VII. Die Unbekannte im grünen Häuschen.

Das Nachstehende enthält eine Erinnerung aus meiner frühesten Jugend, die, wie ich glaube, belebend und meine Phantasie auf eine angenehme Art befruchtend, durch mein ganzes Leben gegangen und dadurch bedeutend für mich geworden ist.

Nie hat wohl zwischen einem Vater und seinem Kinde, so groß auch Eltern- und Kindes-Liebe sein mag, eine größere, innigere Liebe, ja, ich möchte sagen, Sympathie, existirt, als zwischen dem meinigen und mir, auch war unsere innere und äußere Aehnlichkeit sehr groß. Dieselben Neigungen, dieselbe Gemüthsstimmung, derselbe rege Trieb, uns zu unterrichten; dieselbe, fast schwärmerische Liebe für die Natur, zeichneten uns aus, und so kannte ich keine größere Glückseligkeit,[225] als stets in der Nähe dieses geliebten Vaters zu sein, von dem ich nie, obgleich er sehr ernst war, ein hartes Wort erhalten zu haben erinnere, und der allen meinen kleinen Wünschen auf die liebevollste Weise entgegenkam.

Ich saß still neben ihm, wenn er las oder schrieb; sah ihm zu, wenn er malte, lauschte mit unbeschreiblichem Entzücken seinem Gesange am Clavier oder an der Harfe zu, die er beide meisterhaft spielte, und begleitete ihn sogar, wenn er seine Kranken besuchte, denn selbst dann, besonders wenn er zu Wagen weite Touren zu machen hatte, mochte er sich nicht von mir trennen.

Mein Schmerz grenzte daher an Verzweiflung, und flößte meiner Mutter so fast Furcht für mein Leben ein, als mir dieser geliebte Vater durch den Tod, ach, allzufrüh! entrissen wurde. Mit meinem Namen auf den erbleichenden Lippen, mit den Worten: »Werde gut!« war er gestorben; meine Hand hielt er fest in der seinigen gepreßt, als diese, vom unerbittlichen Tode berührt, erstarrte; sein brechendes Auge war auf mich gerichtet und seine noch freie Hand suchte mein Haupt, um sie zum letzten Male segnend darauf zu legen.

Ich weiß es in der That nicht, wie dieser Tod[226] des über Alles Geliebten meine schwache Organisation nicht auch zerstörte, wie ich in einer Welt fortbestehen konnte, in der Er nicht mehr war, in der Seine sanfte Stimme nicht mehr meinen Namen rief, in der Sein Auge nicht mehr auf mich blicken sollte. Auch erinnere ich noch deutlich, daß ich, die bereits zu beten verstand, Gott inbrünstig auf meinen Knieen bat, mir auch den Tod zu geben, damit ich auf immer wieder mit dem Vater vereint würde.


Dieses Gebet wurde nicht erhört; die schwarzen Männer, auf die man in der Jugend mit solchem Entsetzen blickt, vielleicht weil wir in der frühesten Kindheit von unsern Ammen und Wärterinnen mit ihrem Kommen bei unsern kleinen Unarten bedroht werden, kamen und trugen den schon vorher vom Tischler zugemachten Sarg aus dem Hause, und ich folgte ihnen in einiger Entfernung zum stillen, reizend auf einem Hügel belegenen Friedhofe nach. Der Entschluß lag dunkel in meiner Seele, mit in das offene Grab hinabzuspringen und mich mit dem Vater zugleich begraben zu lassen; weshalb ich ihn nicht ausführte, weiß ich nicht, denn auf dem Wege zum Kirchhofe war ich fest davon überzeugt worden,[227] daß ich ohne meinen Vater nicht fortleben könne und auch sterben müsse.

Es war ein heller, goldener Sommertag, an dem die mir so verhaßten »schwarzen Männer« den Sarg aus dem Hause und an der schattigen Allee von Roß-Kastanien hin, zum Kirchhofe trugen. In jedem Baume sang ein Vogel zwischen Blüthen, um jede Blume summten Käfer und Bienen, gaukelten Schmetterlinge und zierliche Libellen; o, es war einer jener schönen Tage, wie ich sie sonst an der Seite des geliebten Vaters so selig genossen hatte, wenn er, in Flur und Wald mit mir umherstreifend, nicht müde wurde, meine kindischen Fragen zu beantworten und weit davon entfernt, unwillig darüber zu werden, daß ich Alles wissen wollte, sich vielmehr über meine Wißbegierde freute. Es war eben ein solcher Tag, an dem man ihn zu Grabe trug, als die gewesen waren, an denen wir in den Garten hinausgingen, und mein Vater, vorsichtig und mit leisem Finger die stachlichten Zweige der Dornen-Hecke auseinander biegend, mir ein Nest mit jungen Vögeln zeigte, das er kurz zuvor entdeckt hatte, und vor dem ich vor Freude zitternd und vor Furcht, die armen kleinen Vögel zu erschrecken, kaum athmend stand![228]

Der Zug war endlich unter feierlichem Schweigen oben auf dem Hügel angekommen, auf dem der Friedhof lag; das Grab, das mein Theuerstes verschlingen sollte, stand weit offen; ein Gebet wurde gesprochen, dann befestigte man die Seile an dem Sarge, ließ diesen in die Tiefe hinab, und warf die erste Schaufel Erde auf den Sarg, der dumpf und hohl erklang und aus dem mir die Stimme des Vaters zuletzt entgegen zu tönen schien. Ich hörte, ich sah das Alles, und das mit trockenem Auge, denn ich war völlig erstarrt, und meine Thränen begannen erst zu fließen, als einige Umstehende von den Tugenden und der Geschicklichkeit meines Vaters zu reden begannen, denn er stand nicht nur als Arzt in dem besten Rufe, sondern besaß auch als Mensch die Achtung und Liebe Aller.

Mein lautes Schluchzen machte die den jetzt vollendeten Grabhügel Umstehenden erst auf meine Gegenwart aufmerksam, und die Worte: »Das arme Kind! wie früh hat es doch seinen guten Vater verlieren müssen!« drangen wie Dolchstiche in mein Herz, das jeden Augenblick zu brechen drohte. Man führte mich fast mit Gewalt von dem unglückseligen Orte fort und meiner trostlosen Mutter zu, die, selbst in Schmerz versunken,[229] meine Abwesenheit nicht bemerkt hatte und sehr erschrocken über den Zustand war, in dem man mich ihr wieder brachte.


Indeß vermochte ich nicht im Hause zu bleiben; es zog mich wieder fort zu dem Grabe, wo es mir wohler war, als sonst wo, und diese Besuche setzte ich auch in den folgenden Tagen und Wochen fort.


Um zu dem Friedhofe zu gelangen, auf dem mein Vater den ewigen Schlaf schlief, mußte man durch einen engen, auf beiden Seiten von breiten Dornen-Hecken eingefaßten Hohlweg gehen, an dessen äußerstem Ende, dicht am Fuße des Hügels, ein kleines grünes Häuschen lag, dessen Fenster durch gleichfalls grüne Jalousien dicht verkleidet waren, so daß man nicht in's Innere des Hauses blicken konnte, nicht einmal auf den Flur, dessen Fenster gleichfalls so verkleidet waren.

So oft ich nun auch an diesem Häuschen vorbeigegangen war, so hatte ich doch nie die Thür desselben sich öffnen gesehen, nie den Ton einer menschlichen Stimme, nie ein Geräusch darin vernommen, das auf irgend eine menschliche Beschäftigung hätte hindeuten können; nur einmal vernahm ich die seine gellende Stimme eines[230] kleinen Hundes darin, der mich, als ich vorüberging, hinter der verschlossenen Thür ankläffte.

Ich hatte eine geheime Scheu vor dem Hause, so freundlich auch sein Aeußeres, und so sehr mir auch die lebhafte grüne Farbe gefiel, womit es angestrichen war, und so eilte ich immer mit schnellern Schritten daran vorüber, wenn ich durch den Hohlweg ging, um zu dem Friedhofe zu gelangen, worauf mein Vater ruhte. Nicht nur die Todtenstille in dem Hause, sondern auch die Erzählungen, die ich von Andern über die Bewohner desselben gehört hatte, ängstigten mich; man sagte nämlich, es werde von einer »tollen (wahnsinnigen) Person« und einer alten Aufwärterin bewohnt, die häßlich wie eine Hexe wäre, und der man es nicht vergeben konnte, daß sie alle neugierigen Fragen über ihre Gebieterin unbeantwortet ließ, ja, wenn man mit Unverschämtheit in sie drang, sogar grob wurde und die Zudringlichen tüchtig abwies. Gegen Abend nämlich kam diese alte Dienerin jedesmal in das Städtchen, um alle für den folgenden Tag nöthigen Einkäufe zu besorgen, die sie dann in einem großen Korbe nach Hause schleppte. Ihre Gebieterin hatte aber nie Jemand in dem Städtchen gesehen, und so erklärten Einige sie fürmen schenscheu, Andere[231] gar für toll oder verrückt, und es waren eine Menge Fabeln über sie im Umlaufe, wie es unter den obwaltenden Umständen nicht anders sein konnte: das Geheimnißvolle ist ja die Mutter der Fabel.

Briefe und Zuschriften bekam die Fremde in dem grünen Häuschen gar nicht, und so wußte man ihren Namen nicht einmal; nur von Zeit zu Zeit begab sich die Alte, wie man erzählte, auf mehre Tage auf die Reise, wo sie dann vermuthlich Briefschaften und Gelder an einem andern Orte für ihre Gebieterin in Empfang nahm; auch hatte die Alte das Häuschen am Fuße des Hügels gemiethet, es einrichten und vermalen lassen und den Miethzins auf ein Jahr vorausbezahlt, worauf sie wieder fortging und wahrscheinlich bei Nacht, oder doch spät am Abende, mit ihrer Gebieterin zurückkehrte, die von ihr, wenn sie ja von derselben sprach: »das Fräulein« genannt wurde.

Als ich, früh an einem Morgen, bald nach dem Tode meines Vaters, wieder an dem geheimnißvollen grünen Häuschen vorüberging, öffnete sich, zu meinem nicht geringen Erschrecken, plötzlich die Thür desselben und eine hohe weibliche Gestalt, ganz in Weiß gekleidet, zeigte sich mir. Das[232] Gesicht dieser Person war farblos, wie ihr Kleid, das Haar sehr dunkel und glatt gescheitelt, die Augen aber von einem sehr lebhaften Blau und dabei mild und freundlich.

– »Armes Kind,« sagte die Fremde mit sanftem, mitleidigem Tone, »bist du noch immer so traurig? Wen haben sie Dir denn begraben?«

– »Meinen Vater, meinen lieben Vater!« schluchzte ich, in einen Strom von Thränen ausbrechend. »O, er war so gut gegen mich, und nun kann ich ihn nicht mehr sehen, nicht mehr sprechen!« Thränen verhinderten mich daran, fortzufahren, und ich setzte mich auf der Schwelle des Hauses nieder, um ihnen freien Lauf zu lassen; denn meine Scheu vor der Fremden und dem geheimnißvollen Häuschen war verschwunden, seit ich die erstere gesehen und den Ton ihrer milden, zum Herzen sprechenden Stimme vernommen hatte.

– »Ich dachte mir es wohl,« sagte sie, mich voll Mitleid anblickend, »daß man Dir eine sehr theure Person begraben habe, als ich Dich so alle Tage in Deiner schwarzen Trauerkleidung zum Kirchhofe gehen und dort auf einem Grabe sitzen sah. Komm herein, armes Kind, ich will Dir Blumen für das Grab Deines guten Vaters geben; in meinem Garten blühen viele Blumen.«[233]

Es war nicht Neugierde, die mich trieb, dieser Einladung Folge zu leisten, sondern bereits herzliches Wohlwollen, das ich für eine Person fühlte, die mir so viele Theilnahme zeigte und überdies ein so liebes Gesicht hatte, in das man eben so gern blickte, wie in den milden Mondenschein. Ich erhob mich also auf diese freundliche Aufforderung, trat in das Häuschen, aus dem mir ein starker Rosen- und Reseda-Duft entgegen kam, und folgte meiner neuen Bekannten in den Garten, der von allen Seiten von dicken und hohen Dornen-Hecken eingeschlossen war und sich den Hügel hinanzog, auf dem der Kirchhof lag.

Er enthielt nur Blumen und Sträucher, und eine solche Menge von rothen und weißen Rosen, die eben in der schönsten Blüthe standen, daß ich wie bezaubert davon war. Meine Führerin aber bückte sich bald bei diesem, bald bei jenem Strauche und pflückte mir ein Rosen-Bouquet, wie ich es nie schöner gesehen habe.

– »Da, armes Kind,« sagte sie, mir mit ihrer sanften, schneeweißen Hand das Haupt streichelnd, »da hast Du Rosen; streue die auf das Grab Deines guten Vaters, und wenn Du morgen wieder kommen und mehr haben willst, so klopfe nur an die Hausthür, und sie soll Dir geöffnet[234] werden. Aber sprich nicht davon, daß Du mich besucht hast, denn es möchten dann auch Andere kommen und Einlaß bei mir begehren, ich aber will mit ihnen nichts zu thun haben. Dich habe ich lieb gewonnen, weil ich Dich, so jung noch, schon so traurig sah, und so treu am Grabe Deines Vaters.«

Sie nahm mich bei diesen Worten bei der Hand, führte mich in das Haus und öffnete mir dort die Hausthür, die sich gleich wieder hinter mir verschloß, nachdem sie mir beim Scheiden noch einen liebevollen Blick zugeworfen hatte.

Ich war, trotz meiner großen Jugend, doch schon wie bezaubert von dieser Begegnung und meine Thränen flossen an diesem Tage minder schmerzlich am Grabe meines Vaters, auf das ich alle die mir geschenkten Rosen streute. Meine neue Bekannte kam mir ganz wie eine von den wohlthätigen Feen vor, von denen die an Mährchen und Sagen so reiche alte Wärterin mir in meiner Kindheit so viel erzählt hatte, wenn wir in meiner Heimath am gelben Meeresstrande saßen und das Geräusch der Wogen, das hohle Brausen des Meeres diese Erzählungen so grauenhaft schön accompagnirte. Diese Eindrücke, welche ich in der frühesten Kindheit, beim ersten Erwachen[235] meines Geistes und Herzens empfing, sie sind es wohl gewesen, die das geringe Talent in mir erweckten, dessen Ausübung jetzt die Quelle meiner höchsten Freuden und Genüsse ist; sie waren es auch wohl, die Anna's Erscheinen – ich will sie schon jetzt bei dem Namen nennen, den ich ihr späterhin geben durfte – so wohlthätig auf mich einwirken ließen, und mir diese gleich so bedeutungsvoll machten.

Es wird dem Leser kaum glaublich vorkommen, und doch ist dem so, daß ich, wieder zu Hause angelangt, weder meiner Mutter, noch den Geschwistern, noch überhaupt irgend Jemanden, etwas von dem Erlebten sagte, sondern es still für mich behielt, obgleich es mich unausgesetzt beschäftigte, sogar Nachts im Traume. Ich redete überhaupt als Kind, und selbst in spätern Jahren, aus Blödigkeit wenig und war sehr ernst und schweigsam für mein Alter. So fiel es Keinem auf, daß ich auch im Laufe dieses Tages still und träumerisch war, meinen »Kinderfreund« von Weiße, in dem ich so gern las, ergriff, und damit in den Garten hinabging, aber nicht um zu lesen, sondern um an die neue Bekanntschaft zu denken, die zu erneuern ich vor Begierde brannte.[236]

Kaum war ich am folgenden Tage aufgestanden, so ging es schon wieder fort, zum Friedhofe hin; als ich aber mit fast hörbar klopfendem Herzen vor dem grünen Häuschen stand, und schon anpochen wollte, da fiel es mir schwer auf die Seele, daß ein so schnell wiederholter Besuch mir doch wohl als Unverschämtheit und Zudringlichkeit gedeutet werden könne, und mit gesenktem Haupte schritt ich langsam vorüber.

So erging es mir mehre Tage, an denen ich eine große, mir selbst bereitete Qual auszustehen hatte; denn die uns vom Schicksal versagten Wünsche quälen uns lange nicht so stark, als die, welche wir uns aus Rücksichten gegen die Schicklichkeit oder aus ähnlichen Gründen selbst versagen. Wir brauchten nur einen Schritt zu thun, um sie zu erreichen, haben aber nicht den Muth dazu, und eben das ist es, was diese Versagungen wohl für uns zu so tantalischen macht.

Endlich faßte ich den nöthigen Muth und pochte an die Thür des grünen Häuschens, erst leise, dann lauter, und zu meiner namenlosen Freude öffnete sie sich mir; es war aber nicht die Gebieterin des Hauses, sondern die alte Dienerin, welche mich einließ.

– »So, Kindchen, Du bist es?« sagte die[237] Alle mit möglichst freundlichem Tone, indem sie zugleich das schneeweiße Spitzhündchen zu beschwichtigen suchte, das mich anbellte. »Das Fräulein hat schon früher Deinen Besuch erwartet, warum bist Du denn nicht gekommen?« fuhr sie fort, den ungestümen Blässer, zur bessern Beschwichtigung, auf den Arm nehmend; »wir fürchteten schon, daß Du krank geworden wärest.«

Sie schloß jetzt sorgfältig wieder das Haus hinter mir zu und führte mich dann in ein kleines, in den Garten hinausgehendes Zimmer, das nicht mit grünen Jalousien behangen war, sondern in das die Sonne ihre hellen Strahlen warf, und in dem Anna auf einem von Rohr geflochtenen, mit hellblauen Polstern belegten Ruhebette mit einem Buche in der Hand lag.

Nie hat ein Zimmer, nie haben die Prunk-Gemächer der Paläste einen Eindruck auf mich gemacht, wie dieses Gemach. Kein Winkelchen desselben war dunkel – es empfing sein Licht von zwei Seiten – und vor den Fenstern blühten eine Unzahl von Blumen in sehr schönen Töpfen, die vom feinsten Porcellan mit einer köstlichen Malerei waren. Von der Decke, in der Mitte des Zimmers, hing ein Vogel-Käfig herab, aus dem ein goldgelbes Kanarien-Männchen seine[238] schmetternde Stimme erschallen ließ. In einem mit Glasthüren versehenen Wandschranke standen viele Bücher in kostbaren Einbänden, die alle gleich gebunden waren, und ein zweiter Glasschrank enthielt eine Menge von zierlich geordneten Muscheln Seesternen, Korallen u.s.w., die besonders meine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Am Fußboden stand ein Käfig von Messing-Draht geflochten, worin sich ein grün und rother Papagei in seinem Ringe wiegte.

Ich war wie bezaubert und geblendet, und stand lange stumm an der Schwelle, um alle diese Herrlichkeiten zu betrachten und den Duft der Blumen einzuathmen, der mich fast betäubte. Das Mobiliar dieses Zimmers war reicher, glänzender und schöner, als ich es bisher gesehen; besonders gefielen mir die blankgebohnten Stühle mit ihren Polstern von himmelblauem Plüsche, denn solche Pracht war mir noch nicht vorgekommen.

Anna erhob sich von den Polstern ihres Ruhebetts, als sie mich eintreten sah, und mein Verweilen an der Schwelle für Schüchternheit haltend, lud sie mich freundlich ein, näher zu kommen.

– »So bist Du endlich wieder da, um Dir Blumen zu holen?« fragte sie, zu mir tretend und meine Hand ergreifend, die in der ihrigen zitterte.[239]

– »O, nein,« versetzte ich, ermuthigt durch ihr liebevolles Benehmen, »o, nein, nicht um die Blumen bin ich gekommen« – Ich stockte hier, und sie verstand mich.

– »Du scheinst ein gutes Kind zu sein,« sagte sie mit jenem sanften Lächeln, das selbst das häßlichste Gesicht zu verschönen vermag, auf dem ihrigen aber wahrhaft bezaubernd war; »und ich hoffe, daß wir bald gute Freunde sein werden. Komm, setze Dich zu mir, hier auf dieses Bänkchen« – sie schob ein gepolstertes Fußbänkchen an das Ruhebett – »und erzähle mir was, erzähle mir von Deinem guten Vater, den Du so sehr beweinst. Ich werde mich niederlegen, denn ich habe etwas Kopfschmerz, und Dir zuhören; hernach sollst Du auch wieder Blumen haben für das Grab Deines Vaters, den Du nicht vergessen mußt, denn man muß nie Die vergessen, die man geliebt hat.«

Ich folgte ihrer Einladung und faß auf dem Bänkchen neben ihr, und zwar so, daß ich ihr in das liebe, milde Gesicht sehen konnte, das mich auf eine wahrhaft zauberhafte Weise anzog.

Sie schien nicht mehr jung zu sein, wenigstens kam es mir so vor; allein Kinder täuschen sich leicht über das Alter erwachsener Personen[240] und halten sie oft für älter, als sie wirklich sind, und so weiß ich ihr Alter auch nicht einmal ohngefähr anzugeben, vermuthe aber, daß sie hoch in den Dreißigen gewesen sein wird; allein dies that ihrer Schönheit, wenigstens in meinen Augen, keinen Abbruch. Sie hatte eine schneeweiße, fast durchsichtige Haut, durch die nicht die mindeste Röthe, außer an den Lippen, hindurchschimmerte, und so sanfte blaue Augen, wie ich sie nie wieder gesehen; es blickten zugleich bezaubernde Milde und eine rührende Schwermuth aus denselben hervor. Besonders schön – und vornehm, möchte ich sagen – waren auch ihre Hände, die für ihre große Figur überaus klein und von einer blendenden Weiße waren; ich hätte Alles darum gegeben, sie nur Einmal küssen zu dürfen.

Durch ihre Fragen an mich kam bald ein Gespräch zwischen uns zu Stande; ich mußte ihr von meinem Vater, von der Mutter und den Geschwistern erzählen, von allen meinen kleinen Leiden und Freuden, von meiner heimathlichen Insel, an die ich mich so gern erinnerte, kurz, von allen den Dingen, die mir interessant waren, und sie hörte mir mit Aufmerksamkeit zu. Dann brachte die Alte, welche von Zeit zu Zeit in das Zimmer kam, auf ihren Wink ein Körbchen mit Erdbeeren,[241] und ich mußte mich daran erquicken, worauf Anna selbst mir Blumen in ihrem Garten schnitt und mich wieder aus der Hausthür ließ, die sich auch jetzt sogleich hinter mir schloß. Mir war, als ich so draußen und durch das Schloß von Anna jetzt getrennt vor der Thür stand, ganz so zu Sinne, wie es dem ersten Menschen-Paare sein mochte, als der Engel mit dem feurigen Schwerte es aus dem Paradiese vertrieb; doch war ich nicht ganz so trostlos, indem ich Anna hatte versprechen müssen, bald, wenn ich wollte und könnte, schon den folgenden Tag, wieder zu kommen.

Ich blieb nicht aus; es verging bald kein Tag mehr, an dem ich meine neue Freundin nicht besuchte, und die Stunden, die ich bei ihr verbrachte, waren so selige, daß ich noch jetzt mit Entzücken, ja, mit Rührung, daran zurück denke. Ich durfte mit dem Papagei spielen; der kleine Spitz war mein guter Freund geworden; ich durfte den Schrank mit den schönen bunten Muscheln, diesen Blumen des Meeres, aufschließen und mich am Betrachten derselben vergnügen; sie in die Hand zu nehmen und die Ordnung zu zerstören, in der sie aufgestellt, oder vielmehr gelegt waren, hatte Anna mir verboten, und ich übertrat dieses Verbot niemals, da ich um keinen Preis etwas gethan[242] haben würde, was ihr unangenehm gewesen wäre. Sie hatte diese Sammlung, wie sie mir einst erzählte, von ihrem »guten Vater« geerbt, und hielt sie so sehr werth; dies war mir genug, sie auch werth zu halten. Dann durfte ich auch im Garten spielen und nach Schmetterlingen und Libellen haschen, wobei sie mir, in einer Laube sitzend, die im höchsten Theile des Gartens und hart am Kirchhofe lag, mit sichtbarer Freude zusah. Von dieser Laube aus hatte sie mich wahrscheinlich zuerst am Grabe meines Vaters erblickt, denn wenn man die Zweige derselben auseinander bog, konnte man auf das Grab sehen, obgleich der Garten außer durch die Hecke auch noch durch eine hölzerne Umzäunung eingefaßt war.

Anna erinnerte mich oft, und sichtlich vorsätzlich, an meinen Vater, und schien nicht zu wollen, daß ich, nach Weise anderer Kinder, seiner bald vergessen solle; mein Schmerz um seinen Verlust, meine so regelmäßig fortgesetzten Wallfahrten zu seinem Grabe, hatten mich ihr wohl eben interessant gemacht und den Wunsch in ihr erweckt, mich näher kennen zu lernen. So erinnere ich, daß sie einst, als ich die Blumen auf einer Bank hatte liegen lassen, welche sie mir für das Grab des Vaters gepflückt, und im Begriffe stand, ohne sie fortzugehen,[243] im strengen und verweisendem Tone zu mir sagte:

– »Wie, Amalia, Du vergissest die Blumen für das Grab Deines Vaters? Solltest Du ihn selbst auch schon vergessen haben?«

Dieser Vorwurf traf mich wie ein Donnerschlag und stürzte mich in eine solche Betrübniß, daß sie alle, Mühe von der Welt hatte, mich wieder zu trösten und aufzurichten.

Doch nicht immer spielte und ergötzte ich mich blos bei Anna; diese fand bald auch ein Vergnügen darin, mich zu unterrichten. Lesen konnte ich bereits seit meiner allerfrühesten Jugend, wo ich es, ich weiß selbst nicht wie, gelernt; auch mit dem Schreiben hatte ich, trotz meiner sechs Jahre, bei dem Vater schon den Anfang gemacht, und auf diesem Grunde konnte meine Freundin also leicht fortbauen. Es wurden Landcharten von ihr zur Hand genommen und sie zeigte mir erst die Welttheile, die Hauptmeere etc., dann die einzelnen Länder darauf, und mein glückliches Gedächtniß ließ mich das leicht behalten. Dann erzählte sie mir aus der Weltgeschichte, ohne aber systematisch dabei zu verfahren; nie aber hörte ich Mährchen und Fabeln von ihr, wie ich sie früher so gern gehört hatte, wie sie denn überhaupt sehr[244] ernst und fast feierlich in ihrem Wesen war. Nie habe ich sie lächeln gesehen, nie aber auch eine Klage von ihren Lippen vernommen, selbst dann nicht, wenn sie krank war, was sich häufig zutrug; sie stellte in der That das Bild der leidenden Geduld dar und blieb sich immer gleich.

Es konnte nicht fehlen, daß, trotz meiner strengen Verschwiegenheit, meine Besuche bei Anna doch endlich an den Tag kommen mußten. Meine Mutter, die mich »nachgerade für ein großes Mädchen« erklärte – ich war sieben Jahr alt – wollte mein »Herumschwärmen« nicht mehr dulden, ich wurde zur Schule geschickt und bekam überdies einen Strickstrumpf in den Zwischenzeiten in die Hand, auf dem ich eine gewisse Anzahl Runden stricken mußte; wo sollte ich da Zeit zu meinen beiden theuren Besuchen hernehmen, wenn ich mich der guten Mutter nicht entdeckte? Bevor ich dies jedoch that, fragte ich Anna um Erlaubniß und erhielt sie, da auch ihr jetzt meine Gegenwart ein eben so großes Bedürfniß geworden war, wie mir die ihrige.

Man kann sich das Erstaunen, ja, ich möchte fast sagen, den Schrecken meiner Mutter denken, als sie von mir vernahm, daß ich seit längerer Zeit ein täglicher Gast in dem grünen Häuschen[245] und bei dem verrufenen, für verrückt erklärten Fräulein gewesen sei; allein sie beruhigte sich bald wieder, als ich ihr Alles erzählt und ihr Anna's Liebenswürdigkeit und sanftes Wesen mit den lebhaftesten, begeistertsten Farben geschildert hatte, und so erhielt ich Erlaubniß, die unerläßlichen »Runden« bei Anna stricken zu dürfen; ich habe meiner Mutter nie für irgend Etwas so lebhaft gedankt, als für diese mir bewilligte Gunst.

Doch sollte dieses schöne, erfreuliche Verhältniß, das einen hellen Sonnenschein auf mein durch den Tod eines angebeteten Vaters verdüstertes Leben geworfen hatte, nicht länger, als bis zum nächsten Frühjahre dauern. Auf den Rath und die Einladung einer Jugendfreundin, entschloß sich meine Mutter, unsern bisherigen Wohnort mit einem andern zu vertauschen, und ich erfuhr dies erst wenige Tage vor unserer Abreise zu unserm neuen Bestimmungs-Orte. Wie vermöchte ich es wohl, meinen Schmerz über die Trennung zugleich von dem Grabe meines Vaters, und, um wahr zu sein, den noch brennendern über die von Anna zu beschreiben? Ich war wie vernichtet, ich war ganz wieder einem ungestümen Schmerze hingegeben, wie beim Tode meines Vaters, und auch auf Anna wirkte die ihr mitgetheilte Nachricht von unserer[246] bevorstehenden Trennung sichtbar niederschmetternd. Erst wurde sie ganz still und noch bleicher als zuvor; dann brach sie in einen Strom von Thränen aus – ich sah sie zuerst im Leben weinen und dieser Anblick wirkte wahrhaft vernichtend auf mich – und sagte die Worte wie vor sich hin:

– »Der Himmel ist unerbittlich! – Er raubt mir Alles! Alles! – Ich hätte es voraussehen sollen, daß es so kommen würde! Weshalb mußte ich denn noch mein Herz an dieses Kind hängen? – Ich hätte einsam bleiben, allein, ohne Liebe meinen traurigen Weg fortsetzen sollen; der Himmel will es einmal so!« ...

Sie sank bei diesen Worten zusammen; dann erhob sie sich, nahm mich, noch immer weinend, an die Hand, führte mich zur Hausthür, küßte mich – sie hatte dies nie zuvor gethan – öffnete die Thür selbst und ließ mich mit den Worten hinaus:

– »Komm nicht wieder, Amalia!«

Ich kam wieder, aber erst nach zwölf Jahren, und klopfte an das kleine grüne Haus; aber Keiner öffnete mir; ich rief unter Thränen den Namen Anna, Keiner antwortete mir! Wie sonst, waren die grünen Jalousien auch jetzt herabgelassen; aber Anna stand nicht mehr im Zimmer dahinter,[247] und sah mir, von mir nicht gesehen, entgegen. Ich befragte ein altes Mütterchen, das am Stabe den Hügel hinauf wankte, nach der frühern Bewohnerin dieses Hauses, und sie erzählte mir, daß das »verrückte Fräulein« schon vor Jahren gestorben und auf dem Kirchhofe begraben worden sei; die bis dahin treu bei ihr ausharrende Alte sei aber gleich nach ihrem Begräbnisse fortgegangen und man habe nichts weiter von ihr gehört. Das Haus könne von dem Besitzer desselben aus dem Grunde nicht wieder vermiethet werden, weil das »tolle Fräulein« entsetzlich darin spüken solle.

Welche Wonne würde es für mich gewesen sein, dieses Haus, an das sich eine so theure Jugend-Erinnerung für mich knüpfte, nur wieder betreten, ja, nur eine Nacht darin zubringen zu dürfen, um, wenn auch nicht Anna selbst, doch ihren theuren Schatten wenigstens wieder zu sehen, denn ich glaubte zu jener Zeit fest an Geister-Erscheinungen, und hätte mich vor dieser nicht im mindesten gefürchtet. Ich bemühte mich wirklich um den Schlüssel zu dem grünen Häuschen; allein der Besitzer desselben war verreis't und man wußte ihn nicht zu finden.

Dann forschte ich nach Anna's Grabe, als ich[248] dem meines theuren Vaters den ihm gebührenden Tribut der Thränen dargebracht hatte; allein man wußte es mir nicht zu zeigen: kein Kreuz, kein Denkstein schmückte es, und welchen Namen hätte man auf letztern auch setzen sollen, da die Alte, nachdem ihre theure Gebieterin gestorben, weder durch Bitten noch Drohungen zu bewegen gewesen war, den Namen derselben zu nennen. So stand sie in den Begräbnißlisten als Unbekannte verzeichnet.

Keiner gedachte ihrer mehr an dem Orte, wo sie gelebt und, wie ich annehmen darf, gelitten hatte; Keiner redete mit Achtung und Liebe von einem Herzen, das beider gewiß so würdig, und, wie ihr Verhältniß zu mir bewies, der letztern selbst da noch so bedürftig war, als sie schon mit der Welt und dem Leben sich auf ewig entzweit zu haben gewähnt hatte.

Es wähne aber Keiner, mit der Liebe auf immer fertig zu sein: sie ist eine Auferstehungs-Blume, die, nachdem sie schon alle ihre Blüthen und Blätter an die rauhen Herbst-Stürme des Lebens verloren, stets neu wieder aus dem Boden aufkeimt. So war es auch meiner Anna ergangen. Sie hatte noch einmal geliebt, hatte es mit der ganzen Kraft ihres Herzens gethan, nachdem[249] bereits alle ihre Blüthen und Blätter von den Herbst-Stürmen des Lebens in die Lüfte gestreut worden waren.

Doch schenkte sie diese ihre letzte Liebe keiner Undankbaren. Treu habe ich ihr Bild und Andenken in meiner Seele, treu die Liebe für sie in meinem Herzen bewahrt, und setze in dieser kleinen Darstellung eine prunklose Blume auf ihr einsames Grab.

Schon früher, schon damals, als ich zuerst meine Schwingen prüfte, war es mir Bedürfniß, mich über diese so bedeutende Erscheinung, die in mein Jugend-Leben trat, auszusprechen, und ich versuchte, das Bild der Theuren in einem Romane, meinem ersten, zu entwerfen. Er fand, als Jugend-Arbeit und in der Ausführung gänzlich mißlungen, keinen Verleger; doch selbst jetzt noch blicke ich die vergilbte Rolle, worin dieser Roman enthalten ist, nicht ohne eine große innere Bewegung an, da er mir eine längst versunkene Zeit und eine so theure Erscheinung allemal so lebhaft wieder vor die Seele führt.


Ende des ersten Theils.[250]


Quelle:
Schoppe, Amalia: Erinnerungen aus meinem Leben, in kleinen Bildern. Altona 1838.
Lizenz:

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