Die erwachsenen Hausgenossen.

[114] Der Sohn des Hauses sei im Kreise der Seinen derselbe feine junge Mann, der er in großer Gesellschaft zu sein scheint. Es ist eine durchaus irrige Ansicht, daß die gute Lebensart nur für den Umgang mit Fremden erfunden wurde. Wir können nicht höflich genug gegen unsere Hausgenossen sein.

Aus diesem Grunde nehme der Sohn dem Vater jede Bemühung ab und leide nicht, daß dieser aufsteht, wenn er den Gang für ihn thun kann. Kommt es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen, so vergesse er nie, daß jener die Erfahrung auf seiner Seite hat, wenn er ihm auch an Bildung nachstehen sollte, und befleißige sich einer rücksichtsvollen Bescheidenheit. Kurz: er mache es sich zur Regel, sich gegen seinen Vater so zu benehmen, wie er es gegen einen älteren Herrn von Rang und Einfluß thäte, dem er zu gefallen wünscht.

In der Mutter ehre er allezeit nicht nur diese, sondern auch die Dame. Darum verdopple er seine Aufmerksamkeit gegen sie und lasse sich keine Gelegenheit entgehen, ihr gefällig zu sein. Stets sei er darauf bedacht, sie wie eine hochgestellte, liebenswerte alte Dame zu behandeln, an deren guter Meinung ihm alles gelegen ist.

Kein wahrhaft gebildeter Mann wird vergessen, daß er seinen Schwestern dieselbe Rücksicht schuldet, wie anderen jungen Mädchen Er fasse die kleinen Dienste, welche er ihnen leistet, nicht als eine Belästigung auf, sondern als ein schönes Vorrecht und erledige dieselben mit ritterlichem Eifer. Nie dulde er von Fremden eine Kränkung seiner Schwester und schütze sie in jeder ernsten Gefahr kräftiglich.

Gegen seine kleinen Geschwister sei er freundlich und liebevoll. Sie müssen in allen Dingen vertrauensvoll zu ihm aufsehen und dabei doch das süße Gefühl haben, daß er ihresgleichen ist.

Sich selbst und allen Familienmitgliedern ist er es schuldig, stets sauber und sorgfältig gekleidet zu sein, Nägel und Zähne in musterhaftem Zustande zu erhalten und am Familientische nie ohne[114] Bewilligung der Mutter zu rauchen. Im Negligé darf sich ein wohl erzogener junger Mann vor den weiblichen Hausgenossen nie sehen lassen, auch vor dem Stubenmädchen nicht.

Die Haustochter kann nicht sorgsam genug auf sich achten, um im häuslichen Verkehre alle die Tugenden zu entfalten, welche den Hauptreiz des weiblichen Geschlechtes bilden und zugleich dem guten Tone so vollständig Rechnung tragen.

Der Mutter gegenüber entwickle sie eine nie ermüdende Dienstfertigkeit. Besorgungen, Gänge und die vielen kleineren und größeren Arbeiten des Haushaltes nehme sie ihr ab, und, wo dieses nicht angängig, teile sie dieselben wenigstens mit ihr. Nichts paßt schlechter zu guter Lebensart, als eine Tochter, welche glaubt, gröbere Hausarbeiten seien gegen ihre Würde, und darum dieselben ruhig der Mutter überläßt. Daher halte darauf, daß deine Tochter ihrer Mutter das Leben so leicht wie möglich macht.

Dieselbe Verpflichtung hat sie gegen den Vater und die Geschwister, sowie gegen sämtliche Hausgenossen. Sie muß wie ein Frühregen sein: geräuschlos, ohne Ansprüche und voll Segen.

Ordnung, Sauberkeit und zierliche Anmut seien der Hauptschmuck ihres Anzuges. Was von der Kleidung der Hausfrau gesagt wurde, gilt ihr in erhöhtem Maße. Ein glattes Kattun- oder Wollkleid, kleidsame Schürze, ordentliches Schuhwerk, sauber geordnetes Haar und reine Nägel und Zähne werden ihren Anblick zu einem wohlthuenden für jedermann machen. Kopftücher, Hauben, hängende Jacken und Filzpantoffel sollten einem jungen Mädchen fremde Dinge sein. Ungewaschen, ungekämmt oder im Negligé zeige sie sich nicht einmal den weiblichen Hausgenossen, geschweige denn dem Vater oder den Brüdern.

Außer den erwachsenen Söhnen und Töchtern weist der Familienkreis oft noch diesen oder jenen Anverwandten auf. Sei es nun der Großvater, die Großmutter, ein Onkel, eine Tante, Schwiegermutter, Schwägerin oder sonst wer, niemals lassen sich die Unarten rechtfertigen, die in vielen Häusern gegen diese »überzähligen« Familienmitglieder gang und gäbe sind. Dieselben gehen meist nicht aus bösen Herzen, sondern nur aus Übermut oder Unverstand hervor; und müssen vermieden werden in einem Hause, wo gute Lebensart herrscht. Man gebe als Hausherr oder Hausfrau das Beispiel, dieselben achtungs- und rücksichtsvoll zu behandeln. Daß sie stets vor den Kindern, auch den erwachsenen Töchtern und Söhnen, rangieren, ist selbstverständlich. Mit ihren etwaigen Wunderlichkeiten übe man Nachsicht und hüte sich, sie der Lächerlichkeit preiszugeben.[115]

Allen, welche den Schutz eines geordneten Hauswesens genießen, kann hingegen nicht genug anempfohlen werden, den Ihrigen so wenig als möglich lästig zu fallen. Es verträgt sich keineswegs mit dem guten Tone, ein selbstsüchtiges Wesen herauszukehren und andere mit Vorliebe in der Geduld zu prüfen. Die Rücksichten, welche uns dargebracht werden, müssen stets Zinsen tragen. Darum bemühe sich ein jeder, seine guten Seiten herauszukehren und seine Gaben zum besten des Familienkreises zu verwerten, ohne jedoch in unangenehmer Weise damit zu prahlen oder zu drücken. Jeder wache über sich, daß nicht er die Veranlassung zur Störung des Ein klanges sei, dann wird es wohl im Hause stehen. Je mehr Familienmitglieder, desto eher ist Ärgernis möglich, darum ist im großen Kreise doppelte Vorsicht und dreifach seines Wesen geboten. Ost hängt das harmonische Einvernehmen, und damit der gute Ton, weniger von dem ab, was geschieht, als von dem, was unterbleibt: es muß hierin dringend an das Zartgefühl appeliert werden.

Quelle:
Schramm, Hermine: Das richtige Benehmen. Berlin 201919, S. 114-116.
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