22.

[71] Bayreuth, 30. Okt. 1881.


Liebstes Kind und Kollegin!


Ich will nicht nach dem Süden fortgehen, ohne Ihnen noch meinen freundschaftlichsten Dank für Ihre neuen Bemühungen an meiner Seite auszudrücken. Es scheint ja, als ob ich – zu meiner großen und sehr nötigen Beruhigung – mich um nichts mehr zu bekümmern hätte. Levi – als Kapellmeister meines erlauchten Chor- und Orchester-Spenders1 – ist von mir zum Generalbevollmächtigten für musikalische Angelegenheiten ernannt: machen Sie – bitte! – einverständlich alles rein, und wo es von uns zu übernehmenden Verpflichtungen gilt, so besorgt dies A. Groß (dahier). Ich verhalte mich diesmal noch denkbar schweigend gegenüber den einigen Verzichtungen auf Entschädigung, da wir eben erst doch noch experimentieren; kommt es aber zu Wiederholungen in den folgenden Jahren, so gedenke ich jedoch keine realen Opfer mehr anzunehmen. (Wie stolz!??)[71]

Jetzt, gutes Kind, nun noch eine Sorge: die Solistinnen müssen alle das 22. leicht und anmutig nehmen können: ein einziges schrilles Organ verdürbe mir alles. Gelingt es, so glaube ich aber auch, daß man etwas Ähnliches wie das As-Dur – usw. noch nicht gehört haben wird: es ist hier auf einen ungemeinen Stimmzauber durch Fülle des zartestens Wohlklangs gerechnet! Nun genug! –

Wünsche herzlich, daß Sie gutes Kind für die Zukunft aller Nötigung zu neuen Heldentaten enthoben sein mögen, grüße Mama aus altem verliebten Herzen und bin

Ihr ganz guter

Rich. Wagner.


Ich gehe direkt mit Weib, Kind und Kegel nach Palermo (Hôtel des Palmes). (Soll ich Robert le diable von Ihnen grüßen?)


Nachdem man Wagners Briefe an mich von 77–81 gelesen, wäre man wohl berechtigt, die Frage an mich zu stellen, wie es kam, daß ich, die Wagners Herzen wirklich nahestand, der er so viel vertraute, die ihn liebte und verehrte, ihn 1882 dennoch im Stiche lassen mußte. Mußte! Ohne mich eines Unrechts gegen Wagner schuldig zu machen, kam ich es aussprechen, dieses »mußte«, denn der Grund dazu lag tief in meinem Innern und hieß: Selbsterhaltung!

Daß mich der Gedanke an ein erneutes Arbeiten mit ihm beglückte, brauche ich nicht zu versichern; wie gerne wollte ich ihm und seinem Genius dienen. Ich hatte die nicht leichte Aufgabe übernommen, 24 schöne, äußerst musikalische Sängerinnen für die Blumenmädchen zu gewinnen und einstudieren. Mit Hilfe Levis, der mir Damen nannte, brachte ich sie mit vielen Schreibereien, Mühen und Versichreungen endlich zusammen. Mit denen, die sich in Berlin und mich gruppierten, fing ich sogar schon zu studieren an und hatte meine Partie bereits auswendig gelernt. Selbst von der Szenerie – welche ich später besprechen werde –[72] hatte ich mir ein ideales Bild gemacht, war ganz hineingewachsen in die üppige Szene. Da hörte ich, daß Wagner die Bühneneinrichtung für den Parsifal Fritz Brandt übergeben hatte. Wenn dieser Auftrag Wagners für F.B. meinem Herzen auch eine große Genugtuung bedeutete, so erschreckte er mich gleichzeitig, da ich die Wunden, die ich geheilt glaubte, aufs neue schmerzen und bluten fühlte. Unaufhörlich peinigte mich jetzt schon der Gedanke an ein fortwährendes Zusammensein in Bayreuth. Das kaum vergessene Martyrium begann aufs neue mich zu quälen, bis sich mir schließlich die Gewißheit aufdrängte, daß ich diesmal daran zugrunde gehen würde. Daß es so hätte kommen müssen, empfand ich 1883 in Bayreuth noch nachträglich, wo freilich unerwartet Schweres schon an uns vorbeigegangen, die tieffsten Empfindungen zu unerträglichen Selbstquälereien aufreizten. So schwer mir der Entschluß auch fiel, ich mußte Wagner abschreiben, ihm den wahren Grund nicht verkehlend, hoffend, keine allzu große Störung zu verursachen, da ich nun alles geordnet glaubte. Die schlimmen Folgen konnte ich nicht voraussehen, aber sie waren beschämend. Denn nun wollte keine der Sängerinnen unter einem anderen ersten Blumenmädchen als zweite fungieren, und alle versagten mit der Begründung: daß sie es nur unter meiner Führung angenommen hätten. Levi war außer sich und beschuldigte mich in ziemlich groben Briefen, gar nichts für die Sache getan zu haben, nun wüßte man gar nicht, was anzufangen. Daß ich aber ein Jahr lang Hunderte von Briefen geschrieben, die Damen wirklich alle zusammengebracht hatte, die ohne mich nun plötzlich nicht dabei sein wollten, das bedachte er nicht. Es mag für Wagner eine arge Enttäuschung gewesen sein, aber vielleicht konnte er doch nachempfinden, was mich bewegte, denn er machte keinen Versuch mehr, mich umzustimmen. Er mußte wissen, was es mich kostete, ihm diesen Schmerz zu bereiten und mich von einem Werke selbst zu verbannen, das mir schon jetzt ans Herz gewachsen war; mich fernzuhalten von einer Arbeit, der ich mit Wagner zusammen, wenigstens in der großen Blumenszene meinen Stempel aufzudrücken mir vorgenommen hatte. Nun war alles dahin.

Wagner war nach 77 öfter bei uns gewesen, hatte mich aber nur einmal angetroffen. Als er uns das letzte Mal besuchte, sprach[73] er nur meine Mutter, da ich im hohen Fieber krank darniederlag. Ich sah ihn nicht mehr.

Wenige Monate nach seinem Tode rief uns der Parsifal gebieterisch nach Bayreuth: Mama, Riezl und mich. Keines der Meinen ahnte, wie mir zumute war. Da saß ich nun, wie mit eisernen Ketten an die Stätte gebannt, die ein Stück Leben und Tod für mich bedeutete. Als ich die ersten Töne des Vorspiels vernahm, war mir's, als hörte ich Fittiche rauschen, Stimmen aus höheren Sphären ertönen. Der Stich ins Herz, die nach Heilung sich sehnende Wunde, alles traf mich tausendfach schmerzlicher als Amfortas. Was dort um Erlösung jammerte, schrie auch in mir laut auf, um sich endlich in Tränen zu lösen. Ich weinte um den Genius, der nun nicht mehr war, uns nie mehr wiederkommen konnte. Mit schwerem Leid gekommen, war mir's, als stände ich allein in einem Dom, und wie man einzig nur mit sich selber sprechen kann, sprach Wagner, der Hohepriester, mit herzergreifender Musik zu mir. Die Harmonien wühlten mein Inneres auf, das sich – doch keiner Schuld bewußt – im Schmerz um ihn, um anderes noch zusammenkrampfte. Dennoch durfte ich mich begnadet nennen, so in tiefster Seele zu empfinden, wenn auch der Schmerz des Ringens und Erlebens blieb. Ich war gekommen, ihn auszulösen, war in das Heiligtum eines Großen eingetreten und kam hier zum Bewußtsein des reinen, wenn auch schwachen Menschen. Mich diesem Schwächezustand zu entwinden, kostete es neue Kämpfe. Ich mußte retten, was das Beste in mir war, mußte stark werden, um andern dienstbar sein zu können, die schwächer als ich.

Damals sangen Amalie Materna und Therese Malten: Kundry. Erstere natürlicher, letztere künstlerischer, leider aber auch affektiert. Von beiden Darstellerinnen nahm ich den Eindruck mit, als sei der Rolle, geistig und seelisch, noch ganz anders beizukommen; ich vermißte hier innere Vertiefung, dort geistige Überlegenheit und Wahrheit. Winkelmann paßte mit seiner tränenreichen Gesangsmanier sehr gut zum Parsifal, Fuchs ausgezeichnet zum Klingsor mit seiner gemütlosen Kälte. Theodor Reichmann schien mir der geborene König-Amfortas, und Scaria wird als Gurnemanz allen ewig unvergessen bleiben, die das Glück hatten, ihn noch zu hören[74] und zu sehen. Einzig trug Fräulein Cramer den Gralsbecher; Orchester und Chor standen unter Hans Richter auf höchster Höhe. Mein tiefstes Gefühl für Wagner ließ für nichts anderes Raum, ich sah nur ihn, hörte nur sein Werk, spürte nur seinen Hauch. Einer Enttäuschung konnte ich indessen nicht Herr werden: die Blumenmädchenszene berührte mich aufs peinlichste, die ich mir ganz und gar ideal vorgestellt, nun mit so viel Realismus wiedergegeben sah.

Nach meiner Idee – wie sie mir vorschwebte, als Wagner mir 1881 die Stimmen dazu sandte – sollten die singenden Blumen – deren ganzer unterer Körper von Laub kachiert – gleich gewachsenen Blumen sich in verschiedenen Höhen vom Boden aufrichten, von allen Seiten hoch und niedrig Parsifal ihr Gesicht zuwenden, sich ihm zuneigen und – ideal gedacht – durch ihren Duft bedrängen. Blühende Schlinggewächse, von oben herabhängend, sich leise wiegend, hätten die Täuschung zu vervollkommnen geholfen. Es störte mich das fortwährende sich an Parsifals Halswerfen der Mädchen, die 48 braunen Beine, die nicht im entferntesten Blumen glichen, und Kundry – als Menschengestalt – dadurch zu Schaden brachten. Nein, das war meine Szene nicht, nicht meine ideale Vorstellung davon, und mehr denn je bedauerte ich, Wagner meine Gedanken nicht mitgeteilt zu haben, weil ich seines Einverständnisses sicher gewesen wäre.


Hier drängt es mich, einer Frau zu gedenken, die im Leben Wagners eine große Rolle gespielt, und der ich noch zu begegnen oft das Glück hatte.

Bald nach Bayreuth 1876 ließ sich eines Abends Frau Mathilde Wesendonk bei mir melden, eine in Wesen und Aussehen außerordentlich feine Frau. Nie war ich ihr vorher begegnet, auch nicht in Bayreuth, wo sie dem Ring beiwohnte. Von nun an kam ich oft zu ihr, doch erinnere ich mich nicht, sie je in anderen Gesellschaften getroffen zu haben. Ihr Gatte war eifriger Bildersammler, und alles, was man um die beiden in ihrem reich ausgestatteten Hause erblickte, atmete feinen Kunstsinn und stille Zufriedenheit. Daß auf der ruhigen, ernsten Frau ein Kummer lastete, der sich in tiefer Resignation ausprägte, wurde man gewahr. Ich weiß nicht, ob ich mich meiner Unkenntnis sehr zu[75] schämen brauche, aber ich wußte damals nichts von den intimen Beziehungen »Wagner-Wesendonk«, wußte nur, daß beide Gatten Wagner sehr befreundet waren und viel für ihn getan hatten. In ihrem Hause hörte man oft Wagner interpretieren, und einmal sogar sang ich nebst dem großen Siegfriedduett auch noch die Walaszene, die Klindworth begleitete. Mathilde Wesendonk kam öfter zu mir und lauschte voller Interesse meinen Bayreuther Erzählungen. Voller Stolz erzählte sie mir in ihrer zurückhaltenden Art von dem Tristan-Manuskript, das sie besäße, und von der kostbaren Widmung. Manchmal sogar schien es mir – was sich erst in der Erinnerung auf das bestimmteste in mir hervorhob –, als habe sie mir seelisch näher treten, sich vielleicht vertraulich mit mir aussprechen wollen über manches, was ihr Interesse an Wagners Leben ersehnte. Törichte Scheu hielt mich davon ab, ein Thema zu berühren, das mir erst eigentlich aus »Wagners Briefen an Mathilde Wesendonk« deutlich zum Bewußtsein kam. Noch kurz vor ihrem Tode besuchte ich die nun einsame Frau. Sie hatte ihre Tochter, Frau von Bissing, und ihren Gatten verloren, lebte nur noch ihrem Sohn und ihren Enkelkindern, war sehr gealtert und gänzlich resigniert, wie jemand, der mit Sehnsucht auf Erlösung harrt. Wie schade, daß ich früher nicht verstand, ihr so nahe zu treten, daß ich ihr hätte eine Freundin werden können, wie unendlich glücklich würde es mich gemacht haben! Nur wenige Tage nach ihrem Tode sang ich ihre fünf Gedichte als Requiem für eine Frau, von der mehr zu wissen uns vielleicht eine Wohltat gewesen wäre.

Nachdem unsre Schweizer Reise 1882 beendet und ich nach Berlin zurück mußte, blieb Mamachen bei Riezl in Wien, die ihr das Leben angenehmer zu gestalten wußte als ich. Dennoch sehnte sie sich in ihre altgewohnten Räume nach Berlin und mir zurück. Entgegen unsern Plänen sahen wir uns erst im März wieder. Einstweilen hatte ich für Fräulein E.T. oft die Carmen gesungen, und ich kann eben darum nicht einmal sagen, daß es mich befriedigte. Wirkliche Freude aber bereitete mir die Neueinstudierung von Lortzings Wildschütz, eine Oper, die ich nie vorher gehört, in der[76] ich – Baronin Freimann, Frau Lammert – Gräfin, Fräulein Driese – Gretchen, Fräulein Horina – Kammermädchen; Betz – Graf, Ernst – Baron, Krolop – Schulmeister, Salomon – Diener waren. Allerdings war ich mit der Baronin auch zuerst übergangen worden und erhielt sie nur, weil Frau Mallinger ablehnte; daran war ich gewöhnt! Die Oper wurde unter uns selbst gut studiert und am 31. Dezember 82 als Sylvestervorstellung bei der ausgezeichneten Besetzung mit größtem Heiterkeitserfolg gegeben; denn jeder brachte Lust und Liebe und frohen Humor zur Sache mit. Betz mußte regelmäßig seine Polonaise, wir unser Quartett wiederholen und konnten in der Billardszene vor Lachen oft nicht weitersingen. Als ich in der ersten Vorstellung als elegant, modern gekleideter junger Mann in der Kulisse meinen Auftritt abwartete, erkannte mich niemand, und erst als ich zu singen anfing, wußte man, wer heut in der Kulisse der Herr gewesen ist! – Daß Mamachen Carmen und die Sylvestervorstellung nicht mitmachen konnte, war mir schrecklich. Doch sah sie mich noch oft genug darin, da der Wildschütz unaufhörlich glänzende Einnahmen machte, Publikum und Künstler in heiterster Laune erhielt.

Wagners Tod warf einen schwarzen Schatten auf alles, was uns beschäftigte. Mama, der sein Tod sehr nahe ging, schrieb mir aus Wien die ominösen Worte: »Jetzt komme ich daran.« So etwas wird oft gesagt, nie geglaubt, und wir dachten gar nicht an die Möglichkeit, unsere teuere Mutter je zu verlieren. Allerdings hätte ihre sonst so schöne, gleichmäßige Schrift, die sich nun in Unregelmäßigkeiten erging, mich an die Bedeutung ihrer Worte mahnen sollen; damals aber fiel es mir nicht einmal auf. – Die ahnungsvolle Stimmung verlor sich auch bald wieder, als wir in Gmunden die herrliche Natur, den See genießen, bergauf, bergab laufen, auf dem See rudern konnten, und wo uns der alte kleine Baron Klesheim abends im Mondenschein seine kleinen, rührenden Gedichte vorsprach, von denen mir besonders das: »Die alt'n Leut« noch lange im Gedächtnis blieb!

Merkwürdig gut überstand Mama die Reise von Gmunden nach Bayreuth, die wir andern als Martyrium empfanden. Denn als wir nach 24 stündigem Unterwegssein mittags in Bayreuth ankamen, Wagners Grab besuchten und uns zur Parsifal-Vorstellung rüsteten, die um 4 Uhr begann, war sie mit ihren 76 Jahren frischer[77] als ihre Kinder. Welche Anstrengung! Und was mag sich in ihr abgespielt haben, wenn sie in Wirklichkeit sich mit dem Gedanken trug, uns bald verlassen zu müssen! Wir wußten nichts – wenn es mich auch hie und da überkommen wollte –, hatten mit uns selbst zu tun und gingen ahnungslos dem furchtbarsten Schmerze unseres Lebens entgegen, der durch traurige Nebenbedingungen uns nur noch fühlbarer gemacht werden sollte.

Eine schwere Erkältung, die ich mir beim Schwimmenlernen im Askanischen Bad zugezogen hatte, die sich vorerst in einem furchtbaren Schnupfen äußerte, lehrte mich bald viel Unangenehmes kennen. Vergebens hatte ich zwei Ärzte auf die außergewöhnlich heftige Art meiner Erkältung aufmerksam gemacht, aber auf meine Frage, ob ich mich nicht lieber ein paar Tage ins Bett legen und schonen sollte, die Antwort erhalten, daß es nicht nötig sei. Plötzlich hatte sich trotz aller Vorsicht eine Mittelohrentzündung gebildet, die mir sehr starke Schmerzen verursachte, und nun mußte natürlich ein Ohrenspezialist, Professor Traubmann, zur Hilfe herangezogen werden. Dieser stellte die Diagnose, daß ich vier Wochen früher hätte kommen und er nun alles würde aufbieten müssen, mich vor einer Ohrenoperation zu bewahren. – Das ging mir freilich auf die Nerven. Zehnmal wurde mir das Trommelfell im rechten Ohre aufgeschnitten, das gleich andern Tags immer wieder zugewachsen war; und endlich sollten diese zehnmal genügen. Vom 9. September bis 11. Oktober lag ich fortwährend in Eis gepackt, sobald ich vom Arzt heimkam; ich sollte niemand sehen, mich mit gar nichts beschäftigen, außerordentlich diät leben. Als mir der Arzt endlich wieder aufzutreten erlaubte, bekam ich einen Rückfall und hatte Mühe, mich unter erneuten heftigen Schmerzen zu erholen.

Am Vorabend meines Geburtstags besuchte uns Kapitän Mensing, um mir zu gratulieren. Er war Mamachen auf dem Leipziger Platz begegnet und machte mich – allerdings sehr vorsichtig – auf ihr verändertes Aussehen aufmerksam. Sie hatte nicht geklagt und mir, die ich stets um sie, war keine Veränderung aufgefallen. Ich schalt Mensing »Unke« und war ihm wirklich böse, als er fortging. Zum Geburtstagsabend hatten sich unsere alten lieben Freunde, Wirkl. Geheim. Kriegsrat Henry mit seiner lieben Frau, angesagt. Wir warteten über eine Stunde vergebens, weil[78] die zarte, kränkliche Frau, unterwegs von einem gemeinen Menschen angerempelt, sich erst von einer Ohnmacht erholen mußte, ehe sie zu uns fahren konnte. Es war ein trauriger Abend, denn auch Mamachen legte sich um 9 Uhr, mit starkem Herzklopfen, und hatte eine sehr schlechte Nacht. Es blieb auch Frau Henrys letzter Ausgang. – Von da an stellten sich bei Mamachen von Zeit zu Zeit Brustkrämpfe ein. Erst selten, dann in kürzeren Perioden, bis es oft drei in jeder Nacht wurden und mich, die ich selbst noch krank war, geradezu niederschmetterten. Wir versuchten die Nächte aufzubleiben und glaubten damit die Zeit der Krämpfe zu umgehen, aber es half nichts. Unsere Ärzte wußten die Krankheit nicht zu nennen, sondern erklärten sie für eine starke Erkältung, wozu ihr Husten vielleicht Veranlassung gab. Professor Schweninger, auf den ich meine ganze Hoffnung setzte, war abwesend. Auf Gnade und Ungnade mußte ich Mamachen der Wissenschaft dreier anderer Ärzte überlassen, zu denen ich nicht das geringste Vertrauen hatte. – Noch ehe ihr Zustand den schlimmsten Grad erreichte, wünschte sie, daß ich nicht ganz feiern solle, und obwohl mir selber gar nicht darum zu tun, sang ich einige Male; am 15. Dezember sogar noch die Brangäne im Tristan zum erstenmal, zu der ich mich selbst erboten hatte, weil seit Abgang von Marianne Brandt die Oper gar nicht mehr gegeben werden konnte, was mich für das herrliche Werk schmerzte. Vor Angst und Aufregung war ich am Schluß der Oper ganz heiser geworden. Von da an blieb ich bei Mamachen und ging nicht mehr von ihrer Seite. Welch trauriger Weihnachtsabend, an dem sie, in einem Krankenstuhle ruhend, der kleinen, stillen Bescherung aus dem Nebenzimmer zusah! Wie weh mag ihr zumute gewesen sein, wie furchtbar war es mir, wie wenig Hoffnung blieb noch, sie uns zu erhalten. Wie trostlos ist der hilflose Zustand, in dem sich der Gesunde einem so geliebten Kranken gegenüber befindet! Man möchte den lieben Gott herunterholen, möchte sich selber rückhaltlos opfern, und alle Liebe, alle Opfer helfen nicht über das Sterben, das schreckliche Sterben eines geliebten Menschen hinweg. Der Kelch des Leidens muß beiderseitig bis zum letzten Tropfen ausgekostet werden! Heimlich ließ ich Riezel unter dem Vorwand der Feiertage kommen und nahm eine Wärterin, da ich seelisch und körperlich schon schwer gelitten hatte.[79] Seit Tagen lagerten graue Nebel über Berlin, und nur am Abend traten herrliche Dämmererscheinungen, von japanischen Vulkanausbrüchen veranlaßt, bedeutungsvoll am Firmament hervor. Wie sehnte ich mich für die teure Kranke nach Sonne, die sich weder herbeisehnen noch erbitten ließ; und Tag und Nacht sandten wir Gebete um Erlösung zum Himmel, da jede Rettung ausgeschlossen schien. Gleichwohl schöpfte man in jedem schmerzensfreien Augenblick neue trügerische Hoffnung. Am 29. abends war sie fest eingeschlafen und ruhte einige Stunden. Eben kam der Arzt, den die scheinbare Wendung zum Besseren ganz glücklich machte, als ich sie rufen hörte. Sie hatte geträumt, sie läge im Grabe, und war glücklich, als ich ihr heiter alle Bekümmernisse ausreden durfte, denn der Arzt hatte mir beim Fortgehen gesagt: »Heute können Sie getrost schlafen, denn Ihre liebe Mutter ist gerettet!« Ich weiß nicht mehr, ob ich wirklich so vertrauensvoll war wie er, ich glaube nicht. Nur ungern verabreichte ich das neue Medikament, auf das sie die Nacht ziemlich ruhig verbrachte. Auch wir konnten ein paar Stunden angekleidet, wie seit vierzehn Tagen, der Ruhe pflegen, ich fiel buchstäblich um. Gegen Morgen höre ich Mamachen unruhig werden, ich eile hinzu, ihr die Füße zu wärmen, über deren Kaltwerden sie klagt, und sende Riezl zum Arzt, ihn herzubitten. Die Wärterin endlich, auch behilflich, ruft plötzlich laut: »Sehen Sie nur, wie blaß sie wird!« Ich bedeute der Frau, stille zu sein, nicht zu sprechen; denn wenn der Todesengel über der geliebten Mutter bereits schwebte, sollte sie von niemand daran gemahnt werden. Ein leises Röcheln, und alles war vorüber. Wie still es plötzlich ward, als ich, ihre Hände haltend, betend bei ihr kniete, Gott dankend, daß sie ausgelitten. Wie furchtbar still! Und doch hatte nur ein einziges unhörbares Mutterherz zu schlagen aufgehört! Die majestätische Größe des Todes gab mir übermenschliche Kraft, meiner Schwester entgegenzugehen, ihr tröstend zur Seite zu stehen, als sie bei der Nachricht laut aufschreiend vornüberstürzte. Den ganzen Tag noch hielt ich unsere treue geliebte Mutter fest, konnte ihr noch alles sagen, sie um Vergebung bitten für alles Leid, das sie durch mich erfahren hatte, und als sie uns die Geliebte am Abend nahmen, versank für lange Jahre die Welt vor meinen Augen, der ich nur halb noch angehörte.

1

König Ludwig von Bayern.

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 71-80.
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