Fünfzehntes Kapitel

[241] Was ich früher, als ich am Schlusse der zweiten Abteilung meiner Lebensgeschichte die Feder niederlegte, weder gedacht noch gewollt, soll jedennoch zur Wirklichkeit kommen; – ich soll sie wieder aufnehmen, um dem freundlichen Leser in meiner schlichten Weise auch noch diejenigen Lebensereignisse mitzuteilen, die mir nach meinem fünfundvierzigsten Jahre zugestoßen sind. So wünschen und verlangen es so manche Ehrenmänner und Ehrenfrauen alles Ranges und Standes, deren Stimmen mir hörbar geworden sind, und denen ich für ihre mir zugewandte Liebe gern dankbar werden möchte – dankbar aber vornehmlich auch meinem gütigen Schöpfer, welcher ganz gegen mein Hoffen mir bis hierher Leben, Kraft und Gesundheit schenkt und mich vielleicht nur dazu noch aufsparen und gebrauchen will, da ich doch sonst der Welt wohl nur wenig mehr nützen kann. Mein sonstiges Bedenken, von den neuern Zeiten und von meinem eignen, kleinen Anteil an den Welthändeln zu reden, ist auch nicht mehr das nämliche wie vormals; denn einmal kennt mich nun der Leser schon genug, um zu wissen, daß mir's nirgends um die Person, sondern immer nur um die Sache zu tun ist und wird mir also auch nicht leicht Ruhmredigkeit schuld geben, wo ich nur der Wahrheit die Ehre gebe; und dann, fürs andre könnte es hier und da doch auch wohl zutreffen, daß in meinem einfältigen Munde etwas zu Nutz, Lehre und Warnung jetziger und künftiger Zeiten mit unterliefe. Hauptsächlich aber drängt es mich, einem Manne, obwohl er meiner zu seinem Lobe nicht bedarf, weil ihn die Welt, sein Herz und seine Taten genugsam preisen, dem Manne, der in der Nacht der Trübsal über meiner Vaterstadt zuerst wie ein schöner, leuchtender Stern des Heils aufgegangen ist – die schuldige Anerkenntnis widerfahren zu lassen. Nein, ich will ihn nicht loben, aber meine getreue Erzählung selbst soll sein Lob sein!

Von der See hatte ich – ob gern oder ungern, das will ich nicht entscheiden! – meinen Abschied genommen; hatte mich auf ihr und in der Fremde genugsam herumgetummelt, um mir die Hörner abzulaufen und hielt es nunmehr für das Gescheiteste, mich an eine stille, bürgerliche Nahrung zu geben, wie es mein Vater und meine Vorväter auch getan hatten; denn der bisherige[241] Hang zum Seeleben war eigentlich nur mit dem mütterlichen Blute auf mich gekommen, und es schien ganz gut und recht, mich wieder zur väterlichen Weise zu wenden. Da nun auch mein ererbtes Häuschen ganz zum Betrieb von Bierbrauen und Branntweinbrennen eingerichtet war und mir diese Hantierung ebensowohl zusagte, als auch ein ehrliches Auskommen versprach, so bedachte ich mich nicht lange, sie gleichfalls zu ergreifen, habe auch manche liebe Jahre hindurch mein leidliches Auskommen dabei gefunden. Ich ward also Kolberger Bürger, hatte meinen besonderen Verkehr mit den Landleuten umher und rührte mich tüchtig, um nun das, was ich ergriffen hatte, auch ganz und aus einem Stücke zu sein.

Aber es mochte doch wohl sein, daß es entweder mit dem ebengedachten Hörnerablaufen noch nicht seine volle Richtigkeit hatte oder daß doch sonst noch für meine dreiviertel Schock Jahre zu viel Regsamkeit und Eifer in mir war, oder endlich lag es und liegt noch zu tief in meiner Natur, daß ich keine Unbilde – treffe sie mich oder andere – statuieren kann; genug, ich lief mit dem einen wie mit dem andern oft genug an, und ohne daß ich es wollte und wünschte, mag es auf diese Weise leicht gekommen sein, daß meine lieben Mitbürger, die es meist gemächlicher angehen ließen, mich mitunter für einen unruhigen Kopf verschrien und dem es in Guinea unter der Linie vielleicht gar ein wenig zu warm unterm Hute geworden. Von dem allen muß ich doch einige Pröbchen beibringen, die es beweisen mögen, daß ich noch immer der alte Nettelbeck war.

Erst also von meinem Unbedacht! – Der See mit genauer Not entronnen, dachte ich in meinem Sinn, daß es nun mit dem Ersaufen weiter keine Not haben sollte, und doch war ich auch als Landratze ein paarmal zunächst daran, einen nassen und elenden Tod durch eigne Schuld zu finden.

Es war im Dezember 1784, als mich einst mein Gewerbe nach Henkenhagen, einem Dorfe dritthalb Meilen von Kolberg entlegen, führte. Ich war zu Pferde und nahm den Weg dahin längs dem Strande, als den ebensten und gelegensten. Schon verdrießlich, daß mein Knecht den Gaul nicht nach meinem Sinne gestriegelt, und da dieser bei meinem scharfen Ritt unter dem Bauche heftig schäumte und schmutzig aussah, vermeinte ich beidem abzuhelfen, wenn ich ein Eckchen in die See ritte, um ihn von den Wellen abspülen zu lassen. Es war windiges Wetter und das Meer stürmisch. Sowie indes die nächste Welle zurücktrat, ritt ich ihr trocknen Fußes nach und ließ sie wieder heranrollen und ritt darnach wieder ein Eckchen und meinte nun genug zu haben.

Nun aber kam unversehens eine höhere Sturzwelle, die sich dicht vor meinem Pferde donnernd und schäumend brach. Es wurde davon scheu, bäumte und wandte sich, so daß nun eine neue Woge nicht nur über unsern Köpfen zusammenschlug, sondern auch, da sie uns von der Seite faßte, uns mit Gewalt zu[242] Boden warf. Ich hielt mich gleichwohl fest in Sattel und Bügeln. Als jedoch die See nach wenig Augen blicken wieder zurücktrat, richtete sich das Pferd mit mir empor, bis abermals eine Welle uns heimsuchte, die es dergestalt blendete, daß es, anstatt dem Zügel zu folgen und nach dem Strande umzukehren, vielmehr seeeinwärts kollerte und bald auch den Grund unter seinen Füßen verlor. Während wir nun schwimmend mehr unter als über dem Wasser krabbelten, ward mir doch der Handel endlich bedenklich. Ich suchte die Füße aus den Steigbügeln loszubekommen, warf mich vom Pferde herab und schwamm dem Lande zu, das ich auch glücklich erreichte. Doch Hut und Perücke waren verloren gegangen.

Den erstern sah ich noch in der Ferne treiben. Rasch warf ich den Rock vom Leibe und watete und schwamm ihm nach, bis ich ihn glücklich erreicht hatte. Abermals im Trocknen, schaute ich nun auch nach meinem Gaule um, der es mir glücklich nachgetan, aber, wild und scheu geworden, im vollen Sprunge landeinwärts lief. Ich eilte ihm nach und sah bald von den hohen Sanddünen herab, daß einige Leute bereits damit beschäftigt waren, ihn einzufangen. Als ich nun endlich herankam und sie mir mein Tier überlieferten, stand ich da, völlig durchnäßt, den Hut auf dem kahlen Kopfe (ein kurzgeschorner Schädel aber war damals etwas Lächerliches) und bedachte bei mir selbst, was weiter zu tun sei. Doch ich meinte, ich sei ja wohl eher einmal naß gewesen, warf mich aufs Pferd und trabte, als sei nichts geschehen, nach Henkenhagen zu.

Indes muß ich doch ziemlich verstört ausgesehen haben; denn alle Leute, die mir begegneten, sperrten die Augen auf und fragten, was mir begegnet sei; ich dagegen hielt mich mit keiner langen Antwort auf, bis ich das Dorf erreichte. Als ich aber nun vom Pferde steigen wollte, fühlte ich mich von Nässe und Kälte so erstarrt, daß ich mich nicht zu regen vermochte. Ob nun das, was ich tat, das Gescheiteste war, weiß ich nicht: aber anstatt den nächsten warmen Ofen zu suchen, machte ich mit meinem Gaule auf der Stelle rechtsum und sprengte im gestreckten Galopp nach Kolberg heim, wo ich mein Abenteuer mit einer achttägigen Unpäßlichkeit bezahlte, ohne jedoch dadurch klüger zu werden.

Denn noch in diesem nämlichen Winter versuchte ich es fast noch halsbrechender, indem ich in einem zweispännigen Jagdschlitten über Land fuhr. Es gab ein dichtes Schneegestöber, so daß man nur wenige Schritte deutlich sehen konnte. Bei der Mühle zu Simötzel hatte ich einen stark angeschwollenen Bach zu passieren, wo jetzt überdem in der gewöhnlichen Fuhrt viele zusammengetriebene Eisschollen zu erwarten waren. Dies zu vermeiden, ließ ich meinen Knecht absteigen, um sich umzusehen, ob etwa oberhalb der Mühle eine Brücke vorhanden sei. Er rief mir zu, daß er eine solche gefunden, und ich hieß ihm dicht vor den Pferden voranschreiten, um mir als Wegweiser zu dienen. So[243] nun folgte ich dem Menschen blind und gedankenlos zu einem Übergange, was nicht eine Brücke, sondern ein Steg ohne Geländer war, der aus zwei nebeneinander gelegten Balken bestand, die höchstens achtundzwanzig Zoll in der Breite betragen mochten. In der Länge aber hielten sie leicht sechsunddreißig bis vierzig Fuß, und das Gewässer rauschte ungestüm darunter hindurch.

Mitten auf dieser wunderlichen Passage, indem sich die Pferde (wie sie nicht anders konnten) heftig drängten, stürzte das eine rechts hinab in die Strömung. Es war ein Glück, sowohl daß der Schlitten dabei quer auf die Balken zu stehen kam, als daß bei dem Sturz des Tieres sämtliche Stränge rissen, noch ein größeres aber, daß gerade der Mühlbursche zufällig neben dem Mühlwehr stand, der augenblicklich die Schleuse niederließ und dadurch das reißende Gewässer zum Stehen brachte. Nun wurde der Schlitten samt mir und dem noch angeschirrten Pferde mit Not und Mühe von den Balken herabgebracht, während das andere, sich im Wasser wälzende endlich auch das Ufer gewann. Wäre der Zug des Gewässers nicht gehemmt und mir in meiner gefährlichen Schwebe nicht schnelle Hilfe geleistet worden, so trieb alles mit mir unausbleiblich durch die Schleuse und unter den Mühlrädern weg, die beide nur etwa dreißig Schritte von dem Stege entfernt waren.

Nun stand alles, was in der Mühle war, um mich her und fragte, wie ich so unsinnig habe sein können, mich und mein Leben mit einem solchen Zweigespann auf zwei elende Balken zu wagen? Da war nun wenig drauf zu antworten, als daß ich, durch das Schneetreiben am Sehen verhindert und mich auf meinen Führer verlassend, die Gefahr nicht eher inne geworden, bevor ich mitten drinne gesteckt. Hintendrein bei ruhigerem Nachdenken habe ich aber nur zu viel Grund zu dem Argwohn gefunden, daß der heillose Bube mich wohl absichtlich dahin gelockt haben könne, um mir mit guter Manier den Garaus zu machen; denn wenige Tage später entlief er aus meinem Dienste, und es fand sich, daß er mich auf eine bedeutende Weise bestohlen hatte.

Zu einer anderen Zeit saß ich in voller Gemütsruhe daheim vor meinem Rasierspiegel mit dem Messer in der Hand, als der Kämmereidiener, ein aufgeblasener, wüster Mensch, zu mir eintrat und mit lallender Zunge etwas daherstotterte, was ich nicht begriff und verstand, was aber wohl ein obrigkeitlicher Auftrag an mich sein sollte. Indem ich ihn verwundert und schweigend darauf ansah, aber sofort spürte, daß er sich einen derben Rausch getrunken, mochte er sich durch diesen meinen prüfenden Blick oder was es sonst war, beleidigt fühlen und stieß einige Grobheiten gegen mich aus, die ich in gelassener Kürze dadurch erwiderte, daß ich mein Rasiermesser beiseite legte, die Zimmertür öffnete und meinen torkelnden Urian bat, sich beliebigst hinauszutrollen. Dem aber schwoll der Kamm noch mehr; es kam zu unnützen Redensarten, und da ich damals noch in meinem Tun und Lassen ziemlich kurz angebunden zu sein[244] pflegte, so machte ich auch hier nicht viel Federlesens, sondern packte ihn mit derber Seemannsfaust am Kragen und schob ihn bei seinem Sträuben etwas unsanft auf die Gasse hinaus. Mag auch wohl sein, daß er dabei (denn mit dem Piedestal war's ohnehin unrichtig) auf die Pflastersteine zu liegen kam und sich den Mund blutig fiel, während ich mir nichts dir nichts an mein unterbrochenes Geschäft zurückkehrte.

Nun aber war auch sofort Feuer im Dache. Ich hatte einen ganzen wohledlen Magistrat in seinem an mich geschickten Diener beleidigt; und eine solche Ungebührlichkeit sollte und konnte nicht ungeahndet bleiben! Mochte ich vielleicht ohnedem schon nicht wohl angeschrieben stehen, so war dies nun ein neuer Frevel, wo die ganze obrigkeitliche Autorität mit ins Spiel zu kommen schien und einmal ein Exempel statuiert werden mußte! Gleich des andern Tages also kriegt ich eine Vorladung vom Magistrat, am nächsten Morgen diesertwegen im Rathause zu erscheinen.

Inzwischen hatte es der Zufall gefügt, daß bei einem Gange durch die Stadt meine Augen auf das Mauerwerk der Kupferschmiedsbrücke fielen, wo ich wahrnahm, daß beide Stirnmauern, auf welchen das Gebälke der Brücke ruhte, in sehr schadhaftem Stande, und die eine derselben sogar zum Teil niedergeschossen sei, so daß durch das nächste, etwas schwere Fuhrwerk, das hinüber passierte, leicht ein Unglück entstehen könnte. Dies hatte ich auch sofort nach Bürgerpflicht dem Stadtdirigenten, Landrat Sehlert, angezeigt, der sich vor der vorhandenen Gefahr zur Stelle überzeugte und von Stund an die Brücke sperren ließ. Daneben hatte ich ihm vorgeschlagen, daß es zur Erneuerung des Gemäuers keineo weitern kostbaren Unterbaues und Gerüstes bedürfen werde, wenn man nur einen Baggerprahm von der Kolberger Münde herbeischaffte und unter die Brücke brächte. Er billigte das, und ich hatte den Prahm auch wirklich herbeigeholt und unter der Brücke befestigt. Die Maurer aber waren seitdem auf demselben mit ihrer Arbeit beschäftigt.

Indem ich nun zu der beschiedenen Zeit auf dem Wege nach dem Rathause begriffen war, um meine Strafsentenz zu empfangen, sah ich schon aus der Ferne, daß das Wasser im Persantestrom durch einen hartstürmenden Nordwind hoch aufgestauet war, und als ich zur Brücke gelangte, fand ich es dort in solcher Höhe angeschwollen, daß der Prahm bis dicht unter die Balken der Brücke emporgehoben worden und jeden Augenblick zu befürchten war, er möchte die ganze Brücke abtragen und davonführen, wenn er nicht ungesäumt unter derselben hinweggebracht werden könnte. Im Weitergehen ging ich (wie ich es bei so etwas nicht lassen kann) mit meinen Gedanken zu Rate, auf welche Art hier wohl zu helfen sein möchte; wiewohl doch mein stiller Groll, je näher ich dem Rathause kam, mir je mehr und mehr zuflüsterte: »Du bist ja doch wohl ein[245] rechter Tor, dich mit solcherlei Anschlägen zu plagen! Hast du doch von all deinem Besttun nichts als Ärger zum Lohn.«

Als ich in die Ratsstube eintrat, war mein Verkläger schon vorhanden, etwas nüchterner zwar als vorgestern, aber auch nur um so fertiger mit dem Maul, zumal da er bald wahrnahm, daß die Herren ihm den Rücken steiften, indem sie mir mit etwas unhöflichen Vorwürfen das, was ich getan, als eine Verachtung der Obrigkeit auslegten. Ich dagegen führte meine Sache nach der Wahrheit; es wurde hin und her gestritten, und der Herr Sekretarius hatte seine volle Arbeit mit Protokollieren... Siehe! da flog unversehens die Tür auf, und mit Schrecknis im Angesicht kam der Stadtzimmermeister Kannegießer hereingestürzt und rief: »Meine Herren, es wird ein großes Unglück geschehen – die Brücke wird zusamt dem Prahm davon gehen. Ich bin nicht mehr vermögend gewesen, ihn darunter hervorzubringen, und noch steigt das Wasser mit jeder Minute. Kommen Sie selbst, Herr Landrat, und überzeugen sich, daß das Unglück nicht mehr abzuwenden ist.«

Beide eilten hinaus, und mit dem Protokoll hatte es einstweilen einigen Stillstand. Da wandte sich denn der Zweite Bürgermeister Roloff an mich und sagte: »Nettelbeck, Sie pflegen ja sonst wohl in manchen Dingen guten Rat zu wissen, zumal wo es in Ihr eigentliches Element einschlägt wie hier. Sagen Sie doch – was ist dabei zu tun?«

»Ich meine, dem ist bald abgeholfen«, war meine kurze Antwort. »Man bohrt ein Loch in den Prahm und läßt ihn so weit voll Wasser laufen, bis er sich hinlänglich gesenkt hat, um wieder unter der Brücke hervorzugleiten.«

Kaum waren diese Worte ausgesprochen, so riß der Bürgermeister hastig das Fenster auf und schrie den Weggehenden drunten zu, augenblicklich zurückzukehren. Es geschah, und indem sie eintraten, hub er an: »Nettelbeck schlägt soeben ein gutes Mittel vor, die Brücke zu retten.« – Ich aber wandte mich zu dem Zimmermeister: »Nehme Er einen zweizölligen Böttcherbohrer, und bohre Er damit ein Loch in den Boden des Prahms, dann wird so viel Wasser hineinlaufen, daß dieser sich um einen oder ein paar Fuß senkt und Spielraum genug gewinnt, unter der Brücke durchzugleiten. Damit er aber bei seiner Last von Kalk, Lehm und Mauersteinen nicht gar auf den Grund versinke, so muß das Loch auch zu rechter Zeit wieder verstopft werden können, und dazu wird es bloß bedürfen, sich im voraus mit einem langen, hölzernen Pfropf nach dem Maße der Öffnung zu versehen.«

Ehe ich die Worte noch gänzlich geendet, rief der Zimmermeister mit flammenden Augen: »Das geht! – Wahrhaftig, das geht! – Herr Landrat, bleiben Sie in Gottes Namen hier, nun soll dem Dinge bald geholfen sein.«

Jetzt gab es um den Ratstisch her abermals eine Stille, bevor mein Protokoll wieder beginnen wollte; dann aber stand der Bürgermeister Roloff von[246] seinem Stuhle auf, sah all die Ratsherren nach der Reihe an und sagte: »Meine Herren – den Mann sollten wir strafen? – Was meinen Sie?« – Alles still, bis auch der Landrat aufstand und sich zu meinem Widerpart wandte: »Ein andermal, guter Freund, wenn Magistratssachen an Bürger zu bestellen sind, geschehe es nüchtern, mit Vernunft und mit Bescheidenheit. Die Sache ist hiermit abgetan, und Sie, Herr Nettelbeck, gehen in Gottes Namen und mit unserm Dank nach Hause.« – Und das tat ich denn auch, nachdem ich zuvor noch selbst nach dem Prahm gesehen und fernern Rat und Anschlag gegeben.

Wiederum und nicht lange darnach begab sich's, daß kurz vor der Weihnachtszeit ein Glöckner in der Stadt vermißt wurde, nachdem er – vielleicht etwas angetrunken – auf die Lauenburger Vorstadt geschickt worden, um als Kirchendiener fällige Landmiete einzufordern. Zwar hatte er gegen die Abendzeit den Heimweg wieder angetreten; aber wo er zuletzt geblieben, war auf keine Weise zu ermitteln. Endlich am Nachmittag des Heiligen Abends vor Weihnachten erscholl das Gerücht, der arme Mensch liege unweit der zweiten kleinen Brücke tot im Wallgraben mitten im Rohr, wohinab er von dem steilen, mit Glatteis überzogenen Walle gepurzelt sein mochte.

Voll Mitleids lief ich hinzu und fand bereits die Brücke mit unzähligen Menschen aus allen Ständen besetzt, welche alle nach dem Ertrunkenen hingafften, ohne irgendeine hilfreiche Hand anzuschlagen. »Aber, lieben Leute«, wandte ich mich an einige nächststehende Bürger, »warum wird der Leichnam nicht herausgeschafft? Wir wollen da nicht lange säumen – kommt und helft mir!« – Allein sie verzogen die Mäuler, murmelten etwas, das so klang, als wollten sie sich damit nicht unehrlich machen und dem Henkersknecht vorgreifen, und einer nach dem andern zog sich sachte von mir ab. Weil ich nun sah, daß auf einem andern Fleck Landrat und Bürgermeister und wer sonst noch vom Rate beisammenstanden, trat ich sie an und bat, daß sie es doch möglich machten, den toten Körper aus dem Wasser zu ziehen. – »Mein Gott!« versetzte der Landrat, »es will's ja keiner!« – »Gut, so will ich's«, war meine Antwort. – »Ich allein aber schaffe nichts. Meine Herren, gebe einer von Ihnen ein gutes Beispiel und helfe mir.« – Ich sah einen nach dem andern darauf an, aber meine Rede dünkte ihnen spöttisch, und sie kehrten mir den Rücken. – Nun wurde ich warm und griff einen geistlichen Herrn, den die Neugierde auch herbeigeführt hatte, am Rockärmel: »Topp, Herr! Wenn keiner will und ein fühlbares Herz hat, so machen wir beide uns getrost ans Werk!« – »Ich? ich?« stotterte er, »mein Gott, dazu bin ich nicht imstande« – und somit riß er sich von mir los und entfernte sich eiligst. Mir aber lief endlich auch die Galle über. Ich schickte ihnen allen einen derben Seemannsfluch nach und begab mich in grollendem Unmute nach Hause.

Kaum ein paar Stunden darauf erfuhr ich durch meinen Sohn, daß endlich[247] den beiden Bettelvögten von Magistrats wegen befohlen worden, den Ertrunkenen aus dem Graben zu holen. Weil aber die Stelle bei fortwährendem Glatteise wirklich einigermaßen gefährlich und es alte, steife Kerle waren, so fiel das Experiment so unglücklich aus, daß der eine gleichfalls kopfüber neben dem Glöckner ins Wasser stürzte und auf der Stelle ersoff. Das war im Angesicht von mehr als hundert Menschen geschehen, deren keiner einen Finger rührte, das neue Unglück zu verhüten oder wieder gutzumachen.

Nun ließ mich's noch weniger ruhen als vorher. Ich eilte dem Platze zu, mitten in das Gedränge, das jetzt noch dichter zusammengeströmt war. »Lieben Leute«, rief ich, »jetzt endlich werdet ihr doch in euch gegangen sein und euch schämen, daß solch ein Skandal vor euren sichtlichen Augen hat geschehen können? – Kommt! Helft! Laßt uns wieder gutmachen, soviel noch möglich ist!« – Waren sie mir aber vorher schon, sobald sie mich erblickten, ausgewichen, so wollte mir jetzt noch weniger jemand standhalten. Da konnte ich mir denn freilich nicht anders helfen und las ihnen eine Epistel, die von den derbsten war. »Wie?« rief ich, »seid ihr Menschen, seid ihr Christen? Seid ihr wohl wert, daß Gott seine Sonne über euch aufgehen läßt? Bei Heiden und Türken und in Ländern, die nichts von Gott und Jesu Christo wissen, hilft und rettet doch einer den andern, wenn es um Leib und Leben gilt!«

Drauf griff ich einen Schönfärber an, der mir eben in den Wurf kam. – »Was meinst du? Wenn du oder ich dort lägen, wo diese Unglücklichen liegen: wolltest du oder ich erst von unehrlichen Händen herausgezogen sein?« – »Dazu gebe sich ein andrer her, aber ich nicht!« antwortete er mir trotzig und ging seines Weges. Ich schalt, ich tobte, aber damit war nichts ausgerichtet. Ich mußte meinen Ingrimm in mich schlucken und rannte nach Hause, um nur von der ganzen Historie nichts mehr zu sehen und zu hören. Kaum aber da angelangt, kam ein Bote, der mich eiligst zum Landrat beschied, ohne daß ich wußte, was es da geben solle. Noch voll Ärgers ließ ich ihm die (freilich nicht ganz hübsche) Antwort zurückvermelden: »Erst nur möge er sorgen, daß er die Toten aus dem Graben schaffte. Es sei morgen hoher Festtag und darum um so nötiger, daß der unchristliche Spektakel ein Ende nähme.« – Eben diese Betrachtung aber mochte es wohl sein, was den Herren bange machte und was auch den Bürgermeister zur nämlichen Stunde bewog, mich zu ihm bitten zu lassen. In der Tat hatten beide, als ich nach einigem abgekühlteren Besinnen mich zu dem Gange entschloß, ein und das nämliche Ansinnen und ersuchten mich mit den freundlichsten Worten, sie aus dieser Verlegenheit zu ziehen und der Stadt die Schande zu ersparen. Nun waren sie zwar selbst Zeugen, wie wenig ich mit meinem gutwilligen Eifer ausgerichtet; indes verhieß ich ihnen doch, es von neuem zu versuchen und mein Bestes zu tun.

Indem ich nun wieder zu der Brücke kam, stöberte mein bloßer Anblick, als[248] wäre ich der Knecht Ruprecht gewesen, alles auseinander, was da noch stand und Maulaffen feil hatte. Sie mochten sich wohl vor einer neuen Strafpredigt fürchten. An Ort und Stelle sann und sann ich nun, wie das Ding am schicklichsten anzugreifen und wie vor allen Dingen ein tüchtiger Kumpan zu finden sei, der seine Hand mit anlegte. Da kam im glücklichsten Moment, von diesem allen noch nichts wissend, mein guter, alter Freund, der Brauer Martin Blank, ehemals mein Seekamerad, von einem Gange auswärts dahergeschritten. Dem erzählte ich nun mit kurzen Worten, was mich auf dem Herzen denekte, und schloß damit: »Bruderherz, du bist ein Mann von meinem Schlage, du wirst mir helfen!« – »Ja, das will ich!« war seine Antwort, indem er seinen Mantelrock abzog und auf das Brückengeländer warf. Ich ging voran, und er folgte.

Der Abhang des Walles war steil und schlüpfrig, und unten am Rande des Grabens ließ sich nur mit Mühe fußen. Mein Gefährte mußte mich oben am Kragen halten, während ich mich niederbog, den nächsten Leichnam zu erfassen; aber der Ort war so gefährlich, daß wenig fehlte, wenn ich nicht das Gleichgewicht verlor, und der Dritte unten im Graben war, wiewohl das weniger zu sagen hatte, da ich schwimmen konnte. Weil denn aber an dieser bösen Stelle nichts auszurichten war, mußte besserer Rat geschafft und vom Torschreiber eine Leine herbeigeholt werden, die wir um die toten Körper schlangen, und womit wir sie nach einer zugänglichern Stelle zogen, bis sie denn endlich glücklich aufs Trockne gebracht wurden.

Darüber war es Abend geworden, und mein Freund, der nunmehr nach Hause zu eilen hatte, überließ mir die Sorge, die Toten vollends an einen schicklichen Ort zu schaffen. Mir fiel die Kalkkammer der St. Georgenkirche auf der Vorstadt bei, wo sie vorerst niedergelegt werden konnten, um nach den Feiertagen christlich beerdigt zu werden. Aber ehe sie dahin gelangten, mußte ein Bauer, der noch spät mit seinem Fuhrwerk aus der Stadt kam, von der Torwache angehalten und halb in der Güte, halb mit Gewalt bewogen werden, sie bis dahin aufzuladen. Selbst der Küster, den ich herauspochte, machte eine bedenkliche Miene, ihnen das Plätzchen zu gönnen und griff nur erst nach den Kirchenschlüsseln, als ich mir's herausnahm, mit einem Wörtchen von Absetzung zu drohen. Zuletzt stattete ich von allem schuldigen Bericht bei der Obrigkeit ab und erhielt herzlichen Dank zum Lohn. Mehr verlangte ich auch nicht, und selbst um diesen wäre mir's kaum zu tun gewesen. Mehr aber freut mich's, daß seitdem die Zeiten auch in jenem schändlichen Vorurteil sich ganz umgewandelt haben und daß jetzt hoffentlich so etwas in meiner lieben Vaterstadt nicht wieder vorfallen könnte.

Neben meinen häuslichen und Berufsgeschäften machte ich mir aber von Zeit zu Zeit auch noch andre Sorgen, die ich mir wohl hätte sparen können, wenn ich[249] sie nicht als meine Spielpuppe betrachtet hätte, und um die ich mich zu andrer Zeit selbst auslachte. Man wird sich aus meinem frühern Seeleben erinnern, daß zu Anfange des Jahres 1773 unser Sklavenschiff eines empfangenen Lecks wegen genötigt gewesen, in den Fluß Kormantin zwischen Surinam und Berbice einzulaufen und wie ich damals dort eine ungemein fruchtbare, aber noch von keiner europäischen Macht in Besitz genommene Landschaft vorgefunden. Flugs wirbelte mir auch dieser letztere Umstand im Kopfe herum, der preußische Patriotismus ward in mir lebendig, und ich sann und sann, warum denn nicht mein König hier ebensogut als England und Frankreich seine Kolonie haben und Zucker, Kaffee und andere Kolonialwaren eben wie jene anbauen lassen sollte? Je länger ich mir das Projekt ansah, desto mehr verliebte ich mich drein, und zugleich meinte ich, daß ich selbst in meiner Einfalt wohl der Mann dazu sein könnte, Herz und Hand zur Ausführung dranstrecken zu helfen.

Darum ließ mir's auch, als ich des nächsten Jahres darauf nach Kolberg zurückgekehrt war, keine Ruhe, als bis ich mich hingesetzt und meinen Plan umständlich zu Papier gebracht hatte. Ich dachte, wer ihn läse und nur irgend zu Herzen nähme, müßte mir auch in meinen Vorschlägen beipflichten, und so packte ich ihn sein mit einer alleruntertänigsten Vorstellung zusammen und schickte mein Schoßkind unmittelbar an den alten Friedrich ein, der zuletzt doch immer das Beste bei der Sache tun mußte. Hatte ich jedoch geglaubt, da vor die rechte Schmiede zu kommen, so war ich gleichwohl arg betrogen; denn woran es auch immer liegen mochte, meine Eingabe blieb ohne Antwort, und so ließ sich wohl daraus schließen, daß der König das Ding nicht mit meinen Augen angesehen und weiter auf ihn nicht zu rechnen sein werde. Also war ich auch gescheit genug, ihm weiter keinen Molest damit zu machen.

Nur mir selbst wollte die schöne preußische Kolonie am Kormantin noch immer nicht aus Sinn und Gedanken weichen! Ich putzte mir das Luftschloß noch immer besser und vollständiger im einzelnen aus, und da ich wohl erwog, daß der Anbau des Landes ohne Hilfe von hinreichenden Negersklaven nicht zu bewerkstelligen sein werde, so verband ich damit zugleich die Idee einer Niederlassung auf der Küste von Guinea, wo ja schon hundert Jahre früher der Große Kurfürst und seine Brandenburger festen Fuß gefaßt gehabt und von wo die neue Kolonie mit schwarzen Arbeitern hinreichend versorgt werden könnte. So wurde mir mein Projekt von Tage zu Tage lieber, ob gleich ich meine Gedanken für mich behielt und auf künftige, bessere Zeiten rechnete, denn was der königliche Greis als zu weit aussehend von der Hand gewiesen hatte, das konnte ja leicht bei seinem hochherzigen Nachfolger einst eine günstigere Aufnahme finden.

Als daher Friedrich der Einzige die Augen geschlossen, und Friedrich Wilhelm auf seinem Wege zur Huldigung in Königsberg durch Pommern zog, nahm ich flugs meinen alten Plan wieder vor und paßte es so ab, daß ich dem Könige[250] in Köslin unter die Augen kam und ihm mein Memorial überreichte. Kaum auch liefen einige Wochen ins Land, so hatte ich auch meinen Bescheid, des Inhalts: »daß Se. Majestät auf den entworfenen Plan zu einer Seehandlung nach Afrika und Amerika für Höchstdero eigne Rechnung zwar nicht entrieren möge, inzwischen die gemachten Vorschläge der Seehandlungssozietät zugefertigt und derselben überlassen habe, ob sie darauf sich einzulassen ratsam finde.«

Das war nun wohl nicht ganz auf mein Ohr; aber doch ließ es sich hören, und die Herren von der Seehandlung konnten vielleicht geneigt sein, Vernunft anzunehmen. Aber was geschah? – In noch kürzerer Frist (denn rasch genug expedierte man mich!) ging, nicht von jener Sozietät, an die ich verwiesen worden, sondern von dem Königl. Preuß. Pomm. Kriegs- und Domänen'Kammer-Deputations Kollegium zu Köslin die Resolution bei mir ein: »Da Se. Königl. Majestät geruht hätten, auf jene Vorschläge nicht zu reflektieren, so könne auch besagtes Kollegium sich auf das weit aussehende Handlungsprojekt nicht einlassen.« – Nun, so war denn meine Freude abermals in den Brunnen gefallen, was mir damals herzlich leid tat, weil ich glaubte, daß in Köslin wohl freilich nicht die rechte Erleuchtung über meinen Plan zu suchen gewesen sein möchte. Späterhin habe ich in Erfahrung gebracht, daß die Engländer auf den nämlichen Gedanken gekommen und daß es ihnen auch nicht gefehlt habe, am Flusse Kormantin eine Niederlassung mit dem gedeihlichsten Erfolge zu gründen.

Ich hatte aber auch kaum nötig, mich um Dinge in der Ferne zu kümmern, da Gelegenheit genug in der Nähe war und mir dicht vor den Füßen lag, wo ich zum Guten raten und mich ums allgemeine Beste einigermaßen verdient machen konnte. So war es etwa gleich ein Jahr nachher (1787), daß die Kolberger Kaufmannschaft mir die Ehre antat, mich zum Verwandten des Seglerhauses aufzunehmen. Es ist dies nämlich ein städtisches Kollegium, welches aus fünf Kaufleuten und drei der angesehensten Schiffer besteht und das Seegericht bildet, vor welchem alle Schiffahrtssachen sowohl nach dem preuß. Seerecht als nach den Usanzen in erster Instanz entschieden werden. Diese Auszeichnung konnte und wollte ich nicht von mir zurückweisen, und so geschah es denn, daß gleich in der zweiten oder dritten Session ein Schiffer, vom Kolberger Deep gebürtig, und ein Steuermann, ebendaher, aufgefordert wurden, ein Protokoll zu unterzeichnen. Der Schiffer kratzte seinen Namen mit Not und Mühe auf das Papier; sein Gefährte aber erklärte, daß er des Schreibens völlig unkundig sei und begnügte sich, seine drei Kreuze hinzumalen, wobei ihm die große Brotschnitte, die er zu seiner Beköstigung zu sich gesteckt, beinahe aus dem Busen gefallen wäre.

Ich kann nicht leugnen, daß ich mich hierbei tief in die Seele dieser ehemaligen Standesgenossen schämte. Wes das Herz voll war, des ging auch der Mund über, und so bat ich meine Herren Beisitzer, es doch reiflich zu Herzen[251] zu nehmen, wie schlechte Ehre wir Preußen einlegten, wenn so oft Landsleute von diesem Schnitt vor einem auswärtigen Seegericht ständen, und was für Gedanken Holländer und Engländer wohl von unserm Seewesen fassen möchten. Das wenigste wäre, daß fremde Handelsleute sich auf alle Weise hüten würden, solchen unwissenden und rohen Menschen Schiffe und Ladungen anzuvertrauen, und daß darüber die ganze preußische Reederei in Mißkredit und Verachtung geraten könnte. Andrer Orten – setzte ich hinzu – würde kein Steuermann oder Schiffer zu gelassen, bevor sie in einem Steuermannsexamen erwiesen hätten, daß sie ihrer Kunst und Wissenschaft vollkommen mächtig geworden. Sie wüßten auch, daß ich noch immer fortführe, mich in meinen Nebenstunden mit dem Unterricht junger Seeleute zu beschäftigen, und so läge mir denn zur Sicherung meiner eigenen Ehre daran, daß sie die Güte hätten, mit nächstem einer Prüfung meiner Lehrlinge beizuwohnen und sich von ihren gemachten Fortschritten in der Steuermannskunst zu überzeugen.

Das geschah auch wirklich, und die Herren fanden einen solchen Wohlgefallen an der Sache, daß auf der Stelle beschlossen wurde: es solle fortan auf hiesigem Platze kein Schiffer oder Steuermann angenommen und vereidet werden, bevor er nicht seine Tüchtigkeit durch ein wohlbestandenes Examen nachgewiesen. Und so ist es seitdem auch fortdauernd hier gehalten worden.

Um die nämliche Zeit etwa befand sich das hiesige Königl. Lizentamt in einiger Verlegenheit wegen eines hinreichend tüchtigen Schisssvermessers, der sich auf die Berechnung der Trächtigkeit der Fahrzeuge verstände, und wie viel Lasten sie laden und über See führen könnten. Denn bisher hatten ein paar subalterne Lizentbeamten dieses Geschäft versehen, aber so unwissend und ungeschickt, daß die von ihnen vermessenen Fahrzeuge stets zu groß oder zu klein befunden wurden; woher es denn auch an Streitigkeiten zwischen dem Lizent und den Schiffern nie abriß. Zufällig mochte es nun bekannt geworden sein, daß ich mich auf dies Geschäft verstände, und so geschah mir von der obern Zollbehörde der Antrag, mich solcher Verrichtung für die Zukunft anzunehmen. Mehr der Ehre als des kleinen Nutzens wegen ließ ich mich dazu willig finden, legte hier im Hafen an einigen Schiffen, die bereits in Danzig und Königsberg vermessen waren, meine Probe ab und ward demnächst von der Königl. Regierung zu Stettin in Pflicht genommen und bestätigt, ohne mir träumen zu lassen, daß ich dadurch den Neid und Groll meiner beiden Vorgänger in diesem Amte erregt haben könnte.

Das erste Schiff, was mir zur Berechnung vorkam, war ein kleines englisches, scharf gebautes Fahrzeug, auf zwei Decke eingerichtet, Kajüte, Roof und Kabelgat mit im Raume versenkt, so daß in letzterem nur wenig zur Belastung übrigblieb. Indem ich nun den kubischen Inhalt nach diesen besondern Umständen in eine Verzeichnung brachte, ergab meine darauf gegründete Berechnung eine Belastungsfähigkeit von nicht mehr als sechsunddreißig Lasten zu fünftausendsiebenhundertsechzig[252] Pfund, wie damals gebräuchlich war. Während jedoch mein Attest hierüber an die Regierung abging, hatten meine beiden Widersacher das Schiff gleichfalls nach ihrer Weise in aller Stille vermessen, die Trächtigkeit desselben auf fünfundfünfzig Lasten berechnet und darüber gleichzeitig einen Bericht nach Stettin abgesandt, worin ich ebensosehr der Unwissenheit als der Unredlichkeit beschuldigt wurde.

So gelangte denn bald darauf ein gefährlich besiegeltes Schreiben an mich, worin die Stettiner Herren mir meine begangene Ungeschicklichkeit vorhielten und mich zur Verantwortung zogen. Ich meines Teils begnügte mich, meinen gemachten Riß samt der schriftlichen Berechnung einzupacken und um eine strenge, aber unparteiische Prüfung meines Verfahrens zu bitten, mit dem Beifügen, daß übrigens diese Arbeit, so wie sie meine erste gewesen, auch meine letzte bleiben werde. Nun war man doch dort so vernünftig oder so billig gewesen, unsre beiderseitigen Aufsätze in Danzig und Königsberg einer neuen Berechnung unterwerfen zu lassen, wobei die Richtigkeit des meinigen sowie die Unrichtigkeit des anderen Machwerks aus Tageslicht kam. Meine Angeber wurden für ihren bösen Willen außer einer Ordnungsstrafe angewiesen, sich fernerhin in mein Geschäft nicht zu mischen, mir aber angetragen, dasselbe wiederum zu übernehmen. Solches habe ich denn auch des gemeinen Besten wegen gern getan und dies Amt bis zum Jahre 1821 mit Ehren verwaltet.

Ernstlicher aber war es um das Jahr 1789 und weiterhin mit einem Streite gemeint, den die Kolberger Bürgerschaft unter sich auszufechten hatte, und wobei ich, auch wenn ich gewollt hätte, unmöglich ruhiger Zuschauer bleiben konnte. Aber freilich, ich wollte und konnte auch nicht, da es darauf ankam, himmelschreiende Mißbräuche aufzudecken und abzustellen, die unter dem Schein des Rechten ohne alle Scheu ausgeübt wurden. Es gab nämlich in Kolberg nach der damaligen städtischen Verfassung ein Kollegium, genannt die Fünfzehnmänner, weil es aus funfzehn der angesehensten Bürger bestand, und welches ursprünglich die Gerechtsame der Bürgerschaft bei dem Magistrat zu vertreten hatte, und dessen Gutachten in städtischen Angelegenheiten gehört werden mußte. Allmählich aber hatten diese Fünfzehnmänner angefangen, ihr Ansehen mehr zu ihrem Privatnutzen als zum allgemeinen Besten geltend zu machen, und so wie die Menschen nun einmal zum Bösen immer fester zusammenhalten als zum Guten, so war auch hier schon seit lange eine enge Verbrüderung entstanden, sich einander zu allerlei heimlichen Praktiken den Rücken zu steifen und durchzuhelfen. Da waren denn Depositenkassen angegriffen, Scheinkäufe angestellt, Gemeindegut liederlich verschleudert und andre Greuel mehr begangen worden, die ein recht- und ehrliebender Mann vor Gott und seinen übervorteilten Mitbürgern nicht länger dulden konnte.[253]

Ich schäme mich nicht, zu bekennen, daß ich der erste war, der dem Fasse den Boden ausstieß, und als ein paar wackre Männer, der Zimmermeister Steffen und der Gastwirt Emmrich, auf meine Seite traten, so brach ich los und machte eine lange Reihe von Ungebührnissen, Veruntreuungen und krummen Schlichen, die in der letzten Zeit verübt worden, vor Gericht anhängig. Es kam darüber zu einem langen und verwickelten Prozesse, wobei die ganze Last auf uns drei zurückfiel, die wir von gemeiner Bürgerschaft als Worthalter mit Vollmacht hierzu versehen waren. Keine Art von Ränken und Rabulistereien blieb gegen uns unversucht, so daß der Rechtsstreit dadurch beinahe vier Jahre hindurch verschleppt wurde. So wie ich mir die Sache zu Herzen nahm, hatte ich während dieser ganzen Zeit keine ruhige Stunde, und oft hätte ich gern mit Feuer und Schwert drein fahren mögen, wenn das heillose Gezücht immer ein neues Mäntelchen für seine aufgedeckte Bosheit zu erhaschen suchte. Endlich aber doch kam die unsaubere Geschichte zu einem noch leidlichen Schlusse, demzufolge das Kollegium der Funfzehnmänner gänzlich aufgelöst wurde, um neuerwählten Zehnmännern Platz zu machen, welche als Repräsentanten der Bürgerschaft die nämlichen Befugnisse haben sollten, ohne die nämliche Macht zum Bösestun von ihnen zu erben. Man bewies mir das Vertrauen, mich in die Zahl dieser zehn Bürgerrepräsentanten aufzunehmen, und ich habe dies Ehrenamt auch mit Lust und Eifer bis zum Jahre 1809 bekleidet, wo die neue Städteordnung andre und verbesserte Einrichtungen herbeiführte.

Hier mag es nun auch der Ort sein, meine häuslichen und ehelichen Verhältnisse mit einigen Worten zu berühren, wiewohl diese Lebenserfahrungen gerade diejenigen sind, deren ich mich nicht erinnern darf, ohne sehr schmerzliche Empfindungen in mir zu erwecken; denn als Ehemann und als Vater ist mir erst sehr spät mein besserer Glücksstern erschienen. Zwar war auch der erste Anschein zu beidem günstig genug, als ich im Jahre 1752 mich, wie ich schon früher erzählt habe, in Königsberg zum Heiraten entschloß. Ich war ein flinker, lebenslustiger Bursche von vierundzwanzig oder fünfundzwanzig Jahren, und mein junges Weib mochte eben nur sechzehn zählen, allein alles stand gut und glücklich um uns, und solange wir dort lebten, und ich als Schiffer ab- und anfuhr, gab es die friedsamste Ehe von der Welt. Von drei Kindern, die sie mir gebar, blieb indes nur ein Sohn am Leben; der nämliche, der mich in den letzten vier Jahren meines Seelebens als unzertrennlicher Gefährte begleitete.

Nach sieben Jahren, als mir in Stettin der königliche Schiffsdienst so schnell verleidet worden, brachte meine zufällige Anwesenheit in Kolberg und der Wunsch meiner damals noch lebenden Eltexn mich zu dem Entschlusse, meinen Haushalt von Königsberg, wo mir's eben auch nicht besser hatte glücken wollen, nach meiner Vaterstadt zu verlegen. Während ich noch damit umging, meldete mir ein alter Hausfreund, daß meine Frau, von welcher ich seit beinahe neun Monaten[254] entfernt gelebt, glücklich eines Knäbleins genesen; doch als sie, nach vollendeten Sechswochen, auf meinen Ruf mit Kind und Kegel in Kolberg anlangte, präsentierte sie mir neben jenem älteren Sohne auch ein kleines Mädchen von zwei Monaten als das unsrige. Man mag sich's denken, daß ich mir mächtig die Stirn rieb und ein wenig verdutzt in die Frage ausbrach: »Aber wie hat sich der Junge so auf einmal in ein Mädchen verwandelt?« – Da fiel die Sünderin mir und meinen Eltern weinend zu Füßen und bekannte, was sich nun länger nicht verheimlichen ließ: daß der Hausfreund mir noch etwas mehr gewesen, daß er, um mich Entfernten zu täuschen, mir meines Weibes Niederkunft um einige Wochen früher, als sie wirklich erfolgt war, gemeldet und es nur in der Angabe des Geschlechts so arg versehen habe. Die büßende Magdalene bat indes mit erhobenen Händen so flehentlich um Vergebung, daß ich sowohl wie meine Eltern dadurch bewegt wurden und das Geschehene in Vergessenheit zu stellen versprachen. In der Tat mochte hier Schweigen und Verzeihen auch wohl das Beste sein, was sich tun ließ, wenn ich gleich die unglückliche Frucht dieses Fehltritts dadurch gesetzlich für mein Kind erklärte.

Nun versuchte ich mich, wie man weiß, wiederum fünf Jahre in fremden Weltteilen, während welcher Zeit Frau und Kinder von meinen Eltern ernährt wurden. Doch als ich nach Holland heimgekehrt war, belehrten mich Briefe von guten Freunden, daß die Ungetreue neuerdings auf Abwege geraten, die nicht ohne lebendigen, doch bald darauf wieder verstorbenen Zeugen geblieben, und nun erforderte denn allerdings mein guter Name die Scheidung, welche auch unverzüglich durch die Gerichte vollzogen wurde. Ich behielt meinen Sohn; sie aber kehrte mit ihrer Tochter nach Königsberg zurück, von wo an ich unter meinen nachmaligen Irr- und Kreuzfahrten sie und ihr Schicksal gänzlich aus den Augen verlor.

Erst im Jahre 1787, nachdem ich bereits wieder in Kolberg zur Ruhe gekommen, erfuhr ich, daß die Unglückliche dort im Elend gestorben, und ihre von aller Welt verlassene Tochter mich flehentlich bitte, mich ihrer zu erbarmen. »Was kann auch das arme Geschöpf für die Sünden seiner Mutter?« dachte ich bei mir selbst, und so machte ich auch flugs Anstalt, ließ das Mädchen dort kleiden und sorgte für Reisegeld, um sie nach Kolberg kommen zu lassen und in mein Haus aufzunehmen. Leider aber mußte ich bald bemerken, daß Blut und Gemüt der Dirne (wie es bei der verwahrlosten Erziehung auch wohl nicht hatte ausbleiben können) sich ganz nach mütterlicher Weise hinneigten. Allein die schärfere Zucht, zu der ich dadurch genötigt wurde, behagte ihr nicht, sie entzog sich heimlich meiner Aufsicht, schweifte in der Irre umher, führte ein unsittliches Leben und bereitete mir viele Jahre hindurch ein reiches Maß von Verdruß und Sorge.[255]

Allein auch der bessere Sohn, der mein einziger Trost war, sollte mir zuletzt nur Herzeleid und Tränen bereiten. Er hatte sich für den Handelsstand bestimmt und im Jahre 1793 seine Lehrlingszeit in dem Kontor des Herrn Kaufmann Pagenkopf zu Stralsund glücklich überstanden und war zu mir heimgekehrt, als eine Krankheit ihn überfiel, die sein junges Leben dahinraffte. Meines Lebens Luft und Freude ging mit ihm zu Grabe!

Ich stand nun einsam und verlassen in der Welt und wußte nicht, für wen ich mir's in derselben noch sauer werden lassen sollte. Zwar hatte meine Nahrung leidlichen Fortgang; aber doch betrog mich mein Gesinde, wo es wußte und konnte. Ich sah, es fehlte am rechten, festen Kern im innern Haushalt, und das führte mich endlich auf den Gedanken, es noch einmal im Ehestande zu versuchen. So warf ich denn im Jahre 1799 meine Augen auf eine Schifferswitwe in Stettin, die ich von früherer Zeit her als eine ordentliche und rechtliche Frau zu kennen glaubte. Die Verbindung kam auch zustande, aber nun erst gingen mir, wiewohl zu spät, die Augen auf. Die fromme Witwe war, ohne daß ich es wußte, umgeschlagen, hatte gern ihr Räuschchen und hielt es eifrig mit mancherlei andern Dingen, die den Ehefrieden notwendig stören mußten. An ein Zusammenhalten des ehrlich Erworbenen war nun länger nicht zu denken; vielmehr sah ich den unvermeidlichen nahen Untergang meines kleinen Wohlstands vor Augen. Es war ein saurer Schritt – aber was blieb mir anders übrig, als eine abermalige Scheidung?

Alle diese widrigen Erfahrungen eröffneten mir aufs neue nichts als trübe Aussichten in die Zukunft. Kaum gehörte ich noch irgendeinem Menschen an. Ich war nachgerade ein alter Mann geworden, und fühlte ich gleich mein Herz noch frisch und meinen Geist lebendig, so wollten doch die stumpf gewordenen Knochen nicht mehr gut tun. Ich gewann, wenn ich es so nennen darf, einen Überdruß am Leben; meine eigenen Geschäfte wurden mir gleichgültig und noch gleichgültiger der Gedanke an Erwerb, so daß ich mich fast einen Verschwender hätte nennen mögen. Die paar Jahre, die mir noch übrig wären, dachte ich mich wohl so hinzustümpern, und wenn nur noch der Sarg ehrlich bezahlt worden, möchte man mich immer auch hinstecken, wo meine Väter schliefen; – für den übrigen kleinen Rest würden dann schon lachende Erben sorgen. Ohnehin war mein Häuschen mein größter und beinahe einziger Reichtum, und dieses hatte ich, um doch noch etwas Gutes für meine Vaterstadt zu stiften, in meinem Testamente dem Seglerhause, dessen Ältester ich seit dem Jahre 1793 geworden war, zum Eigentum vermacht, dergestalt, daß oben die Versammlungen des Kollegiums gehalten werden, unten aber eine bedürftige Kaufmannswitwe lebenslängliche freie Wohnung finden sollte.[256]

Quelle:
Nettelbeck, Joachim: Eine Lebensbeschreibung, von ihm selbst aufgezeichnet. Meersburg, Leipzig 1930, S. 241-257.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Eine Lebensbeschreibung, von ihm selbst aufgezeichnet
Joachim Nettelbeck, Burger Zu Colberg (3); Eine Lebensbeschreibung, Von Ihm Selbst Aufgezeichnet
Bürger zu Kolberg: Eine Lebensbeschreibung, von ihm selbst aufgezeichnet

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