Nichts ohne den Notizblock

[102] (Alltägliches Erlebnis.)


»Er: Wohin so eilig, gnädige Frau, darf ich Sie begleiten?

Sie: Aber schnell – nehmen wir einen Taxi, ich muß zur Photographin, Pariser Straße – Gott, die Nummer – wie gut, daß man aufschreibt! (Kramt in fabelhafter Hast in ihrem Henkeltäschchen.)

Er: Unerhört inhaltsreich (blickt belustigt auf): Schlüssel, Puderdosen, Lippenstifte, Portemonnaies, Briefe, Rechnungen, Kämme, Taschentücher, Führerschein und lauter süße Kleinigkeiten mehr –

Sie (unentwegt kramend): Ich bin nämlich wahnsinnig ordentlich, wissen Sie, ich schreibe mir jeden Tag alles genau auf, was ich zu erledigen habe, wer zu mir kommt, wem ich telephonieren oder absagen, wen einladen, wen besuchen muß, selbst die prekärsten Fragen werden in dieses kleine Notizbuch – es muß in der rechten Ecke sein – werden in diesem kleinen Notizbuch[102] – wenn Sie mich ansehen, stören Sie mich, dann finde ich es nie, gucken Sie fort – werden also in diesem kleinen Notizbuch – ach, es ist zum Verzweifeln ... (Wirft alles wieder hinein und alles wieder auf ihren Schoß.)

Er (schüchtern): Möglicherweise in Ihrer Kostümjacke?

Sie (erleichtert): Natürlich. Da ist es sonst immer, aber seit zehn Tagen – Unsinn, erst gestern – warten Sie mal. (Durchstöbert absolut erfolglos, aber intensiv ihre sämtlichen Kleidertaschen.)

Er (begütigend, heruntergefallene Dinge aufsammelnd): Eine Frau wie Sie hat das gar nicht nötig – Sie wissen doch alles auswendig, ich bitte Sie, ich kenne jede Photographin der Stadt, ich fahre Sie sogleich hin –

Sie (erlöst, alles wieder ordnend): Ja, mein Gedächtnis ist fabelhaft. Lassen wir das Notizbuch, dabei fällt mir ein, daß es auch gar nicht die Photographin heute ist, sondern der Zahnarzt, zu dem ich nun zu spät komme – hinterher wollte ich – (Sieht ihn hilfeflehend an.)

Er (galant): Hinterher hatten Sie mir versprochen, mir in die Galerie zu folgen, um den neuen Fiori zu begutachten und bei dieser Gelegenheit in der Frühstücksstube –

Sie (wie am Schnürchen fortfahrend): bei Horcher ein Brötchen Kaviar zu verzehren – wie kann man nur so vergeßlich sein – ohne sein Notizbuch ist man einfach verloren – tägliches Malheur!«[103]

Quelle:
Reznicek, Paula von: Auferstehung der Dame. Stuttgart 7[o.J.], S. 102-104.
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