V. Ein seltsames Liebespaar.

Gleiche Bildung, gleiche Neigungen und Lebens-Ansichten hatten Beide zusammengeführt, und ihrer Verbindung stand nichts im Wege, als das Hinderniß, welches so manche Liebende quält: das Fehlen eines sichern Einkommens, denn Beide waren arm und hatten einander nichts zuzubringen, als ein Herz voll Liebe.

Indeß waren die Aussichten des jungen Mannes, den wir Wilhelm nennen wollen, sehr gut; er hatte dem Könige in einer Reihe von Jahren als Cavalerie-Officier treu gedient und ihm war, bei Auflösung seines Regimentes, eine gute Anstellung im Civil-Dienste von dem eben so gütigen, als gerechten Monarchen versprochen worden, auf welches Versprechen um so mehr zu rechnen war, da der Vater des Rittmeisters einen sehr hohen[183] Posten in der Armee bekleidet hatte und seine Familie zu den vornehmern des Landes gehörte. Allein man mußte Geduld haben, denn wie viele Versprechungen der Art muß ein König nicht geben, und wenn er gerecht ist, wird er sie der Reihe nach halten, d.h. er wird Denen, die sich zuerst gemeldet, die ersten vacant werdenden Stellen verleihen und die Nachgekommenen müssen warten.

Jedoch war für Wilhelm schon Etwas gethan wor den, da man ihn einem bereits alten Beamten adjungirt und ihm die Anwartschaft auf die sehr einträgliche und anpassende Stelle desselben zugesichert hatte. Die Liebenden durften daher mit heitern Blicken in die Zukunft sehen, und Nichts stand einem beglückenden Brautstande hindernd im Wege, da die beiderseitigen Eltern mit ihrer Verbindung einverstanden waren.

So oft es ihm seine Geschäfte nur irgend erlaubten, kam Wilhelm nach Hamburg herüber, von dem ihn nur vier kleine Meilen trennten, um seiner geliebten Mathilde einen längern oder kürzern Besuch, je nachdem es seine Zeit erlaubte, abzustatten, und wie ein geliebter Sohn wurde er allemal von Mathildens ihn sehr schätzenden Eltern aufgenommen.[184]

Doch bemerkte man seit einiger Zeit, daß Mathilde ihre frühere Heiterkeit verlor, ungewöhnlich bewegt und oft träumerisch war, ja sogar in der Einsamkeit ihres Zimmers geweint hatte, wie ihre gerötheten Augen nur allzudeutlich verriethen, und diese Traurigkeit nahm nach Wilhelms eben so häufig als früher eintreffenden Briefen, ja sogar nach seinen Besuchen, merklich zu.

Obgleich die Familie Mathildens sich durch diese auffallende Erscheinung auf das Lebhafteste beunruhigt fühlte, so stieg doch weder ein die Liebenden entehrender Verdacht in ihnen auf, da Wilhelm einern ster Mann und von den rechtlichsten und strengsten Grundsätzen, und Mathilde das Muster eines streng sittlichen Mädchens war, noch wagte man es, die Tochter um die Ursache ihrer immer sichtbarer werdenden Betrübniß zu fragen, da diese, durch eine frühzeitige Trennung vom Eltern-Hause und eine eigenthümliche Richtung des Charakters, sich früh emancipirt hatte, man folglich nicht erwarten durfte, durch Fragen eine Aufklärung zu gewinnen, die zu geben Mathilde sich offenbar nicht aufgelegt fühlte. Nun herrschte zwar in dieser Familie, die aus Vater, Mutter und zwei Töchtern bestand, wovon die eine unsre Mathilde, die andere seit einer Reihe von Jahren[185] bereits verheirathet war, die innigste Zuneigung und in allen andern Dingen das vollste Vertrauen; allein in Liebes- und Herzens-Angelegenheiten pflegen die nächsten Verwandten gerade die Letzten zu sein, denen man sich entdeckt. Es ist ein unbegreifliches und unerklärliches Etwas in dem Herzen von uns Frauen, das sich solchen Mittheilungen an die Eltern, und überhaupt an ältere Personen, über unsere zartesten Angelegenheiten widersetzt; vielleicht ist es ein geheimer Instinct, der uns sagt, daß sie nicht mehr dazu geeignet sind, uns in Dingen zu verstehen, die sie zwar einst auch verstanden, jetzt aber schon längst wieder vergessen oder doch schon gänzlich beseitigt haben. Wir wenden uns in solchen Fällen lieber an junge, noch ganz neue und frische Herzen, bei denen wir sicher sind, daß sie die Pulsschläge des unsrigen verstehen werden, weil ihr eigenes Herz ein getreues Echo unserer eigenen Empfindungen ist.

Indeß theilte Mathilde ihren stillen Gram nicht einmal zwei jugendlichen, innig von ihr geliebten und im Uebrigen ihr volles Vertrauen besitzenden Freundinnen mit, die, wie die Familie selbst, dadurch auf das Lebhafteste beunruhigt waren und vergebens der Quelle desselben nachforschten.[186]

In diesem gespannten, unheimlichen und alle Theilnehmenden bedrückenden Zustande verblieb man Monden lang, und die sichtbar dahin schwindende Gesundheit Mathildens, der fieberhafte und nervöse Zustand, in dem man sie erblickte, flößte die ernstlichsten Besorgnisse ein. Die verheirathete Schwester beschloß endlich, eine Frage an die arme leidende Mathilde zu wagen und sie um ihr Vertrauen zu bitten, indem sie ihr zugleich die strengste Verschwiegenheit gelobte und ihr ihren schwesterlichen Rath und ihre Hülfe, wenn diese erforderlich wäre, anbot.

Mathilde brach in einen Strom von Thränen aus, reichte der Schwester die Hand und sagte:

– »Mir kann Keiner helfen, als Gott, indem er mich dem Leben entreißt, das fortan nur eine Quelle von unnennbaren Leiden und Qualen für mich sein wird; sagen aber kann ich nicht, was mich so bedrückt. Ihr werdet es schon erfahren, aber noch jetzt nicht.«

– »Du bist doch nicht mit Wilhelm entzweit?« fragte die Schwester, die durch diese Antwort im höchsten Grade betroffen war.

– »O nein! nein!« versetzte Mathilde mit Heftigkeit; »ich liebe ihn mehr denn je, und auch er« – Ein neuer Strom von Thränen unterbrach[187] ihre Worte; dann ging sie auf ihr Zimmer, um dort ungestört weinen zu können.

Wenige Tage nach dieser Unterredung traf Wilhelm wieder im Hause ein; sein Gesicht war ungewöhnlich ernst und bleich, und ein sichtbarer Verfall seiner sonst kräftigen Gestalt fiel schmerzlich in die Augen. Die Liebenden begrüßten sich mit der gewohnten Zärtlichkeit und begaben sich dann, um allein zu sein, in den Garten hinab, in dessen Schatten-Gängen man sie lange neben einander wandeln und sich lebhaft unterhalten sah. Beide hatten geweint, als sie am Abende sich wieder bei der Familie einfanden.

Am nächsten Morgen, wo sie etwas ruhiger zu sein schienen, begaben sie sich zur Stadt, um, wie sie sagten, einige Mobilien, Silberzeug u.s.w. einzukaufen; es war schon früher aufgefallen, daß Mathilde den Ankauf solcher Dinge, die zu einem wohl eingerichteten Hausstande gehören, beschafft hatte, wozu ihr das Geld von Wilhelm geschickt worden war, und daß sie jedesmal, nachdem sie diese Geschäfte besorgt hatte, in einen Zustand völliger Hinfälligkeit verfallen war.

Zu Anfang glaubten die Angehörigen, der junge Mann baue sein Nestchen in der sichern Aussicht auf eine nahe genügende Versorgung;[188] auch wußte man, daß der alte Beamte, dem er zur Zeit noch adjungirt war, es nicht lange mehr würde machen können, da er an einer unheilbaren Krankheit litt; als man aber Mathilde mit diesen Ankäufen neckte und auf eine baldige Erfüllung aller ihrer Wünsche hinzudeuten wagte, wurde sie so blaß, daß man über ihr Aussehen erschrak und es nicht wieder wagte, diesen Gegenstand zu berühren.

An dem bezeichneten Tage wurden wieder, und zwar in Gemeinschaft von beiden Liebenden, solche Ankäufe gemacht, und Mathilde kam von diesen Wegen in einem Zustande zurück, der sie zwang, sofort das Bett aufzusuchen.

Die Sache hatte jetzt einen Punkt erreicht, wo es dem Vater Mathildens nicht mehr möglich war, den stummen Zuschauer zu spielen; das Glück, vielleicht sogar das Leben seines Kindes stand auf dem Spiele; und er forderte daher, gleich nachdem Mathilde sich auf ihr Zimmer begeben hatte, mit Ernst und Nachdruck eine Erklärung von Wilhelm über das, was zwischen ihm und Mathilden vorgehe.

Der junge Mann schien einen Augenblick sehr betroffen zu sein, dann faßte er sich schnell wieder, er griff die Hand des Alten und sagte:[189]

– »Beruhigen Sie sich, lieber Vater; es steht Alles zum Besten zwischen Mathilden und mir, und nie haben Liebende sich wohl mehr geliebt, höher geachtet, als wir Beide es thun. Alles, was geschieht, hat die vollste Billigung Ihrer Tochter; sie weiß, daß ich nicht anders handeln kann, als ich thue, und möchte um keinen Preis, daß ich anders handelte. Alles Andere werden Sie von ihr selbst erfahren; gedulden Sie sich nur bis morgen, wo ich wieder abgereis't sein werde, und lassen Sie uns heute unsere Freiheit.«

So wenig Mathildens Vater sich auch mit dieser Antwort beruhigen konnte, so mußte er sich doch vor der Hand damit zufrieden geben. Am Nachmittage stand die Kranke, bleich wie der Tod und in ihren zerstörten Zügen bereits den Ausdruck der Krankheit tragend, der sie gleich nach Wilhelms Abreise erliegen sollte, wieder von ihrem Lager auf, und die beiden Liebenden wandelten, bis tief in die Nacht hinein, wieder Hand in Hand im Garten, wo sie so lange blieben, bis Wilhelm Abschied nahm, um nach G. zurückzukehren, was er während der Nacht zu Schiffe thun wollte. Der Abschied, den er diesmal von der Familie nahm – Mathilde war, nachdem sie sich getrennt hatten, noch im Garten zurückgeblieben[190] – hatte etwas Feierliches und Beklemmendes; er drückte Jedem zu verschiedenen Malen die Hand und seine Stimme bebte hörbar, als er die Abschieds-Worte sprach.

So war er denn nun fort, und die Schwester, welche zufällig draußen war – die Familie wohnte außerhalb der Stadt – begab sich zu Mathilden in den Garten, die in einer Laube saß und ihre Gegenwart durch ein lautes Schluchzen verrieth. Auf die von der Schwester geredeten Trostworte antwortete sie:

– »Alles ist aus! Ich habe Wilhelm heute zuletzt gesehen! Laß mich, ich beschwöre Dich, laß mich allein! Wenn es noch Trost für mich giebt, so muß ich ihn aus der Religion und aus meinem eigenen Innern schöpfen; kein Anderer kann ihn mir geben.«

Die Schwester zögerte dennoch; das, was sie so eben vernommen hatte, und Mathildens Verzweiflung ließen sie das Aeußerste fürchten; diese bemerkte ihr Zögern und errieth die Ursache.

– »Fürchte nichts Unwürdiges, fürchte keine Feigheit von mir,« sagte sie mit fester Stimme; »ich werde das Leben zu ertragen wissen, wenn es Gottes Wille ist, daß ich leben soll; und ich habe Religion, wie Du weißt.«[191]

Die Schwester entfernte sich jetzt; Mathilde blieb noch einen Theil der Nacht im Garten, dann ging sie auf ihr Zimmer und warf sich angekleidet auf's Bett; die übrigen Mitglieder des Hauses waren so beunruhigt durch das, was sich zugetragen hatte, daß Keiner daran dachte, sich der Ruhe hinzugeben.

So früh als möglich begab man sich auf Mathildens Zimmer, die man in einem so beunruhigenden, fieberhaften Zustande antraf, daß man sogleich zum Arzte sandte. Sechs Wochen schwebte die Unglückliche zwischen Leben und Tod; allein das erstere siegte und sie genas, wenn zwar gleich nur langsam und auf immer in ihrer Blüthe geknickt.

Inzwischen waren mehre Briefe von Wilhelm eingelaufen, worunter auch ein von ihm an Mathildens Eltern gerichteter war; er enthielt Folgendes:


»Geliebte Eltern!«


– »Lassen Sie mich Sie noch einmal bei diesem mir so theuer gewordenen Namen nennen, und schenken Sie einem Manne Ihr Mitleid, der, indem er dem Namen Ihres Sohnes für die Folgezeit entsagen muß, gewiß der beklagenswertheste[192] Sterbliche ist, den es nur auf dem Erdenrunde geben kann.«


– »Wie Mathilde mich liebt, wie ich sie liebe, wissen Sie: unsre Vereinigung wäre vielleicht ein zu großes Glück für uns gewesen und hätte uns durch sein Uebermaß vom Höhern abgezogen; so wollte es Gott, vor dem wir uns in Demuth beugen, daß unsre Seelen durch Leiden geläutert und für eine höhere Glückseligkeit, als irdische Freuden uns je bieten können, erhalten blieben. Wir sind auf ewig getrennt, und ich reiche einer Andern, einer Ungeliebten, meine Hand am Altare; Gott wird mir Kraft verleihen, dieses Opfer, das Religion und Pflicht zugleich von mir fordern, bringen zu können.«


– »Mathilde, dieser Engel, den ich auf meinem Lebenswege fand, um mich auf der rechten Bahn zu erhalten, ist mit diesem Schritte vollkommen einverstanden, und hat schon seit Monden ihre Einwilligung dazu gegeben; ja, sie selbst hat in der unübertrefflichen Güte ihres Herzens die Einkäufe zu meiner künftigen Einrichtung besorgt, und bei meinem letzten Dortsein sind die letzten gemeinschaftlich von uns gemacht worden. Sie mögen daraus ersehen, daß ich mich vollkommen[193] ihrer Zustimmung zu erfreuen habe. Alles Andere werden Sie von ihr selbst erfahren.«

– »Schließlich, theure Eltern und geliebte Schwester, beschwöre ich Sie, über Mathildens Leben und, wie bisher, mit treuer Liebe über ihr ferneres Glück zu wachen. Ich weiß, welchem Schmerze ihre schöne Seele in diesem Augenblick erliegt, denn ich kenne ihre Liebe zu mir; so foltern mich die grausamsten Befürchtungen um ihr Leben und ihre Gesundheit, welche letztere, wie Sie bemerkt haben müssen, in der letzten Zeit sehr schwankend war. O beruhigen Sie mich durch einige Zeilen nur über diesen Gegenstand, besonders wenn Mathilde vielleicht außer Stande sein sollte, mir selbst zu schreiben, und dies fürchte ich fast, nach dem schmerzlichen und aufgeregten Zustande, in dem ich sie verließ.«

– »Richten, verdammen Sie mich nicht, bevor Sie nicht Alles wissen; nur von Ihnen würde mich das schmerzen; über das Urtheil der bösen, lieblosen Welt bin ich hinweg, und habe mich überhaupt seit lange schon daran gewöhnt, nur mein Gewissen bei meinen Handlungen zu befragen. Spott und Tadel werden mich zugleich treffen, daß ich in dem Augenblick, wo Gott mir Brot gegeben hat, wo ich das so lange heiß ersehnte[194] Ziel endlich erreicht habe, das mit mir verlobt gewesene liebenswürdige und so heiß von mir geliebte Mädchen verlasse, um einem andern, das arm, krank, geistlos und häßlich, überdies auch älter ist, als ich, meine Hand zu reichen, denn so stehen die Sachen; allein Gott befahl mir dieses durch mein Gewissen, und ich gehorche ihm ohne Murren.«

– »Mathilden kann, selbst ohne meinen Besitz, noch ein schönes Glück erblühen; sie ist geliebt, geehrt, geachtet von Allen und durch Tugenden und Reize gleich sehr geschmückt; sie hat überdies noch zärtliche Eltern und eine treue, liebevolle Schwester, und sie hat mehr als alles Dieses: sie hat ein mit Gottergebung und Religion erfülltes Herz; wie könnte es ihr da wohl an Trost und Beruhigung, wie selbst wohl an Glück und Freude im Leben fehlen, nachdem sich der erste Schmerz über unsre Trennung gelegt haben wird?«

– »Anders steht es jedoch um Die, der ich meine Hand jetzt am Altare reiche: sie ist arm, und ist dies durch mein Verschulden; sie schleppt seit ihrer frühesten Jugend einen siechen Körper mit sich umher und ihr Verstand, ihre Kenntnisse bieten keinen Ersatz für den Mangel an[195] Reizen dar, dem die so lieblos gegen sie gesinnte Natur sie unterworfen hat. Sie besitzt nur mich auf Erden, und nur ich, den sie liebt, kann ihr Ersatz für Alles gewähren, was das Schicksal ihr versagt hat: so fordern Pflicht und Religion von mir, daß ich mich ihr aufopfere, daß ich Die zu beglücken strebe, die noch nie das Glück gekannt hat; daß ich einen Sonnenstrahl der Freude in ein Herz fallen lasse, das noch nie davon berührt wurde.«

– »Wenn ich ein reicheres und schöneres Mädchen heirathete, als Mathilde, würde die verderbte Welt mich gewiß begreifen und mein Thun nicht so hart richten, als sie jetzt thun wird; allein von Ihnen, Theure, hoffe ich nach dem Vorangegangenen völlig gerechtfertigt dazustehen und auch ferner noch auf Ihre Achtung Anspruch machen zu dürfen. Sollte dem aber nicht so sein; sollten meine Erwartungen und Hoffnungen hierin getäuscht werden; so wird die Achtung, die ich mir im Gefühle treu erfüllter Pflicht selbst weihen darf, mich auch hierüber trösten, und Gott mir die Kraft verleihen, auch Ihren Unwillen in Geduld ertragen zu können.«

– »Ich grüße Sie mit dem Gruße der herzinnigsten[196] Achtung und Liebe, und beschwöre Sie nochmals bei Allem, was Ihnen heilig ist, meiner geliebten Mathilde alle Sorgfalt zu weihen, die ihr Zustand vielleicht erheischt. Der Allmächtige wird Sie dafür belohnen und ich Ihnen bis zum letzten Hauche meines Lebens dafür dankbar sein.«


»Ihr

ganz ergebener

Wilhelm von * *.«


Erst nachdem Mathilde völlig genesen und im Stande war, eine Gemüths-Aufregung wieder zu ertragen, theilte man ihr die für sie indeß eingegangenen Briefe, und auch den vorstehenden mit. Man erhielt erst jetzt vollständigen Aufschluß über diese seltsame Gedichte und das Wesen und den Charakter Wilhelms.

Dieser, der von Natur eine starke Anlage zur Melancholie oder der ein so genanntes melancholisches Temperament hatte, neigte sich trotz seines Standes, der ihn davon hätte abhalten dürfen, zu jener Religions-Schwärmerei hin, die bereits zu jener Zeit Wurzel in Deutschland zu fassen begann, und wozu ein großer Ernst des Charakters, ohne Thiefe, so leicht disponirt. Wilhelm las[197] gern religiöse Schriften, fing mit den an sich unschädlichen, wenn gleich seichten »Stunden der Andacht« an, und ging nun weiter. Er hatte eine gleiche Richtung des Geistes und der Gefühle an Mathilden entdeckt, und dieses war das Band gewesen, das die Liebenden so fest vereinigt hatte.

Wenn er seiner Verlobten Geschenke machte, so bestanden sie größtentheils in solchen Andachts-Büchern, worin Beide dann während der Zeit seines Besuchs mit Eifer lasen, und wodurch sie sich sichtbar exaltirten; auch wollte Mathilde in jener Zeit kaum von einer andern Lectüre mehr etwas wissen und gab in allen ihren Reden die ihr von dem Geliebten mitgetheilte religiöse Exaltation kund.

Der Ruf dieser Frömmigkeit war es vielleicht, welcher ein ältliches, von der Natur gänzlich vernachlässigtes und überdies stets kränkliches Mädchen in G. bewog, Wilhelm zu ihrem Curator zu erwählen und ihm ihr kleines Vermögen, von dessen Zinsen sie spärlich lebte, anzuvertrauen. Er nahm die Curatel an und es war natürlich, daß er seine Curandin jetzt öfter sah, als früher, und bald entdeckte er zu seinem Erschrecken, daß diese eine Leidenschaft für ihr nähre, die zu erwiedern nicht in seiner Macht stand.[198]

Um dieser immer heftiger und ihm zugleich lästiger werdenden Neigung zu begegnen, theilte er ihr offen seine Liebe für Mathilden mit; allein die verderbliche Gluth war einmal in dem Herzen dieses unglückseligen Geschöpfs angefacht und brannte trotz dieser Erklärung in demselben fort. Dies würde Wilhelm indeß nicht irre und seinen Pflichten gegen Mathilde untreu gemacht haben, wenn das ganze kleine Vermögen Elisabeths – wir wollen seine Curandin bei diesem Namen fortan nennen – nicht unerwartet verloren gegangen, und sie dadurch für den Rest ihres unglücklichen Lebens nicht dem grausamsten Mangel ausgesetzt worden wäre. Ob dieser Verlust direct durch Wilhelm herbeigeführt worden war; ob er sich bei der Placirung ihrer Capitalien Unvorsichtigkeiten hatte zu Schulden kommen lassen, ist nicht auszumitteln gewesen; kurz diese waren verloren und die Unglückliche sah der traurigsten Zukunft entgegen.

Dies machte den tiefsten Eindruck auf Wilhelm, welcher noch dadurch vermehrt wurde, daß er zu bemerken glaubte, daß die Leidenschaft für ihn in Elisabeth immer tiefere Wurzeln schlage, und sie, in Folge derselben, selbst das grausamste Geschick mit Ergebung aufnahm, da es aus seinen Händen kam. Ein schrecklicher Kampf entspann[199] sich jetzt in seinem Herzen, das zu sehr gequält und bedrückt war, als daß er seine Schmerzen vor der Geliebten hätte verbergen können; dann endlich erklärte er Mathilden, daß er weder Ruhe auf Erden finden, noch auf die ewige Seligkeit mehr hoffen könne, wenn er ein Wesen so elend, so unglücklich machte, wie Elisabeth es sein würde, wenn er Mathilden seine Hand reiche und die Unglückliche ihrem trostlosen Zustande über ließe.

Beide Liebenden hatten sich durch die Schriften, die sie seit lange schon ausschließlich lasen, zu sehr exaltirt, als daß sie noch einen vernünftigen Entschluß hätten fassen können; überdies schroben sie sich gegenseitig immer höher hinauf, so daß es auch Mathilden endlich ein verdienstliches Werk schien, ihrer Liebe, und damit dem Glücke ihres Lebens zu entsagen, um Wilhelmen seine volle Freiheit wieder zu geben.

Dies geschah nach langen und schmerzlichen Kämpfen, und Wilhelm beeilte sich jetzt, Elisabeth nicht nur von Mathildens großmüthigem Entschlusse, ihm entsagen zu wollen, zu benachrichtigen, sondern ihr zugleich auch seine Hand anzubieten, die sie, gewiß eine gemeine Seele, mit Freuden und ohne alles Bedenken annahm.[200]

Trotz dem hörte der Verkehr zwischen den Liebenden noch immer nicht auf und sie schrieben einander nicht nur die exaltirtesten Briefe, sondern Mathilde übernahm es sogar, wie schon angedeutet, die Einkäufe für die künftige Einrichtung ihrer Nebenbuhlerin zu besorgen; denn die Heirath zwischen Wilhelm und Elisabeth konnte und sollte bald vor sich gehen, da der erstere nicht nur das so lange heißersehnte Amt endlich erhalten hatte, sondern auch vor Begierde brannte, Gott zu Liebe, sein großes Opfer zu vollbringen.

Ein letztes Wiedersehen, wenige Tage vor der Vermählung Wilhelms, wurde beschlossen und ausgeführt. Wie es auf Mathilde wirkte, wie sie, von der erkünstelten Exaltation endlich ganz verlassen, nur noch ihren unersetzlichen Verlust vor sich sehend, fast dem Tode erlag, ist vorstehend bereits erzählt worden.

– »Aber,« unterbrach die Schwester, der sie unter vielen Thränen diese ganze traurige Geschichte mittheilte, ihre Erzählung, »wie konnte Euch ein anderer Ausweg, als dieser, der Euch Beide unglücklich gemacht hat, nicht nahe liegen?«

– »Gab es denn einen andern, als den von uns gewählten?« fragte Mathilde überrascht.

– »Nach meiner Ansicht ja,« versetzte die[201] Schwester. »Wenn Wilhelm wirklich Schuld an dem Verluste des kleinen Vermögens seiner Curandin war, so hätte er ihr, als ein redlicher Mann, allerdings diesen Verlust ersetzen müssen, und das war leicht zu thun, indem die Einkünfte der jetzt von ihm bekleideten Stelle groß genug sind, um ihr die Zinsen auszubezahlen, die sie früher von ihrem Capitale gehabt hatte, und selbst dieses Capital hätte durch kleine Ersparnisse nach und nach wieder herbeigeschafft werden können. Dies war eine Pflicht gegen sie, die Euch oblag, alles Andere aber war Ueberspannung, und würde man Eure wahrhafte Geschichte in irgend einem Romane lesen, so würden die Leser über eine schlecht erfundene und ungeschickt ausgeführte Fabel schreien, und zwar mit Recht.«

Mathilde verstummte bei diesen Worten, deren Wahrheit sie getroffen zu haben schien. Es ist unglaublich, aber dennoch wahr, daß die Liebenden so befangen, so exaltirt gewesen waren, an diesen billigen und vernünftigen Ausweg gar nicht zu denken!

– »Aber sie liebte ihn!« wandte Mathilde, die ihr Phantom noch immer nicht fahren lassen wollte, nach einer kleinen, zwischen den beiden Schwestern entstandenen Pause ein; »sie wäre,[202] auch wenn Wilhelm ihr Vermögen auf die von Dir angegebene Weise ersetzt hätte, noch namenlos unglücklich ohne seinen Besitz gewesen; ja, es hätte ihr vielleicht das Leben gekostet, Wilhelm mit mir vereint zu sehen.«

– »Und bist Du denn jetzt glücklich, Mathilde? und hätte es Dir nicht auch fast das Leben gekostet, den Mann Deiner Liebe an eine Andere verlieren zu müssen? Was Elisabeth anbetrifft, so halte ich sie für eine ganz gemeine Seele und als solche einer wahren, tiefen Neigung durchaus nicht fähig; sie hat es aber verstanden, von Eurer Exaltation Nutzen zu ziehen; die Natur, welche ihr Verstand versagte, gewährte ihr dafür das schlechte Surrogat derselben: die List; Ihr seid von ihr überlistet worden, und sie hat sich geschickt die Stimmung zu Nutze zu machen gewußt, in die Ihr Euch durch das Lesen exaltirter Schriften versetzt hattet.«

Die Schwester schwieg hier, und fürchtete fast schon zu viel gesagt zu haben, denn für jetzt that die Exaltation für Mathilden noch Noth: ohne sie mußte sie gänzlich zusammensinken.

Eine Reise, die in günstiger Jahreszeit und unter dem Schutze einer geistreichen Frau von ihr gemacht wurde, befestigte ihre noch immer leidende[203] Gesundheit einigermaßen wieder; zur Freudigkeit des Lebens ist jedoch Mathilde nicht wieder aufgeblüht; auch ist sie noch jetzt unvermählt.

Ueber Wilhelm hat man wenig mehr in Erfahrung gebracht, als daß er eine anscheinend friedliche Ehe führt und sich der Religions-Schwärmerei gänzlich in die Arme geworfen hat. Er zeigt sich, außer in seinen Amts-Geschäften, die er mit Treue und Umsicht verwaltet, gar nicht im Publicum, und füllt seine Zeit mit dem Lesen religiöser Schriften, vielleicht gar der unseligen Tractätchen, womit die Mystiker auch Nord-Deutschland überschwemmt haben, aus.

Seine Beziehungen zu Mathilden haben jetzt gänzlich aufgehört, und so mußte es, zu Beider Heil, auch sein.

Ich könnte es mir als ganz hübsch und erfreulich denken, wenn diese beiden Liebenden, nachdem sie so lange irre gegangen, sich am Abende des Lebens noch wieder begegneten, und ein schönes Abendroth der Liebe und des Glücks in ihr jetzt verdüstertes Dasein hineinleuchtete.[204]

Quelle:
Schoppe, Amalia: Erinnerungen aus meinem Leben, in kleinen Bildern. Altona 1838, S. 181-205.
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