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[16] Ich lernte indessen die Hand meiner Mutter lesen; in gedruckter Schrift war ich nicht geübt. Meine Seele bekam durch meiner Mutter Poesien sogleich einen Schwung, so, daß ich nichts Gemeines in Liedern und Gesprächen mehr leiden konnte. Viele von ihren Gedichten blieben mir im Gedächtniß, die ich dann herzusagen pflegte. Die Leute gewannen mich deswegen lieb, und nannten mich klug und drollicht, und jedermann mogte mich gern um sich leiden, nur meine Mutter nicht. Als ich sieben Jahr alt war, konnte ich Bücher lesen; es war der Catechismus, mit dem ich den Anfang machte; sobald ich darin Fertigkeit hatte, wurde ich in die Schule geschickt. Hier wurde bald meine Lust zum Lernen und mein gutes Gedächtniß erkannt, und der Hofprediger, welcher öfters in unsere Stunden kam, wurde aufmerksam[17] auf mich, und nahm mich mit in seine christlichen Unterrichtsstunden für Kinder. In einem halben Jahre hatte ich das ganze Formular und alle biblische Sprüche im Gedächtniß. Mein Schulmeister legte sein Amt nieder, so, daß ich wieder zu meinen Aeltern mußte. Eben war meine jüngste Schwester geboren worden; jedes Kind bekam bei dieser Gelegenheit eine Düte mit Zuckerwerk. Meine Freude dabei war sehr groß; das Schwesterchen kam mir wie eine Puppe vor, und ich gewann sie sehr lieb. Ich mußte sie wiegen, dabei wurde mir die Zeit sehr lang, denn meine Vorstellungen hatten sich, durch das Lesen der heiligen Schrift und der Gedichte meiner Mutter, sehr erweitert, und mein Geist verlangte unaufhörliche Beschäftigung. Wenn ich also meine Schwester wiegen mußte, setzte ich mich ihr zu Füßen auf die Wiege;[18] mit der linken Hand schaukelte ich uns beide, und mit der rechten hielt ich die Bibel auf meinem Schooß und las. In den Büchern Mosis fühlte ich mich am meisten von den Familiengeschichten der drei Patriarchen angezogen. Das Buch der Richter, das des Propheten Samuel, die Chronika, die Judith, die Esther, und über alles die Geschichte des Tobias, die Mutter mit ihrem bekümmerten Herzen am Wege, und des jungen Tobias Hündchen, welches ihr endlich entgegen gesprungen kam, hat mich immer zu Thränen gerührt; und immer gieng ich wieder zu dieser Geschichte zurück. Häusliche Glückseligkeit und Liebe waren also schon in erster Kindheit die Hauptneigungen meiner Seele. Geschmiegt in einen Winkel, träumte ich mich oft, als Hausmutter vieler Kinder, in tausend häuslichen Geschäften, von allen das Triebrad, und alle durch[19] mich glücklich. Dies war meine Poesie, die ich mit den reichsten Bildern aus der ersten Frischheit und Fülle der aufblühenden Phantasie verwebte.

Von den Büchern meiner Mutter erinnere ich mich der Nächte Youngs; einer kleinen Sammlung Idyllen von Bion und Moschus; eines Trauerspiels des Sophokles Andromache genannt, und eines schlesischen Reimschmidts, der den Bober besungen hat, sein Name ist mir entfallen. In diesen Werken las ich unaufhörlich, in welchen ich alle Freuden meines kindischen Lebens fand. Young war mir zu ernsthaft; ich konnte nicht fünf Minuten lang dabei verweilen; doch beschauete ich gern das Bild des Philosophen, wie er unter dem Sternenhimmel bei den Gräbern steht, denn ich hatte früh die Gräber lieb. Schon in meinem sechste Jahre, wenn andere[20] Kinder sich mit muntern Spielen ergötzten, bauete ich mir Särge, legte Puppen hinein, schmückte sie mit Laub und Blumen aus, und machte Gräber darüber. Meine traurigen Vorstellungen dabei entstanden mir aus dem Herzen; es dünkte mir nicht als ob ich spielte, sondern als wäre mir jemand gestorben, den ich liebte. Durch meine ganze Jugend hindurch begleitete mich dies schwermüthige Denken, ohne daß ich dabei weniger heiter gewesen wäre, und ich spielte eben so gern Hochzeit, Güterkaufen und dergleichen, als ich Gräber machte und auf den Gottesacker gieng. In meinem achten Jahre sah ich meine Mutter den Tod Abels lesen, und bat sie darum, da ich eben krank lag. Das Buch war mit lateinischen Lettern gedruckt, welche mir ganz fremd waren; doch, die Begierde zu lesen machte, daß ich die Wörter errieth und[21] herausfand. Ich kann nicht sagen, was ich alles bey dieser Dichtung empfand. Mir war es, als hätte der Dichter seine Bilder, seine Gedanken aus meinem eignen Wesen genommen; und der unschuldige, liebende und wehmüthige Ton darin, war so ganz der Ton meiner Seele. Nach dem Tod Abels las ich die Uebersetzungen der griechischen Idyllen. Diese poetischen Gemälde hatten für mich einen neuen Zauber; es dünkte mir, als hätte vorher mein Geist ein unruhiges Verlangen gehabt, und fände in der himmlischen Sprache dieser Alten seine Ruhe. Mir war, als könnte die menschliche Sprache keiner herrlichern und süßern Bilder fähig seyn. Der Tod des Adonis schlug in mir den Funken der Liebe an: Ruhe nicht mehr auf purpurnen Kissen, o Venus! – Cypria schlägt sich die Brust und zerreißt ihr goldgelocktes Haar u.s.w.[22] Dies waren Bilder, welche nie wieder meine Seele verließen. Von nun an gewann meine Phantasie einen Schwung, welcher mich über alle Ungemächlichkeiten hinweghob; und bei allen Carrikaturen des Lebens, wie sie mir auch aufstießen, dachte ich mir allezeit etwas Höheres. Ich besuchte die einsamen grünen Stellen, setzte mich dort nieder, und sah Stundenlang zu, wie die Luft darüber hinfuhr, wie auf grünen Wellen. Ich hörte gern das Rauschen in den Blättern der Bäume; mir war so wohl bei dieser unbekannten Stimme, mein Athem wurde leiser, und ich seufzte oft, ohne zu wissen warum. An der Oder verweilte ich nicht gern, denn diese war mir zu groß und rauschend, aber der kleine, plätschernde Bach am Mühlenrade hatte Harmonie mit dem Klopfen meines Herzens.

Quelle:
[Klencke, Karoline von]: Leben und Romantische Dichtungen der Tochter der Karschin. Als Denkmal kindlicher Liebe herausgegeben von Helmina, Frankfurt a. M. 1805, S. 16-23.
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