Spargel essen. Etikette-Protzen. Radau-Esser.

[19] Eine Zuschrift aus dem Leserkreise veranlaßt mich hervorzuheben, diese Ausführungen sollen sich nicht einfach darüber äußern, was auf den verschiedenen Gebieten der Etikette für das Vornehmste gilt, und aus welchen Gründen, sondern sie sollen auch gegen eine Ueberschätzung des Wertes äußerer Formen ankämpfen und eine milde Beurteilung des lieben Nächsten gerade hierin befürworten. Was können denn X und Y dafür, wenn sie nicht dieselbe gute Kinderstube genossen haben, wie der »seine« Z, wenn sie unter Verhältnissen oder in einer Umgebung groß geworden sind und bisher gelebt haben, welche ihr Augenmerk wenig oder gar nicht auf den sogenannten guten Ton hinlenkten?! Also, seiner Z, sei milde, auf daß auch[19] Du milde beurteilt werdest von Jemandem, der Dir noch über ist. Kleinere Verstöße der Mitmenschen zu bemängeln und größere Verstöße gegen den guten Ton selbst zu begehen, dies Verfahren kann man oft bemerken. – »Wenn ich Jemanden Spargel mit dem Messer schneiden sehe, das thut mir ordentlich weh, als wenn man mich selbst schnitte!« Diese Aeußerung hörte ich thatsächlich von einem Herrn, der dadurch ein besonders zartes Empfinden in Etikettesachen bekunden wollte. Nur schade, daß der beabsichtigte tiefe Eindruck dadurch sehr beeinträchtigt wurde, daß der Manieren-Kritikus mit vollem Munde – zugleich auch kauend – sprach, und daß er seinen Mund, während des Sprechens, über die ihm gerade präsentirte Spargelschüssel neigte. Da haben wir den alten Salat vom Ersehen der Splitter in des Nächsten Auge und vom Uebersehen der Balken im eigenen Auge. Ueber die Einem präsentirte Schüssel, von welcher dann die anderen Festgenossen nehmen und essen sollen, geneigt zu sprechen – das ist so ziemlich das Unappetitlichste, was sich Jemand leisten kann. Und doch – wie oft sieht man es in Restaurationen, daß sich Jemand Essen nimmt und zu gleicher Zeit mit dem ihm[20] die Schüssel vorhaltenden Kellner spricht! Zum Mindesten kann sein Atem doch leicht das Essen berühren; und wer etwa von Denen, die nachher von derselben Schüssel zulangen, zu heißes Essen durch die Kinderfrauen-Methode des Anblasens kühlen will, der verwendet doch hierzu lieber seine eigene Puste.

Anfrage: »Weshalb soll man denn den Spargel mit den Fingern essen? Wenn man trockene behalten will, ist es doch besser, sich des Messers und der Gabel zu bedienen!« – Stimmt ganz entschieden! Sie waren vielleicht, sehr verehrter Abonnent, gar Derjenige oder – nach Ihrer Handschrift zu urteilen – Diejenige, welche mit dem Messer den Spargel angesichts jenes strengen Kritikus geschnitten und ihm selbst damit Herzbluten verursacht hat! Man darf Spargel direkt mit der Hand zum Munde führen, muß sich eben nötigenfalls dann der Serviette zum Abtrocknen bedienen. Für den wahren Etikette-Menschen kommt weniger in Frage, welches Eßwerkzeug (ob die la main oder was Anderes) er gebraucht, als vielmehr, wie er es gebraucht. Das Hineinmanövriren langer Spargelstangen mit der Hand in den Mund sieht oft sehr unschön aus, besonders[21] wenn es unter hörbarer Lippen- und Zungenthätigkeit mit gierig aufgerissenen Augen vor sich geht; es empfiehlt sich dann wenigstens, mit der anderen Hand die Gabel oder ein Stück Brot zu nehmen und damit die ganz zum Munde geführte Spargelstange zu unterstützen. Ueberhaupt gehört zu jedem Couvert oder Tischgedeck ein Stück Brot, um sich desselben zum Hinaufschieben von Speisen, die man nicht mit dem Messer berühren will, auf die Gabel oder auf den Löffel zu bedienen. Namentlich in letzter Zeit findet man auch in den vornehmsten Kreisen, daß man den Spargel mit der Gabel – und wenn er nicht weich genug ist oder wegen der Fasern eben auch mit dem Messer – teilt und stückweise mit der Gabel zum Munde führt. Ich bitte, blaue bezw. gelbe Postkarten zu sparen, um mir mitzuteilen, daß der Spargel weich und gut geschält sein muß, ich weiß, daß er dies muß, weiß aber auch, daß er es oft nicht ist. Wenn der Gastgeber in glücklichem Besitz von nichtstählernen Messern ist, so wird er dieselben zum Spargel oder überhaupt zum Gemüse serviren mit Rücksicht auf jene Gäste, die das Messer gern gebrauchen, aber den Nachgeschmack des Stahles entweder wirklich scheuen[22] oder doch wenigstens so thun, als wenn sie thun thäten. Und die simulirte Scheu vor dem Messerstahl wird jedenfalls häufiger sein, als die wirklich vorhandene; denn sicher beobachten Viele nur diese oder jene äußere Formen, um damit zu kokettiren und zu imponiren. Man sieht es Manchem und Mancher ordentlich an der Nase an, wie ungemein erhaben er sich dünkt, wenn er diese oder jene Etikettenform beobachtet oder zum Beispiel in der Unterhaltung diesen oder jenen Ausdruck gebraucht, der gerade zurzeit für besonders schick und stilvoll gilt. Solche Selbstgefälligkeit ist ja harmlos, aber wen sie stört, der kann sie leicht dämpfen durch Worte wie: »Das soll meine selige Großtante auch immer gesagt haben, als sie jung war!« Noch mehr ernüchternd wirkt vollständige äußere Wurschtigkeit gegenüber Etikette-Manipulationen, die mit besonderer Emphase und umständlichem Raffinement ins Werk gesetzt werden. Aber zurück zum Spargel! Wer den doch entschieden lobenswerten Willen hat, trockene Finger zu behalten oder lieber kleinere Stücke als halbe oder ganze Spargelstangen – sei es aus ästhetischen, sei es aus Gesundheitsrücksichten – zum Munde führt, der wird eben den Spargel[23] teilen und mit der Gabel zum Munde führen. Also nie sklavisch eine Sache nachahmen, weil es fast Alle so machen, wenn man einen verständigen Grund hat, von dem allgemein Ueblichen abzuweichen. Das Anfassen des Spargels mit den Fingern ist wohl das allgemein Uebliche, aber schon so lange, daß es nicht mehr apart genug ist, um dadurch als Kenner der Formen besonders imponiren zu können.

Viel wichtiger ist es, sein Augenmerk auf andere Dinge beim Essen zu richten als auf die Fragen, ob ich Dies oder Das mit der Gabel, dem Löffel oder der Hand zum Munde führe, oder ob ich es mit dem Messer überhaupt berühren darf. Ich erwähnte bereits die Unsitte, sich, über eine Schüssel geneigt, von derselben herunterzunehmen und währenddessen zu sprechen. Auch soll man nicht mit vollem Munde sprechen und außer aus sonstigen ästhetischen Rücksichten auch aus diesem Grunde nicht zu viel auf einmal in den Mund nehmen, um denselben schnell leer zu bekommen, wenn man bei Tische sprechen will. Dann vor Allem soll man möglichst geräuschlos essen. Das Kratzen mit der Messerschneide auf dem Teller, wie es ein schnelles[24] Schneiden bei unnötig starkem Aufdrücken des Messers auf das Fleisch zur Folge hat, ist ein sehr fragwürdiger Ohrenschmaus, ebenso ein unnötig lautes Berühren der Teller mit Messer, Gabel oder Löffel. In einem besuchten Restaurant, wo die Gäste gegen diese Anstandssitte fehlen, hört man ein beständiges Klirren des Porzellans und Spektakeln, als wenn die sogenannte türkische Scharwache ausgeführt würde; nur daß bei dieser das Klirren und Klopfen nicht allen möglichen Instrumenten nach dem Takte eines lustigen Musikdirigenten ausgeführt wird. Zur Vermeidung solcher Geräusche muß man behutsam und langsam essen. Dies aber gehört nicht nur zum guten Ton, sondern ist auch gesünder, weil man dadurch mehr Zeit zum Kauen der Speisen hat und somit dieselben besser verdauen wird; auch wird man durch langsames Essen vermeiden, die Speisen heiß herunter zu schlingen, was den Zähnen und besonders dem Magen schädlich ist. Ein äußerer Nachteil hastigen Zulangens von den Schüsseln, hastigen Schneidens und Essens ist endlich der, daß man das Tischtuch, auch sich selbst oder gar den friedlichen Nachbar bespritzt und den eigenen oder nachbarlichen[25] Sonntagsnachmittagsausgehrock mit Fettflecken garnirt. Wir Menschenkinder laufen doch nicht Gefahr, wie die wilden Tiere, von einem Stärkeren überfallen und beraubt zu werden, wenn wir unsere Mahlzeiten nicht schnell genug herunterschlingen. Mancher Schlecker wird mir da vielleicht einwenden wollen: »Aber wenn man z.B. mit einem Anderen zusammen von derselben Schüssel Austern zulangt, da ist es doch praktisch, schnell zu manipuliren und schnell zu essen!« Dem sei die Antwort: Praktisch mag es sein, aber vornehmer und dem guten Ton entsprechender ist es auch bei dieser Beschäftigung, beim Austernessen, keine habgierige Unruhe zu bekunden. Man esse eben, um sicher zu gehen, von ein und derselben Schüssel herunter die Austern nur mit Zeitgenossen zusammen, von deren Selbstlosigkeit man felsenfest überzeugt ist.

Fast ebenso unangenehm und dabei noch unschöner sind jene Geräusche, die der unmanierliche Esser ohne alle Apparate mit seinen natürlichen Eßwerkzeugen – als da sind Lippen, Zunge und Zähne – ausführt. Viele achten nicht darauf, nach Aufnahme eines Bissens den Mund zu schließen, damit man die Thätigkeit der Zähne und der Zunge weder sieht noch[26] hört! Ein Schmatz, namentlich von seinem Schatz, soll ja etwas sehr Angenehmes sein; aber das Schmatzen, nämlich das hörbare laute Schmatzen mit dem Munde beim Essen ist für diejenigen Tischgenossen, welche auf gute Manieren Wert legen, entschieden unangenehm. Alles dies sind Kardinalverstöße gegen den guten Ton bei Tisch; und sie werden trotzdem gerade von Vielen begangen, die etwas von Etikette verstehen wollen und das zu bekunden meinen durch abfällige scharfe Urteile über bei Weitem weniger unangenehme Gewohnheiten Anderer. – Man kann das Ohr des Anderen leichter beleidigen als das Auge, denn es ist umständlicher, sich die Ohren zuzuhalten, als wegzusehen; außerdem dämpfe ich durch Ersteres meist nur die Wirkung. – Bei Tische aber kann ich mir die Ohren nicht zuhalten, geräuschvolles Benehmen meiner Tischgenossen beim Essen muß ich von Anfang bis Ende mit anhören. Wenn aber Jemand wahrhaftig so zart besaitet ist, daß er es nicht sehen kann, wenn Jemand die Kartoffel mit dem Messer berührt oder sogar – o Graus! – das Messer zum Munde führt, der kann doch einfach wegsehen![27]

Gerade Diejenigen, welche die Etikette beherrschen, und deren gute Manieren als ganz natürlich und selbstverständlich erscheinen, gerade Diejenigen sind milde in ihrem Urteil über Andere![28]

Quelle:
Pilati, Eustachius Graf von Thassul zu Daxberg: Etikette-Plaudereien. Berlin 3[1907], S. 19-29.
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