Der Handkuß

[83] Der Handkuß ist das größte Raffinement unseres gesellschaftlichen Lebens. Alles was der Mund verschweigen will und verschweigen muß, kann der Lebenskünstler durch ihn ausdrücken, er kann ihn abstufen von der gröbsten Sinnlichkeit bis zur platonischen Poesie, und er kann deshalb durch einen einzigen Handkuß eine Dame gewinnen oder für immer verlieren. Die klugen Frauen unseres Zeitalters wußten sehr wohl, was sie täten, als sie das Gebiet des Handkusses beschränkten. Nur der Frau, der verheirateten, kommt er zu; der junge Mann, der einem jungen Mädchen die Hand küßt, begeht einen faux pas oder er muß am nächsten Tage im Cut away und Hauteforme im Hause seiner zukünftigen Schwiegereltern in den Lift steigen. Das junge Mädchen soll eben noch nicht den Druck von Männerlippen auf ihrer Haut fühlen – ihr bleibt dieses Tor verschlossen bis zum Tage ihrer Verlobung. Denn Väter- und Brüderküsse sprechen in diesem Kapitel nicht mit. Aber wenn sie am Tage ihrer Hochzeit von der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche zum Hotel Adlon gefahren ist und nun an der Seite des jungen Gatten im Vorraum des Festsaales die Glückwünsche entgegennimmt, dann neigen sich die Herren über ihre Hand, und ein Ahnen des Reizes, der im Handkuß liegt, geht ihr auf.

Da ist zuerst der konventionelle: Der Leutnant bietet ihn seiner Regimentskommandeuse dar, der Attaché der bejahrten Botschafterin, der Student der Frau Professor. Er ergreift die Hand, die sich ihm entgegenstreckt, umfaßt die vier Finger, verbeugt sich tief, nähert den Mund der Mitte des Handrückens, läßt seine Lippen eine Sekunde lang in einem viertel Zentimeter Entfernung über der Hand schweben und richtet sich wieder auf Gerade sein Atem hat die gewiß schon etwas rauhe Haut der älteren Dame gestreift, die Empfindung von etwas Warmem ausgelöst – den Handkuß markiert. Cela suffit!

Wie anders ist da schon der freundschaftliche: Die alte,[84] chevalereske Exzellenz gibt ihn der 32jährigen, schönen Frau Baronin, der Offizier, der Botschaftsrat, der jugendliche Arzt der Gattin eines gleichgestellten Kameraden oder Kollegen, der Kammerherr drückt durch ihn seine Ergebenheit der Hofdame aus (der allein auch als jungem Mädchen der Handkuß zusteht, da sie Frauenrechte bei Hofe hat). Fast noch ehe die Dame die[85] Hand hebt, faßt der Herr sie; sozusagen vom Saume des Kleides nimmt er sie sich. Seine Finger ruhen dabei unter ihren Fingerspitzen, mit leichtem Druck liegt der Daumen auf dem ersten Gelenk des feingliedrigen Zeigefingers. Dann führt er langsam die Hand empor zum Munde; nur ein wenig – ein ganz klein wenig neigt er den Kopf, um seinen Kuß anzubringen; aber nicht etwa auf der breiten Fläche des Handrückens – nein, er küßt die Knöchel.


Der Handkuß

Und er küßt sie wirklich: seine Lippen ruhen den Bruchteil eines Augenblicks fest auf der Haut – ohne Bewegung, ohne Atmen. Die Dame fühlt es, fühlt den leichten Druck, das sanfte Streifen eines Schnurrbarthaares. Wie lange der Mund auf der Hand verweilen darf, wie stark der Herr die Hand der Dame gegen seinen Mund pressen darf (nicht etwa umgekehrt, seinen Mund gegen die Hand der Dame), darin liegt die Abstufung von Freundschaft, Vertrauen und Neigung.


Der Handkuß

So wird aus dem freundschaftlichen Handkuß allmählich der Handkuß der Liebe.

O, sie lassen sich nicht alle beschreiben, diese feinen, raffinierten Spiele der Liebe, diese Handküsse, die sich bis auf den Unterarm verirren, bis zum Ellenbogen. Diese Handküsse, die unter den Knöpfen des weißen Handschuh's das rosa leuchtende Fleisch suchen und in das kleine Oval die Lippen pressen – unverwirrt durch die schützende Hülle. – Aber es gehört für den Kavalier viel feines Empfinden, um zu wissen, wie er einer Dame, wie er seiner Frau die Hand küssen darf, küssen muß. Er muß in der Schule des Raffinements erst fleißig studieren, und viele bleiben immer Schüler – aber nur die Meister werden Erfolg haben.

Hans Caspar v.Z.

Quelle:
Koebner, F. W.: Der Gentleman. Berlin 1913, [Nachdruck München 1976], S. 83-86.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Flucht in die Finsternis

Flucht in die Finsternis

Robert ist krank und hält seinen gesunden Bruder für wahnsinnig. Die tragische Geschichte um Geisteskrankheit und Tod entstand 1917 unter dem Titel »Wahn« und trägt autobiografische Züge, die das schwierige Verhältnis Schnitzlers zu seinem Bruder Julius reflektieren. »Einer von uns beiden mußte ins Dunkel.«

74 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon