XXVI.

[225] In der Sylvesternacht 87 auf 88 begab ich mich schon wieder auf die Reise, um meine Gastspiele in Hannover, Stettin, Danzig, Mainz, Bremen, Linz und Budapest zu absolvieren.

Am 2. Januar begann ich mein vereinbartes Gastspiel am Residenztheater in Hannover.

Ich hatte vor langen Jahren, als ich in Bremen engagiert war, schon auf dem hannöverschen Hoftheater gastiert, um den damals abgegangenen Komiker von Leman zu ersetzen. Der Regisseur Marks war nach Bremen gekommen, hatte mich dort gesehen und mich dem Generalintendanten des hannöverschen Hoftheaters, Graf Platen, zum Engagement empfohlen; allein mein Gastspiel auf Engagement führte damals zu keinem Resultat, wiewohl ich mich erinnere, daß ich in der Rolle des »Peti« im Zigeuner viermal am Schluß des Stückes gerufen wurde. Ich verstand damals noch nicht, mit Grafen umzugehen, meine Schüchternheit erweckte in dem Intendanten wohl den Verdacht, daß ich ein zu großer Stoffel sei; bei meinem zweiten Besuche wurde ich gar nicht vorgelassen. Man wollte mir nach Bremen hin Bescheid geben, was nachher ganz überflüssig war, denn ich wußte sofort was die Glocke geschlagen.

Mit Bescheidenheit habe ich in meinem Leben noch nicht einen Schauspieler zu etwas kommen sehen, es gehört ein gewisses Selbstbewußtsein – um nicht zu sagen Frechheit – dazu, will der Schauspieler Carriére machen; aber durch Servilität und Speichelleckerei habe ich – wenigstens an Hofbühnen[226] – mehr hervorragende Stellungen sich erringen sehen, als durch Talente. Gute Rollen machen den Schauspieler. Wer es erreichen kann, daß er immer nur erste, dankbare Rollen spielt, wird stets vor Kritik und Publikum ein leichtes Spiel haben. Das große Publikum verwechselt immer gute Rollen und gute Darstellung.

Was Karl Sontag in seinem Buche »Vom Nachtwächter zum türkischen Kaiser« über die hannöversche Presse sagt, daß sie jeder Kunstleistung gegenüber sich apathisch verhalte und nie warme Anerkennung niederschreiben könne, habe ich auch empfunden. Mein Gastspiel wurde in den dortigen Tagesblättern entweder gar nicht oder sehr kalt und gleichgiltig besprochen. Ich traf in Hannover erst am 1. Januar ein, hatte sofort Proben und trat vom 2. Januar ab täglich auf, ich fand daher nicht Zeit, die üblichen Rezensentenbesuche zu machen. Vielleicht lag darin der Grund der kühlen Behandlung seitens der hannöverschen Presse.

Es ist einmal so der Brauch, daß der Schauspieler jeden Referenten jeder Zeitung besucht und um sein Wohlwollen und gütige Beurteilung bittet, wiewohl ich die Wahrnehmung gemacht habe, daß die vornehme deutsche Presse diese Besuche der Künstler gar nicht beansprucht. Es gibt Kritiker, die den Künstler nicht einmal empfangen, um objektiv über seine Leistungen urteilen zu können. Mit meinem verdrießlichen Gesichte habe ich nie einen angenehmen Eindruck in den Redaktionsbureaux gemacht, und ich bin meist da am günstigsten beurteilt worden, wo ich keinen Besuch abgestattet oder nur meine Karte abgegeben habe.

Das Publikum in Hannover glänzte bei meinem Gastspiele durch Abwesenheit, und erst bei der dritten und vierten Wiederholung von »Onkel Bräsig« und »Ut de Franzosentid« läpperte sich das Parquet zu einem erfreulicheren Anblick zusammen.

Trotz der gähnend leeren Häuser erhielt ich aber zu meinem Erstaunen am andern Morgen immer auf meine Hälfte so gegen 200 Mark, laut Rapport, ausgezahlt. Anfangs hatte ich Herrn[227] Direktor Wiedemann in Verdacht, daß er, um mir die Beschämung zu ersparen, aus seiner Tasche was drauf gelegt habe, allein bei aller Generosität unserer deutschen Theaterdirektoren stünde der Fall doch zu vereinzelt da. Herr Wiedemann ist ein liebenswürdiger Direktor, in seinem Hause habe ich eine seltene Gastfreundschaft gefunden, seine Gattin bereitete uns manches vortreffliche Diner, ja sie erkundigte sich nach meinen Lieblingsspeisen und überraschte mich am andern Tage damit – liebe, herzliche Menschen! – aber dem Gast mehr auszahlen als eingegangen – ich glaube das thun sie doch nicht.

Ich habe sonst eine ziemliche Geschicklichkeit, wenn ich vor Beginn der Vorstellung, oder besser noch im Zwischenakt, durch das Loch des Vorhangs sehe, die Einnahme des Abends zu schätzen, aber im Residenztheater zu Hannover vermochte ich's nicht. Während ich sonst gewöhnlich zwischen 20–50 Mark zu viel oder zu wenig schätzte, irrte ich mich in Hannover stets, es waren immer Hunderte von Mark mehr im Hause, als ich vermutete.

Es gibt ja Theater, bei denen man bei Gastspielen und Benefizen immer richtiger sagen sollte, was man »bekommen« und nicht was man »eingenommen« hat – aber wenn im Residenztheater zu Hannover der Kassier nicht etwa aus seiner Tasche drauf gelegt hat, wenn es ihm zu wenig erschien, so habe ich seit der Zeit mein Schätzungsvermögen verloren. Ich konnte von Hannover trotz der anscheinenden Teilnahmslosigkeit des Publikums nach beendetem Gastspiel einige tausend Mark nach Stuttgart senden, worüber ich die Apathie des Publikums und der Presse schnell vergaß.

Von Hannover zogen mich meine Gastspielverpflichtungen nach Stettin.

In Stettin liegt Schelper begraben, mein langjähriger Freund und Konkurrent. Das Publikum dort hat ihm große Pietät und Anhänglichkeit bewahrt, und mit Recht. Schelper war als Reuter-Interpret vollendet, ein echter Mecklenburger,[228] ein Landsmann Fritz Reuters. Was mir große Mühe machte zu erlernen, den mecklenburgischen Dialekt, das war ihm angeboren. Ich versündige mich nach der Ansicht der Mecklenburger oft gegen ihren Dialekt, man verzeiht mir diese Sünde dort nicht, während man mir in Mittel- und Süddeutschland freudigen Herzens Absolution erteilt.

Schelper war ächter, unverfälschter als ich, aber er war dadurch an seine Scholle gebunden, außerhalb der plattdeutschen Lande wurde er nicht verstanden und kehrte bei Ausflügen nach Mittel- und Süddeutschland stets schnell wieder um.

Kraeplin und Palleske haben es auch versucht, in Süddeutschland Reuter-Vorlesungen zu halten, aber auch sie blieben unverstanden.

Palleske besuchte mich einmal in Stuttgart und erzählte mir, wie er jetzt das Mittel gefunden, in Süddeutschland Fritz Reuter zu lesen.

»Nun, wie denn?« fragte ich.

»Passen Sie auf«, antwortete er, und er las mir vor:

(mit der rechten Hand am Munde nach links hinüber)

»Uns' Hanne Nüte was dat einzigst Kind«

(und dann mit der linken Hand am Munde nach rechts hinüber, in's Hochdeutsche übersetzt)

»Unser Johann Snut war das einzige Kind,«

(nach links:)

»Von oll Smid Snuten tau Gallin,«

(nach rechts:)

»Vom alten Schmied Snut zu Gallin,«

(nach links:)

»Un wo denn nu de Lüd' so sünd,«

(nach rechts:)

»Und wie denn nun die Leute sind,«

(nach links:)

»Irst säden s'tau den jungen Snüte,«

(nach rechts:)

»Erst sagten sie zu dem Jungen Snüte,«

[229] (nach links:)

»Un nahsten säden s' Hanne Nüte,«

(nach rechts:)

»Und nachher sagten sie Hanne Nüte,« etc.

»Um Gotteswillen hören Sie auf,« schrie ich »die Leute laufen Ihnen davon!«

Er war aber seiner Sache zu sicher, er las abends in dieser seiner erfundenen Manier und – es entleerten sich die Bänke, daß mir angst und bange um das Ende wurde.

»Sie haben recht gehabt,« sagte er mir nach der Vorlesung, »ich lese in Süddeutschland Fritz Reuter nicht mehr, ich lasse Ihnen Ihre Domaine, und werde mich lediglich auf Shakespeare beschränken.«

Palleske hatte mir in meinem Hause Reuters »En Prozeß will bei nich hewwen« vorgelesen, was nach seiner Meinung seine Glanznummer war.

»Lassen Sie's gut sein,« sagte ich ihm, »das habe ich alles ausprobiert, das ist nichts für den süddeutschen Geschmack.«

Palleske gab das Gedicht abends im Museum, wo er seine Vorlesung hielt, noch zum Programm – derselbe Erfolg!

Stuttgart ist ohnehin kein Ort für Vorlesungen, und wenn diese nicht vom kaufmännischen Verein, der allein über 1000 Mitglieder zählt, arrangiert werden, bleiben sie leer.

Auch Türschmann hat es in Stuttgart versucht, er las wundervoll, aber andern Tags reiste er wegen Mangel an Teilnahme weiter – und kam nie wieder!

Auch Schelper war in Stuttgart, er spielte auf dem Sommertheater der Vorstadt Berg. Die anständige Presse ließ ihm seine, mir meine Vorzüge, aber die kleinen Blättlesschreiber, die kein Wort von ihm verstanden, meinten: »Nun sieht man's erst, daß der Junkermann ein Nixkönner, und was für ein großer Mann Fritz Reuter ist.« Die Häuser blieben aber leer und Schelper kehrte nach Norddeutschland zurück.

»Du hest den Rohm hier all' runner schöppt,« sagte Schelper zu mir beim Abschied.[230]

»Ne, mien Jung«, antwortete ich ihm, »Du snackst tau veel plattdütsch, dat können de Lüd' hier nich verdrägen!«

Und so geht's in Süddeutschland. Ich weiß, daß Mecklenburger sich mit meiner Darstellung Reuter'scher Charaktere wegen meines idealisierten Dialektes nicht befreunden wollen, ich muß den Schmerz um des übrigen ganzen Deutschlands, Oesterreichs und Rußlands willen ertragen. Ich bin kein Dialektfanatiker, mir kommt es in erster Linie darauf an, verstanden zu werden, und Geist und Wesen Fritz Reuters zu interpretieren.

In Stettin natürlich sprach ich Originaldialekt und hatte die Freude, im Publikum wie durch die Presse zu vernehmen, daß man mich als Reuter-Interpret nicht hinter Schelper stellte. Ich hänge immer sehr von der »komischen Alten« ab, mit der ich spiele; habe ich durch sie keine Unterstützung, so fällt manche herrliche Scene in den Brunnen. In Stettin war die »komische Alte« des Dialekts nicht mächtig, und das geht überall durch, aber in Stettin nicht. Liebe alte Kollegin und Freundin, nimm mir's nicht übel – ich weiß wir bleiben Freunde – aber Reuter wollen wir nicht wieder miteinander spielen, lieber was anderes! Hanne Schatz in New-York, wir waren nicht so gute Freunde, aber für deine Leistungen in Reuterschen Stücken bin ich dir dankbar, so lange ich lebe.

Schelper und ich waren auf einander nie neidisch, wir hatten unter uns ein Abkommen getroffen, daß er in Norddeutschland, ich in Süddeutschland und Oesterreich unser Feld ackern wollten. Wir haben es gehalten. An seinem Grabe in Stettin habe ich in einem Kranze den letzten Gruß als Freund und Kollege niedergelegt. Schelper war ein lieber, braver Mensch, meine Achtung, meine Freundschaft folgt ihm über das Grab hinaus. Nur zweifelhafte Kollegen suchten auf meine Kosten seinen Ruhm zu vermehren. Ich sah Schelper einmal in Berlin – im Central-Theater – den »Onkel Bräsig« spielen, und besuchte ihn im Zwischenakt hinter den Kulissen. Im vierten Akt fragt Habermann den[231] Moses: »Kennen Sie Bräsig?« worauf der Darsteller des Moses mit einem Extempore ungeheure Wirkung zu erzielen glaubte, als er antwortete: »Ich kenne bloß einen Bräsig, das ist Schelper, – Bräsig-Junkermann kenne ich nicht!« – »Hab's vernommen! Hab's vernommen,« lieber Kollege, denn für mich war's ja wohl erfunden, schade nur, daß das Berliner Publikum keine Notiz davon nahm. Schelper war nachher so lieb, sich bei mir zu entschuldigen, es sei nicht seine Intention gewesen. »Thedor«, sagte ich, »dat hest du gor nich nödig – ick kenn di beter –«. Wir blieben gute Freunde, borgten uns einander die Reuterschen Stücke und strebten mutig weiter im gemeinschaftlichen Ziele, im Dienste unseres Fritz Reuter!

In Stettin fand ich Schulkameraden, die ich seit meiner Kindheit nicht wieder gesehen, den Oberregierungsrat Schreiber und den Artillerie-Oberst Brosent. Im Hause Schreibers saßen wir abends und sprachen plattdeutsch. Es ist zu reizend, in heimatlichen Klängen die Kinderzeit in seinem Gedächtnisse aufzufrischen. Wer hätte es nicht erlebt! Was dem Einen entfallen, bringt der Andere auf's Tapet. Beide schwelgen dann im Traume der Kindheit und lassen die Bilder ihrer Jugendzeit an sich vorüber ziehen. Es war ein herrliches Wiedersehen bei meinen lieben Bielefelder Jugendfreunden.

Auch die Schlaraffia Sedina mit ihrem herzlich gemütlichen Oberschlaraffen Hartmann von der Aue bereitete mir schöne unvergeßliche Abende.

Quelle:
Junkermann, August: Memoiren eines Hofschauspielers. Stuttgart [1888]., S. 225-232.
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