Untersuchungshaft insgesamt unsympathischere Persönlichkeiten gewesen wären. Die meisten von ihnen sind mir im Gegenteil freundlich und einsichtsvoll, mitunter sogar teilnehmend begegnet. Es liegt da eben vieles in den besonderen Verhältnissen. Wie schon erwähnt haben die Aufseherinnen im Untersuchungsgefängnis einen beiweitem schwereren Stand. Sie sind abgehetzt und ebenso wie die ihrer Obhut Anbefohlenen einem steten Wechsel unterworfen, indem man sie bald an dieser, bald an jener Stelle beschäftigt, was vielleicht darin seinen Grund hat, daß man ein Vertrautwerden mit länger Inhaftierten verhindern will. Überhaupt sind diese Aufseherinnen zwar selbständiger in ihrer Amtsführung, dafür aber wieder dem Gericht verantwortlich für alle die Untersuchung betreffenden Störungen, weshalb sie auch stets gegen solche auf der Hut sind und überall Durchstechereien wittern. Das macht sie begreiflicherweise häufig nervös erregt, wozu wohl auch die weit größere Unruhe der ihr Schicksal erwartenden Gefangenen selbst viel beitragen mag.[76]

Bei diesem ersten sogenannten Spaziergange machte ich natürlich keine derartigen Erfahrungen. Ich ging zwar nicht uninteressiert, aber doch ziemlich gedrückt und von allen möglichen unangenehmen Empfindungen gequält still für mich hin, und obgleich ich wohl bemerkte, wie die Gefangenen, dem strengen Verbot trotzend, sich allerlei zuflüsterten, einander mit Mund und Hand Gebärden und Gesten machten und mit den Augen zublinkten, obgleich auch mich vielfach teils neugierige, teils teilnehmende Blicke streiften, die mich zur Mitteilung aufzufordern schienen, so kümmerte ich mich in dieser Zeit um niemanden und hatte gar kein Verlangen, mit einer der mir völlig fremden Gefangenen in Verkehr zu treten. Ich war sogar aus verschiedenen Gründen froh, als das Zeichen zum »Einrücken« gegeben und damit dieser Spaziergang, der mich in mehr als einer Beziehung enttäuscht hatte, dieses öde, geisttötende Herumtrotten zwischen hohen, kahlen Mauern, die trotzdem nicht vor dem Gesehenwerden schützten, beendet wurde.

Man pflegte die Untersuchungsgefangenen in D. wöchentlich dreimal in der beschriebenen Weise an die Luft zu führen. Da bei der großen Menge der Inhaftierten nicht alle gleichzeitig hinauskonnten, so gingen regelmäßig die Gefangenen der beiden unteren Stockwerke Montags, Mittwochs und Freitags,[77] die der oberen Dienstags, Donnerstags und Sonnabends. Der Sonntag blieb den dort internierten kurzhaftigen Sträflingen vorbehalten, so daß diese nur einmal wöchentlich hinauskamen. Auch dieser Umstand spricht zugunsten der Strafanstalten, wo die Gefangenen tagtäglich an die Luft geführt werden.

Quelle:
Hoff, Marie: Neun Monate in Untersuchungshaft. Erlebnisse und Erfahrungen, Dresden, Leipzig 1909, S. 69-78.
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