Aufbruch in einer Gesellschaft. Trinkgelder. Bedienung in Wirtslokalen.

[334] Im Allgemeinen ist es Sitte, daß die erste Dame das Zeichen zum Aufbruch in einer Gesellschaft giebt. Die Lösung der oft schwierigen und für Manche hochwichtigen Frage, wer als die erste Dame gelten soll, überläßt man den Gastgebern; der Hausherr führt bekanntlich die erste Dame zu Tisch. Wer einen triftigen Grund hat, eine Gesellschaft zu verlassen, soll natürlich den Mut haben, einer engherzigen Etikettenregel entgegen zu handeln. In unserem gesellschaftlichen Leben sollte mehr natürliche Freiheit herrschen. Jeder müßte nach seinem Belieben aus einer Gesellschaft aufbrechen dürfen; natürlich hat man als Gast nicht länger in einer Gesellschaft zu verbleiben, als man annehmen kann, daß dies den Gastgebern genehm ist. In[334] den vornehmsten Kreisen ist man so praktisch, auf Einladungskarten zu großen Festlichkeiten, wie Bällen, zu vermerken, um wie viel Uhr etwaige Wagen zum Abholen der Gäste bereit stehen sollen. Damit sagen die Gastgeber, wie lange sie ihre Gesellschaft auszudehnen wünschen. Da die Geselligkeit doch für Gäste und Gastgeber keine Last, sondern ein Vergnügen sein soll, so müßte den Gastgebern gestattet sein, auch bei Einladungen zu kleineren Gesellschaften ein fach den voraussichtlichen Schluß der Gesellschaft anzugeben, wenn dies eben den Wünschen in ihrem innersten Busen entspricht. Eine ungefähre Angabe über den Schluß einer Gesellschaft wäre auch für jene Gäste erwünscht, die sich durch ihre Bedienung abholen lassen wollen. Also mein positiver Vorschlag geht dahin, auf die Einladungskarte etwa links unten über das »U.A.w.g.« – bekanntlich: Um Antwort wird gebeten, nicht etwa: Und Austern werden gegessen – über diese Abkürzung den Vermerk zu setzen, z.B. »Schluß der Gesellschaft ungefähr 12 Uhr.« Natürlich gilt dies nur für solche Fälle, wenn die Gastgeber zu einer bestimmten Zeit Ruhe haben wollen; und dies gute Recht sollte eben in einem solchen Fall jeder Gastgeber[335] für sich beanspruchen und den Mut gesellschaftlicher Aufrichtigkeit beweisen, auch auf die Gefahr hin, engherzigen Sklaven der Etikette zu mißfallen, die jede – auch natürlich begründete – Abweichung vom Schema, hier vom Einladungs-Schema, verdammen. Man wäre glücklicher, wenn man aufrichtiger in unserer modernen Gesellschaft wäre. Wenn die Gastgeber selbst den Schluß ihrer Gesellschaft herbeisehnen, glauben Viele ihre Gäste, die sich verabschieden möchten, noch aus Höflichkeitspflicht zurückhalten zu müssen; statt dessen sollten die Wirte auch den wirklichen aufrichtigen Wunsch, ihre Gäste noch bei sich zu behalten, zurücktreten lassen, wenn diese aus irgend einem Grunde den Willen zu erkennen geben, die Gesellschaft zu verlassen. Eine übertriebene sogenannte Liebenswürdigkeit ist oft im höchsten Grade lästig.

Wenig ratsam sind auch allzu überschwängliche Redensarten seitens der Gäste und derartige Dankesäußerungen gegenüber den Gastgebern für das »reizende Fest« beim Verlassen der Gesellschaft. Der vornehme Mensch ist im Allgemeinen maßvoll in seinen Gefühlsäußerungen; er erweckt auch dadurch den Eindruck größerer Aufrichtigkeit.[336]

Wie sich der gesellschaftliche Aufwand im Verhältnis zu früher gesteigert hat, so ist man auch mit dem Trinkgeld für die Bedienung im gastlichen Hause üppiger geworden. Das Wachstum des Trinkgeldes haben die glücklichen Empfänger nicht etwa einem anerkannten größeren Trinkbedürfnis, sondern wohl vor allem der Einführung unseres jetzigen Geldes zu verdanken. Früher waren zwei gute Groschen, die den Wert von fünfundzwanzig Reichspfennigen hatten, das übliche Geldstück für Trinkgelder. Da unsere jetzige Münze kein Geldstück dieses Wertes besitzt und da man im Geben und Nehmen von Trinkgeldern nicht bescheidener werden wollte, so hat sich als jetziges normales Trinkgeld in vornehmen Gesellschaften das nächst höhere, allerdings gleich doppelwertige Geldstück, das Fünfzigpfennig-Stück, ergeben. Wer besonders freigebig sein will, der giebt eine Mark Trinkgeld; und zwar giebt man seinen Trinkgeldsatz pro Person, also der glückliche Gatte, der seine Frau nicht daheim gelassen, zahlt das Doppelte. Auch dienstbaren Geistern gegenüber befolgt man Etikettenregeln. Man giebt im Allgemeinen keine krumme Summe oder mehrere Geldstücke als Trinkgeld. Der Junggeselle, dem fünfzig Pfennig[337] zu wenig und eine Mark zu viel als Trinkgeld dünkt, muß eine Witwe mit einer ausgewachsenen Tochter heiraten, um auf diese Weise für im Ganzen drei Personen zusammen zwei Mark Trinkgeld in Gesellschaft geben zu können. Besondere Dienstleistungen, wie Reinigen des Schuhwerks, wird man natürlich besonders vergüten müssen. Man achte darauf, daß man das Trinkgeld der Privatbedienung des betreffenden gastlichen Hauses, nicht einem Lohndiener, verabfolgt.

Die letzte Dienstleistung, die eine gutgeschulte Bedienung den Gästen ihrer Herrschaft erweist, ist die gewandte Hilfe beim Ankleiden der Gäste vor dem Verlassen des Hauses. Der Mantel oder Paletot wird hierbei nicht am Kragen angefaßt, sondern mit beiden Händen etwa an den Umlege-Klappen dicht unter dem Kragen. Diese Vorschrift ist nicht nur wichtig für die Dienstboten, sondern auch für höfliche Herren, welche diesen Dienst einer Dame oder auch einem älteren Herrn erweisen wollen. Eine aufmerksame gewandte Bedienung, die einem Herrn beim Anlegen des Ueberziehers hilft, wird auch den etwa hierbei hochgerutschten Rock unter dem Ueberzieher wieder herunter und glatt zu ziehen suchen.[338]

Den dienstbaren Geistern in einem öffentlichen Lokal, also Kellnern oder Kellnerinnen, sollte durch ihre Wirte dringend eingeschärft werden, daß sie die Kleidungsstücke der Gäste, wie Mantel und Hut, nur mit sauberen, zum mindesten trockenen Händen anfassen, wenn sie den Gästen in einem öffentlichen Lokal beim Ausziehen oder Anziehen des Ueberziehers usw. behilflich sind. Ich habe es oft erlebt, daß ein Kellner ein überlaufendes Bierglas schnell hinstellte und mit nassen Bierfingern dienstbeflissen nach meinem Ueberzieher oder Hut griff in der guten Absicht, mir behilflich zu sein. Der Wille war gut; aber da gleichwohl Mantel und Hut von Bierflecken nicht besser werden, möchte ich die Herren Gastwirte oder deren Geschäftsführer auf diese häufige Unachtsamkeit ihrer Unterorgane aufmerksam machen im Interesse der Wirte selbst, von denen der vornehme Gast eine sorgfältige Erziehung und Schulung der Bedienung in einer Restauration beansprucht.

Mängel in der Kellner-Erziehung wird man natürlich selten in unseren vornehmsten Hotels und Restaurationen wahrnehmen, als vielmehr in einfacheren Lokalen, auch in besonders[339] frequentirten Wirtschaften, wie in großstädtischen Bierhäusern. Was ich früher über das Serviren der Bedienung in Privathäusern bei Gesellschaften erwähnt, gilt natürlich auch für die Bedienung in öffentlichen Lokalen. Der gewandte Kellner – namentlich in frequentirten Lokalen, wo viel Gäste schnell zu bedienen sind – muß rührig sein, die Augen offen halten, muß schnell, aber möglichst geräuschlos hantiren. Beobachtet der Kellner, daß einem Gast z.B. die Gabel herabgefallen ist, so wird er sofort eine neue Gabel holen, diese dem Gast auf einem reinen Teller präsentiren und dann die herabgefallene Gabel auf demselben Teller zurücktragen. Auch die sogenannten Aushilfskellner, die des Sonntags in großen Wirtschaften zugezogen werden, sollten über die notwendigsten Verhaltungsmaßregeln kurz belehrt werden. Ich beobachtete gelegentlich eines sonntäglichen Ausflugs mit gelindem Schauer, wie ein solcher Kellner mit derselben Serviette, mit der er jeden Teller einer letzten flüchtigen Reinigung unterzog, auch die feuchten Perlen der eigenen Stirn trocknete. Auch vom Aushilfskellner sollte der Wirt den Besitz und Gebrauch eines Taschentuches zu derartigem Zweck fordern. Daß der Kellner die Stuhllehne[340] des Gastes weder mit trockenen und noch viel weniger mit unsauberen oder feuchten Händen anfassen darf, erwähnte ich schon in einer meiner letzten Plaudereien. Der Kellner achte darauf, daß die Schüsseln und Teller, die er dem Gast vorsetzt, und das Besteck sowie die Serviette sauber sind. Sehr oft sind Teller und Schüsseln an der unteren Fläche unsauber, und der Gast sitzt dann nach Fortnahme derselben, wenn er fertig gegessen hat, an einem unsauberen Tischtuch. Eine üble Gewohnheit, die manchen Gast nervös machen kann, ist das beständige Rücken vieler Kellner an den auf dem Tisch vor einem Gast stehenden Tellern, Gläsern, Gewürzbehältern usw. Gut erzogene Kellner werden auch die Biergläser außen abwischen, so daß der Gast bei ihrem Anfassen trockene Hände behält. Wohl jedem, der seine Mahlzeiten in der Regel im Wirtshaus einnimmt, ist es schon passirt, daß er sich ein Gericht bestellt, das – wie ihm manchmal erst lange nachher gemeldet wird – nicht mehr vorrätig ist. Es giebt ja noch größeres Unglück, aber namentlich bei Zeitmangel des Gastes oder auch, wenn es gerade das Lieblingsgericht eines Schleckers war – ist die Sache doch höchst betrübend, und wie leicht kann sie[341] vermieden werden, wenn der aufmerksame Kellner – über ein solches wichtiges Ereignis, wie das Ausgehen eines Gerichts, vom Küchenpersonal sofort orientirt – das betreffende Gericht umgehend auf der Speisekarte streicht.

Sehr praktisch wäre in öffentlichen Lokalen die Einführung des militärischen Brauches, daß der Untergebene den Befehl des Vorgesetzten wiederholt. In Restaurationen – auch Sozialdemokraten werden hier dies Subordinationsverhältnis dulden – ist nun einmal der Gast der Vorgesetzte und der Kellner der Untergebene. Namentlich so oft der Gast mehreres, Speisen und Getränke, zugleich bestellt, wäre es durchaus praktisch vom Kellner, die materiellen Wünsche des Gastes immer kurz zu wiederholen, anstatt »Ja« oder das höflichere »Jawohl« zu flüstern und dann trotzdem einen Teil zu vergessen oder in der Küche etwas anderes zu bestellen. Der Gast hat durch kurze Wiederholung seiner Wünsche seitens des Kellners eine größere Garantie dafür, richtig verstanden zu sein, und der Kellner wird naturgemäß durch halblautes Hersagen auch alles besser behalten. Sehr empfehlenswert ist dies militärische Wiederholungsverfahren auch bei Erteilen von Aufträgen an private Dienstboten.[342]

Man sitzt ungern vor abgegessenen Tellern und vor leeren Gläsern, wenn man noch weiter trinken möchte. Der Kellner soll umsichtig sein, seine Gäste im Auge behalten und sofort Schüsseln, Teller und Besteck abräumen, sobald er annehmen muß, der Gast ist fertig mit Essen. Ein Zeichen hierfür ist das Hinlegen der Serviette neben den Teller oder das Legen des Bestecks auf den Teller, und zwar auf den rechten Rand desselben. In zweifelhaften Fällen, um nichts vorzeitig fortzunehmen, wird der Kellner einfach fragen, ob er die Teller abräumen darf. Auch im eigenen Interesse, um Zeit und Weg zu sparen, muß der Kellner, so oft er Speisen und Getränke heranzuholen hat, anstatt hierbei das Lokal bis zur Küche oder bis zum Buffet mit leeren Händen zu durchmessen, aufmerksam Umschau halten, wo er ein leeres Glas oder nicht mehr gebrauchte Schüsseln oder Teller vom Platze eines Gastes fortnehmen kann. Es macht einen zu nachlässigen, gegen das Behagen der Gäste gleichgültigen Eindruck, wenn Kellner mit leeren Händen durch das Lokal schlendern, ohne bei den Gästen, die abgegessen haben, abzuräumen.

Kluge und wohlerzogene Kellner werden[343] im Falle eines Versehens einen gerechtfertigten, in mäßiger Form vom Gaste erteilten Tadel ruhig einstecken. Der Kellner sollte nicht vergessen, daß er, wie erwähnt, gewissermaßen in einem Subordinationsverhältnis zu den Gästen steht und meist – nach den zurzeit bestehenden unerfreulichen und wenig idealen Zuständen – auf die Trinkgelder der Gäste, als seinen alleinigen oder vorwiegenden Gelderwerb angewiesen ist. Ueber die Anstandspflicht der Gäste den Kellnern gegenüber und über das Verhalten des vornehmen Menschen in öffentlichen Lokalen lasse ich mich im nächsten Artikel aus. Nicht nur den Gästen, sondern auch den Kellnern selbst muß bei ruhiger Ueberlegung das von manchem unter ihnen zur Schau getragene hochmütige und unfreundliche Benehmen unpassend und thöricht erscheinen. Amüsant ist es zu beobachten, wie sich mitunter der ängstliche sogenannte Provinziale in der Großstadt von einem Kellner imponiren läßt. Je freundlicher der Provinziale wird, um so mehr schwillt dem Kellner oft der Kamm; hat der Provinziale besonders viel vom inneren Wesen jenes guten Tieres, dem wir in erster Linie die wollenen Strümpfe verdanken, dann sucht er zum Schluß die Gunst des ungnädigen[344] Kellners auch noch durch ein hohes Trinkgeld zu gewinnen. Doch das sind Ausnahmefälle. In der Regel wird der bescheidene Kellner infolge seiner verdienten Würdigung durch die normalen Trinkgeldspender besser fahren. Das Bewußtsein. daß sie der Gäste wegen da sind, wird man wohlerzogenen Kellnern stets anmerken, sie werden weder durch lautes Sprechen miteinander noch auch dadurch den Gästen lästig fallen, daß sie in deren Nähe stehen bleiben und bei deren Unterhaltung ungenirt und neugierig zuhören. Auch unter gesellschaftlich Gleichstehenden wirkt Neugierde besonders lästig und macht einen wenig vornehmen Eindruck. Eine besondere Gewandtheit der Kellner ist es, sobald der Gast sie braucht, sofort zur Stelle zu sein, sonst aber nicht unnötig die Gäste zu umkreisen und nicht durch unnötiges Anfragen oder scharfes Beobachten aus nächster Nähe ihren Uebereifer zu bekunden. Gute Diener und Kellner müssen rührig sein, aber bei aller Schnelligkeit sich auch leise bewegen und leise hantiren können.[345]

Quelle:
Pilati, Eustachius Graf von Thassul zu Daxberg: Etikette-Plaudereien. Berlin 3[1907], S. 334-346.
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