IX.

[65] Es war im Winter 70 auf 71 während des großen Krieges, als ich in Breslau am Stadttheater für das Fach der komischen Rollen engagiert war. Die Sängerin Frl. Schröder – jetzt als Frau Schröder-Hanfstängl in Frankfurt engagiert – war damals mit mir am Breslauer Stadttheater unter der Direktion Hock thätig. Sie sang von dort aus auf Engagement im Stuttgarter Hoftheater, wurde engagiert und siedelte nach Stuttgart über. Frl. Schröder empfahl mich, weil gerade eine Vakanz für mein Fach in Stuttgart war, der dortigen Intendanz.

Der Kammersänger Sontheim aus Stuttgart gastierte zu jener Zeit auch gerade in Breslau, wo er namentlich als Eleazar die größten Triumphe feierte, und unterstützte die Empfehlungen des Fräulein Schröder, worauf ich einen Engagementsantrag von dem Hofkammerpräsidenten v. Gunzert an das Stuttgarter Hoftheater erhielt.

Ein sicheres Engagement an einer königlichen Hofbühne ist wohl das Ideal eines jeden strebsamen Künstlers. Die Gagen am Stuttgarter Hoftheater waren zwar durch ein Sparsystem kleiner geworden, mit einigen Ausnahmen bedeutend kleiner als die der besseren, selbst schon der mittleren Stadttheater, je doch die Aussicht auf die lebenslängliche Anstellung zieht so mancher meiner Berufsgenossen der größeren Gage vor.

Ich konnte noch zu keinem Entschluß gelangen, um so weniger, da mein damaliger Chef, der Direktor Hock, mir einen fünfjährigen Kontrakt mit hoher Gage in Breslau anbot. Ich befand mich[66] so ziemlich in der Lage eines gewissen grauen Tieres, welches zwischen zwei Heubündeln verhungerte, allein so weit sollte es mit mir nicht kommen, denn das eine Heubündel wurde mir entzogen, und zwar auf sehr tragische Weise.

Eines Tages wurde im Breslauer Theater »Figaros Hochzeit« gegeben; ich plauderte zu Beginn der Vorstellung mit dem Direktor Hock in seinem Bureau, als plötzlich ein Theater-Arbeiter hereinstürzte: »Herr Direktor, kommen sie schnell auf die Bühne, es ist etwas passiert.« Wir eilten schleunigst über die kleine Treppe, welche aus dem Theaterbureau nach der Bühne führte. Figaro (der Baritonist Rieger) sang eben seine große Arie: »Dort vergiß, leises Fleh'n, süßes Wimmern etc.«, ohne eine Ahnung davon zu haben, daß über seinem Kopfe die Soffiten Feuer sprühten. Trotz wiederholter Zurufe: »Das Theater brennt«, – »gehen Sie ab« – sang der brave Rieger pflichtgetreu weiter, bis ihn endlich der allgemeine Schreckensruf: »Feuer! Feuer!« aus dem Konzept brachte. Alles, was auf der Bühne war, eilte nun nach der kleinen, wenige Stufen zählenden Treppe, die nach der Straße führte, um sich zu retten. Durch die Hast und Kopflosigkeit, mit der man zu Werke ging, stauten sich die paar Menschen derart zu einem Knäuel, daß niemand in der Thür weder vor- noch rückwärts kam. Ein undurchdringlicher Rauch erfüllte schon die Treppen, die zu den Garderoben führten. Die Herren und Damen vom Chor, die sich eben für den zweiten Akt der Oper, in dem sie beschäftigt waren, in ihren im dritten Stock gelegenen Garderoben ankleideten, eilten auf den Lärm an ihre Ausgangsthüren; – sie konnten schon die Treppe nicht mehr herab, der Rauch drohte sie zu ersticken. Da kam der Obergarderobier Eberius, welcher gerade auf der Schneiderei große Vorräte an Zeug liegen hatte, die zu einem demnächst aufzuführenden Ausstattungsstücke bestimmt waren, auf den rettenden Gedanken, eine Rolle dieser Stoffe an das Fensterkreuz der Garderobe zu befestigen, woran sich nun unter jämmerlichem Geschrei der ganze Chor aus dem dritten Stock auf die Straße herunterließ. Wir hatten unten[67] mittlerweile mit Mühe und Not die Ausgangsthüre erreicht, indem einer über den andern wegkletterte, und als wir ins Freie traten, sahen wir schon durch die geöffneten Thüren den Kronleuchter mit furchtbarem Gekrach ins Parquet herunterstürzen. Wer's nie erlebt, begreift es nicht, wie schnell ein Theater bis auf den Grund niederbrennt. Mit rasender Schnelligkeit verbreitet sich das verheerende Element. Zum Glück waren, wie fast immer in Breslau, wenig Zuschauer im Theater gewesen, sie erreichten schnell die Ausgänge. Ein Invalide auf Krücken, welcher sich nicht schnell genug retten konnte, und ein Dekorationsmaler, der auf der obersten Treppe noch einmal umkehrte, um sein Skizzenbuch aus dem Malersaal zu holen, wurden die Opfer der schrecklichen Katastrophe.

Das Theater brannte bis auf den Grund nieder. Auch meine Garderobe, Perrücken etc. wurden ein Opfer der Flammen. Ich war mit meinen Kollegen wieder einmal brotlos.

Als die Kunde von dem Breslauer Theaterbrande nach Stuttgart gedrungen, fragte Herr v. Gunzert abermals bei mir an, ob mir denn nun mit dem Engagement in Stuttgart gedient sei; er könne sich denken, daß ich nun ohne Erwerb geneigter sei, seinen Antrag zu acceptieren, er bot mir sogar die Feriengage an, ich solle sofort in Bezug derselben treten, obwohl mein Engagement erst mit Wiedereröffnung der Saison, zwei Monate später, begann.

Der Kammersänger Sontheim hatte mir erzählt, daß mein Vorgänger Rüthling, welcher neunzehn Jahre ununterbrochen in Stuttgart mit einem sogenannten definitiven Kontrakte angestellt war und nur noch ein Jahr bis zur Pensionsberechtigung hatte, plötzlich entlassen worden sei mit der Begründung, man habe ihn in Verdacht, daß er die abfälligen Kritiken gegen das Hoftheater in einem Stuttgarter Blatte inspiriere. Dieser eigentümliche Fall war es, welcher mich noch immer vom Unterzeichnen des Stuttgarter Vertrages abhielt, aber Herr v. Gunzert stellte mich schließlich vor ein Ultimatum, eine[68] Aussicht auf lebenslängliche Anstellung entschied, – ich unterzeichnete, und als es Zeit war, schnürte ich mein Bündel und zog ins schöne Schwabenland.

Ich kam mit dem Nachtzuge in Stuttgart an. Man hatte mir Marquardts Hotel empfohlen, als ich aber dort absteigen wollte, war alles besetzt und kein Zimmer zu haben; ich suchte also weiter von Hotel zu Hotel und zwar zu Fuß, denn Nachtdroschken gehören in Stuttgart damals wie heute zu einem unerhörten Luxusartikel. Ueberall wurde ich abgewiesen mit den Worten: »'s ist älles besetzt!«

Ich traf es sehr unglücklich; zur Zeit meiner Ankunft war Pferdemarkt und alle Hotels überfüllt. Da stand ich denn in tiefer Nacht in einer mir fremden Stadt mitten auf der Straße wie ein einsames Waisenkind. In meiner Not wandte ich mich wieder nach Marquardts Hotel zurück, wo endlich nach langem Parlamentieren ein mitleidiger Hausknecht mir für die Nacht sein Bett anbot, was von mir mit tiefgefühltem Danke angenommen wurde. Er führte mich an das so gastlich angebotene, von mir so heiß ersehnte Lager; ich konnte mir zwar denken, daß es nicht gerade ein Salon im ersten Stock sein würde, auch waren meine Erwartungen durch das lange obdachlose Umherirren schon merklich herabgestimmt, aber daß ein solch verwendbares Mitglied der menschlichen Gesellschaft in einem finsteren Verschlage unter der Treppe logierte, daran hatte mein ahnungsloses Herz nicht gedacht.

Ich machte gute Miene zum bösen Spiel, sah doch in mir alles so licht und rosig aus, mit den freudigsten Gefühlen blickte ich in die Zukunft; ich kroch also, die Brust geschwellt vom Hochgefühl königlich württembergischer Hofschauspieler zu sein, auf allen Vieren in den dunklen Verschlag, rannte bei dem Versuche, eine aufrechte Stellung einzunehmen, mit dem Hirnkasten gegen die sich herabsenkende Treppe, und schlief so endlich unter erschwerenden Umständen ein.

Am andern Morgen, als ich den Hausknecht für die überstandene Marter der Nacht pflichtschuldigst honoriert hatte,[69] machte ich mich auf den Weg zu Exzellenz v. Gunzert, meinem neuen obersten Chef.

Im Hoftheater erfuhr ich von dem Intendanzdiener Lipp, daß die Exzellenz um 5 Uhr nachmittags die Sprechstunde im Intendanzzimmer des Hoftheaters abhalte. Auf meine Frage, ob ich wohl besser im Frack erschiene, meinte der Kassier, der gerade zugegen war: »A bah, dös brauchet die Scheurepurzler net!«

Ich verstand den Mann nicht, aber er mußte einen vortrefflichen Witz gemacht haben, denn der Intendanzdiener, der Portier und der Theaterdiener, die zugegen waren, lachten herzlich. Später, als ich den Kassier als Witzbold näher kennen lernte, erklärte er mir seine spaßhafte Bezeichnung »Scheurepurzler« als Leute, die in der Scheuer Purzelbäume schlagen. Es war ein harter Scherz, der aber doch für eine gewisse Ueberhebung der Beamten den Künstlern gegenüber bezeichnend war.

Nachdem ich mich also verabschiedet und mir das schöne Stuttgart betrachtet hatte, trat ich, angethan mit meinem Staatshabit, einem nagelneuen Salonrock, neuen Glacés und furchtbar engen Lackstiefeln, mit dem Glockenschlag 5 Uhr an, fand aber das Vorzimmer Sr. Exzellenz, zu welchem ein zugiger Hausflur avanciert war, schon mit Antichambrierenden besetzt. Unter diesen war ein Teil meiner neuen Kollegen, die gleich mir sich dieses ominösen Antichambres bedienen mußten. Den Zug auf dem Korridor hätte ich am Ende noch ertragen, aber meine verfluchten neuen Lackstiefel brannten wie höllisches Feuer. Immer wenn die Thüre der Exzellenz sich öffnete und ich in guter Hoffnung war, endlich vorgelassen zu werden, kam irgend ein Schreiber oder ein Verwalter mit mächtigen Aktenstücken unter dem Arm herausgeflitzt, ein neuer huschte hinein, ich wurde immer wieder kalt gestellt, bis endlich die Sprechstunde vorüber und ich unverrichteter Sache wieder abziehen mußte.

Ich ging balancierend, mir die größten Steine aussuchend, nach dem Hotel zurück, wo man mir mittlerweile ein menschenwürdigeresLokal eingeräumt hatte. Ankommen, die Stiefel ausziehen und an die Wand werfen, war eins, dann führte ich vor Schmerzen den schönsten indianischen Kriegstanz auf, wobei ich nur das kannibalische Geheul des Aufsehens wegen unterließ. Als die Schmerzen nachgelassen, zog ich mir die weitesten Oderkähne an, welche ich mir in Breslau hatte bauen lassen, und ging auf die Wohnungssuche.

Nach vielen Irrfahrten, die denen des geprüften Dulders Odysseus gleichkamen, fand ich endlich ein mir zusagendes Heim. Am andern Tage versuchte ich, wieder vergeblich, bei Herrn v. Gunzert vorgelassen zu werden, denn wieder liefen die Schreiber dem Hofschauspieler den Rang ab. Endlich, am dritten Tage, war der große Moment erschienen; Herr v. Gunzert empfing mich sehr liebenswürdig, bot mir sogar einen Stuhl an, obwohl ich nur Hofschauspieler und kein Schreiber war. Diese Ehre des Stuhlanbietens ist mir in den langen späteren Jahren nicht wieder zu teil geworden, aber vor dem Intendanzzimmer habe ich manche Stunde wieder auf den kalten Steinen im Winter gestanden, während die Beamten unangemeldet Zutritt hatten und so von einem warmen Zimmer ins andere kamen. Ich habe mir früher nie den Luxus eines Pelzes gestattet – in Stuttgart braucht ihn der Hofschauspieler, um sich nicht der Gefahr des Erfrierens auf dem steingepflasterten kalten Korridor auszusetzen, wenn er seinen Chef sprechen will.

Zur Charakterisierung der Exzellenz v. Gunzert erzählt man sich folgende Geschichtchen, die über ihn kursieren.

Ein jüngerer Schauspieler, der einige Zeit nach mir engagierte Liebhaber Trotz, unterhandelte schriftlich mit der Hoftheater-Intendanz in Stuttgart wegen Engagement. Der Intendant Wehl, der eigenmächtig niemand engagieren durfte, ohne Herrn v. Gunzert zu fragen, zeigt den Brief Herrn v. Gunzert und empfiehlt Trotz zum Engagement. Herr v. Gunzert sieht, ohne sich sonderlich an den Inhalt des Schreibens zu kehren, starr in den dargebotenen Brief, hält endlich den Brief des Schauspielers[72] Herrn Wehl wieder hin, und ruft schmerzbewegt: »Es ischt doch ein rechter Skandal, ein Mensch mit solch schöner Handschrift wird Schauspieler, was wäre das für ein ausgezeichneter Schreiber geworden!«

Der Liebhaber Edward, jetzt in Darmstadt engagiert, verhandelte mit Exzellenz v. Gunzert um seine Gage, die er am Hoftheater in Stuttgart zu fordern beabsichtigte, und als Edward der Exzellenz die Summe nannte, die er beanspruchte, rief Herr v. Gunzert: »Mein Gott, so viel hat ja kein Kanzleirat!«

Einmal glaubte Herr v. Gunzert in einem früheren Zuchthausaufseher einen treuen Hausverwalter für das Hoftheater engagiert zu haben und fragte ihn gelegentlich, wie es ihm denn nun beim Theater gefalle, worauf dieser militärisch straff erwiderte: »Ganz gut, Exzellenz, es ischt gerade so wie im Zuchthause, bloß die Gitter fehlen.« Diesen treuen Diener mußte Herr v. Gunzert bald darauf entfernen, weil er ihm das Holz fuderweise aus dem Theater abführte.

Uebrigens war Herr v. Gunzert ein bedeutender Mann, ein noch bedeutenderer Jurist und das bedeutendste Finanzgenie, was Württemberg wohl je gehabt. Er hat auf dem Verwaltungsgebiete als Hofkammerpräsident Gewaltiges geleistet. Er war ein Mann, dessen Wort ein Eid war. Was er versprach, hielt er auch; energisch war sein Thun und Handeln, gerecht und unparteiisch war sein Regiment, – aber Gefühl und Erkenntnis für die Kunst hatte er nicht. Das Leben der Künstler, ihre guten und schlechten Eigenheiten, ihren Leichtsinn und ihre maßlose Gutmütigkeit, bei welchen Eigenschaften die Schar der Künstler von einem Chef mit Sach- und Fachkenntnis so leicht zu regieren ist, – das kannte Herr v. Gunzert nicht, und daher kam es, daß er seiner früheren Gewohnheit, seinem eigentlichen Berufe nach, als alter Staatsanwalt in uns immer eher »Verbrecher« als »Künstler« witterte. Aber er hatte bei seiner Strenge und Härte ein großes Gerechtigkeitsgefühl, ja ein gutes Herz, und wenn er jemanden an dem ihm unterstellten Institute[73] zu pensionieren genötigt war, so sorgte er für die in des Königs Dienst Ergrauten, wenn er sie für würdig hielt.

Herr v. Gunzert war ein großer Rechner, er verwaltete die Finanzen seines Königs in musterhafter Weise, er war äußerst sparsam, aber sein nobel veranlagter Charakter hätte es nie geduldet, einem Künstler, der die besten Jahre seines Lebens dem Stuttgarter Hoftheater gewidmet, die wohlverdiente Pension zu entziehen und ihn kurz vor seiner Pensionsberechtigung zu entlassen, wie das später von seinem Nachfolger leider wiederholt geschah.

Daß bei so viel glänzenden Eigenschaften dem Herrn v. Gunzert auch Schattenseiten nicht fehlten, ist wohl selbstverständlich. Herrn v. Gunzert ging die Haupteigenschaft ab, welche zur Leitung eines solchen Kunstinstitutes doch unbedingt notwendig ist, er besaß durchaus kein Kunstverständnis, woraus er auch niemals ein Geheimnis machte. Die Offenheit, mit der er das eingestand, zähle ich wieder zu seinen größten Tugenden. Als ich mich bei meiner Vorstellung über seine künstlerischen Intentionen zu informieren suchte, sagte er mir: »Vom Theater versteh i nex, da müsset Se sich an de Geheime Hofrat wende. Im übrige lasset Se sich's hier guet g'falle – adieu!« – Und ich empfahl mich.

Auf demselben Gange im Hoftheater lag das Zimmer des Geh. Hofrats Wehl, dessen Wirkungskreis damals darin bestand, das Repertoir zu machen und die Rollen zu besetzen; alles Uebrige bestimmte der Hofkammerpräsident. So war es früher, so ist es in diesem Augenblicke wieder. Ich stellte mich also dem Herrn Geh. Hofrat Wehl vor. Die Aufnahme, die ich bei ihm fand, machte mir sofort klar, daß mein Engagement eigentlich ganz überflüssig war, denn Herr Wehl fand keine Auftrittsrolle, in welcher ich mich dem Stuttgarter Publikum präsentieren konnte. Es mag auch sein, daß, da er mich nicht entdeckt, sondern Herr v. Gunzert mit mir das Engagement abgeschlossen hatte, der Herr Geh. Hofrat Wehl keine besondere Schwärmerei für mich hatte. Ich fand ihn sehr kühl, und[74] meine Beschäftigung schien ihm nicht die geringste Sorge zu bereiten.

Mein Vorgänger Rüthling hatte außer dem Stritzow im »Versprechen hinterm Herd«, dem Schönhahn in »Zehn Mädchen und kein Mann«, Kiewe in »Namenlos« und dem Schneider in »Lumpaci«, nur Chargen gespielt.

Herr Geh. Hofrat Wehl teilte mir denn auch mit, daß ich eigentlich für den Baßbuffo und Komiker Gerstel, welcher alt und stumpf geworden sei, in Aussicht genommen wäre. Der alte Herr Gerstel war zugleich Regisseur, und, da er als solcher auch als Beamter angesehen wurde, wollte ihm Wehl vorerst nicht den Schmerz bereiten und ihm Rollen abnehmen. Schlug ich nun andere Rollen vor, so hieß es: »Die spielt Herr Pauli«, auch ein Regisseur, der ebenfalls nicht beleidigt werden durfte. Da war nun guter Rat teuer. Die sämtlichen Rollen meines Repertoirs hatten die beiden Herren Regisseure im Besitz. Die beiden alten Herren hatten sich unter dem früheren Intendanten Baron v. Gall in den ganzen Raub geteilt. Sie verstanden sich wie die Auguren, waren der Edelmut und die Uneigennützigkeit selbst, keiner hat je etwas für sich erbeten – o nein – einer schlug immer den andern für die betreffende Rolle beim Intendanten vor. Dieses uneigennützige aber höchst praktische Verfahren wurde auch unter Herrn Wehl fortzusetzen versucht, indessen scheiterte bei Besetzung von Novitäten dieses Spiel doch öfters am Eigensinn des Herrn v. Wehl, der sich in Rollenbesetzungen nichts dreinreden ließ. Auftreten mußte mich Wehl lassen, denn ich war ja einmal von Herrn v. Gunzert engagiert, aber es war schwer, etwas zu finden, und das Herz sackte mir immer tiefer, – als wir uns dann endlich nach langem Beraten unter erschwerenden Umständen für drei Einakter einigten: ein Soloscherz »Der Gemütliche« von Levassor, der Kalisch'sche Schwank »Vom Juristentag«, der für mich eigens angekauft wurde, und das Genrebild »Der Zigeuner« von Berla.

Der Tag meines Debuts kam heran. Es war mir unheimlich[75] im neuen Engagement zu Mute, bevor ich »losgelassen« wurde. Ich hatte zwar unkündbaren dreijährigen Kontrakt, trotzdem konnte ich mich von einer beklemmenden Stimmung nicht frei machen, ja sie wurde immer schlimmer, je mehr ich Einblick gewann, wie überflüssig ich in Stuttgart sei.

Der Abend meines ersten Auftretens kam endlich heran. Eine Viertelstunde vor Beginn der Vorstellung kam ein befreundeter Kollege zu mir in die Garderobe und machte mir die Mitteilung von einem Komplott, das gegen mich im Werke sei; einige Verehrer meines Vorgängers würden eine Demonstration gegen mich loslassen, ich solle mich nur nicht irre machen lassen, – welche freundschaftliche Warnung auch nicht dazu beitrug, meinen Mut zu erhöhen. Aber wider alle Erwartung ging die Vorstellung ohne Störung vorüber, das Publikum war sogar außerordentlich animiert und zeichnete mich durch wiederholten Beifall und Hervorruf aus.

Am andern Tage war die gedrückte Stimmung vorerst verschwunden, und ich war wieder stolz wie ein Spanier – jeder Zoll ein Hofschauspieler.

Quelle:
Junkermann, August: Memoiren eines Hofschauspielers. Stuttgart [1888]., S. 65-76.
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