14. Kapitel

[132] »Geprüfte Seelen«; Schicksale derselben. Persönliche Erlebnisse, Fortsetzung


Neben den in dem vorigen Kapitel geschilderten Vorgängen vollzogen sich theils um dieselbe Zeit, theils in den folgenden ein bis zwei Jahren noch gewisse andere Veränderungen in den himmlischen Verhältnissen, die an sich von geringerer Bedeutung waren, aber der Vollständigkeit halber wenigstens kurz berührt werden müssen. Es handelt sich dabei hauptsächlich um die Schicksale der »geprüften Seelen«. Diese waren, wie früher erwähnt, in Folge der Seelentheilung eine Zeit lang sehr zahlreich gewesen. Ein großer Theil derselben hatte sich fast mit weiter Nichts als der Betheiligung an den sogen. »Umgehungsbewegungen« beschäftigt, einem von den Hauptgestalten der Flechsig'schen Seele ersonnenen Manöver, dessen Zweck darin bestand, die arglos heranziehenden göttlichen Strahlen von hinten anzufallen, und dadurch zum Ergeben zu zwingen. Das Bild der Erscheinung steht noch deutlich in meiner Erinnerung; auf eine nähere Beschreibung in Worten muß ich verzichten; auch vermag ich nicht mehr mit Sicherheit zu sagen, ob die ganze Erscheinung der Zeit vor oder nach dem »Anbinden an Erden« angehörte.

Jedenfalls war die große Anzahl der »geprüften Seelentheile« schließlich für Gottes Allmacht selbst lästig geworden. Nachdem es mir selbst schon gelungen war, einen ziemlich erheblichen Theil zu mir herunterzuziehen, wurde daher an einem bestimmten Tage auch von Gottes Allmacht eine große Razzia unter ihnen veranstaltet, welche zur Folge hatte, daß von da ab die Flechsig'sche Seele nur noch in einer oder zwei Gestalten und die von W.'sche Seele in einer einzigen Gestalt übrig blieb. Die letztere schien später sogar auf das Anbinden freiwillig verzichtet zu haben; sie saß dann noch längere Zeit – etwa ein Jahr lang – bei mir hauptsächlich in Mund und Augen, mich wenig mehr belästigend, sondern mir sogar eine gewisse Unterhaltung bereitend, indem ich mit derselben eine Art Gedankenaustausch unterhielt, bei dem freilich ich fast stets der gebende und die von W.'sche Seele der empfangende Theil war. Ich erinnere mich noch mit einigem Humor des überaus drolligen Eindrucks, welchen es machte, wenn diese zuletzt völlig gedankenlos gewordene und nur noch auf Augeneindrücke beschränkte Seele, sobald ich irgend einen Gegenstand in meiner Nähe suchte, gewissermaßen mitsuchte, d.h. zu meinen Augen mit heraussah.1[133] Etwa im Jahre 1897 ist die von W.'sche Seele, mir selbst unmerklich schließlich völlig verschwunden. Ich hatte mich an ihre Gesellschaft zuletzt so gewöhnt, daß ich, als ich eines Tages, nachdem ich längere Zeit nicht mehr an sie gedacht hatte, mir ihres Verschwindens bewußt wurde, mich veranlaßt fand, zu Ehren ihres Abscheidens den Trauermarsch aus der Eroica von Beethoven auf dem Klavier zu spielen.

Die Flechsig'sche Seele ist auch jetzt noch immer in einem dürftigen Reste (irgendwo angebunden) vorhanden; sie hat aber, wie ich sicheren Grund habe anzunehmen, ihre Intelligenz schon längst eingebüßt, d.h. ist ebenfalls völlig gedankenlos geworden, sodaß ihre himmlische Existenz, die sie sich in Auflehnung gegen Gottes Allmacht errungen hatte, ihr kaum noch irgend welche eigene Befriedigung gewähren wird – abermals eine der glänzenden Bewährungen der Weltordnung, vermöge deren Nichts, was im Widerspruch mit derselben geschaffen ist, auf die Dauer sich behaupten kann.

Die früheren »geprüften Seelen« waren und sind damit – bis auf eine geringfügige Ausnahme – vom Schauplatz abgetreten. Indem ich dieses Ereignisses gedenke, kann ich mir nicht versagen, noch Einiges über die zum Theil recht sonderbaren Bezeichnungen anzuführen, die ihnen bis zu ihrem Verschwinden zu Theil wurden. Mag dies auch für andere Leser von geringerem Interesse sein, so ist es doch für mich von Werth, mir diese Bezeichnungen im Gedächtniß zu bewahren und damit die meist schreckensvollen und grausigen Erinnerungen, die sich für mich damit verknüpfen, frisch zu erhalten. Die gesammte aus Flechsig'schen und von W.'schen Seelentheilen, sowie deren sonstigen Parteigängern (Vordringende usw.) gebildete Opposition gegen Gottes Allmacht nannte sich längere Zeit die »Je-nun-Partei«. Diese ziemlich abgeschmackte Bezeichnung rührte daher, daß die Flechsig'sche Seele sich angewöhnt hatte, auf alle Fragen, was denn nun aus der ganzen »verfluchten Geschichte« werden solle (denn daß es sich um eine recht gründlich verfahrene Angelegenheit handele, darüber schien wenigstens Gottes Allmacht sich klar zu sein) stets nur mit einem spöttisch-gleichgültigen »Je-nun« zu antworten. Die Antwort ist wiederum höchst charakteristisch für den Seelencharakter; denn die Seelen kennen nun einmal ihrer Natur nach keine Sorge für die Zukunft, sondern lassen sich am jeweiligen Genusse genügen. In's Menschliche übersetzt würde das »Je nun« der Flechsig'schen Seele also etwa bedeutet haben »Ich kümmere mich den Teufel um die Zukunft, wenn ich mich nur für den Augenblick wohl befinde.« Als von der Flechsig'schen Seele zuletzt nur noch zwei Seelentheile übrig blieben, wurde daher der entferntere als der »hintere Flechsig« und der etwas nähere, übrigens in seiner Intelligenz wohl schon früher wesentlich schwächere als die mittlere »Je-nun-Partei« bezeichnet.[134]

Von den von W.'schen Seelentheilen ist der »Unterleibsfäulen« von »W.« schon früher erwähnt worden; dieser hatte wohl die unreinsten Nerven, bezeigte daher mir gegenüber die niederträchtigste Gesinnung und zugleich Gottes Allmacht gegenüber eine naive Unverfrorenheit, die sich in gewissen klassischen Redensarten, die nicht in das der Bewegung meiner Nerven und der Gewohnheit der Strahlen entsprechende Versmaß paßten, wie »Es ist gewissermaßen nicht mehr auszuhalten,« »Erlauben Sie« usw. (letzteres, wenn er aus seiner Stellung delogirt werden sollte) zu erkennen gab. Er hing in meinem Schlafzimmer, während ich im Bette lag, scheinbar unmittelbar an der gegenüberliegenden Wand. Ihm nahe stand an Gemeinheit der Gesinnung der sogen. »Mittags«-von W., der diesen Namen trug, weil von ihm damals gesagt wurde, daß er die Mahlzeiten, namentlich die Mittagsmahlzeiten besorgen lasse. Einen etwas anständigeren, zum Theil recht verständigen Charakter wiesen, wenn auch zeitweise veränderlich, zwei andere Gestalten der von W.'schen Seele auf, der »Allerdings« von W. und der »Ei verflucht« von W., beide nach den betreffenden, häufig von ihnen gebrauchten Redensarten so genannt. Die Redensart »Ei verflucht« insbesondere war noch ein Ueberbleibsel der Grundsprache, in welcher die Worte »Ei verflucht, das sagt sich schwer« jedesmal gebraucht wurden, wenn irgend eine mit der Weltordnung unverträgliche Erscheinung in das Bewußtsein der Seelen trat, z.B. »Ei verflucht, das sagt sich schwer, daß der liebe Gott sich f ... läßt.«

Sehr gefährlich war für mich längere Zeit ein an sich sehr kleiner von W.'scher Seelentheil, welcher nach einem ausschließlich von ihm geübten Wunder als »Geißel von W.« bezeichnet wurde. Dieser schwang beständig eine kleine Geißel in meiner Schädeldecke, wodurch recht bedenkliche Zerstörungen und zeitweise auch ziemlich empfindliche Schmerzen darin verursacht wurden.

In der Zeit meines Aufenthalts in der Dr. Pierson'schen Anstalt (der »Teufelsküche«) war auch eine Gestalt der von W.'schen Seele vorhanden, zu deren Bildung wohl einzelne meiner eigenen Nerven verwendet worden sein müssen, da sie die Bezeichnung »der kleine von W.-Schreber« führte. Dieser war der gutmütigste von allen; er brachte es (in seinen Wundern) manchmal sogar zu sogenannten »Goldtropfen«, einem sonst nur von Gottes Allmacht geübten Wunder, bei welchem sich, in mir deutlich fühlbarer Weise, irgend welche Flüssigkeit wie Balsam auf beschädigte Theile des Kopfes, Kraniolen und dergleichen legte, sodaß – mit einem Schlage – eine unmittelbar heilende Wirkung hervortrat.

Mein äußeres Leben setzte sich in der Zeit nach dem in Kap. XIII beschriebenen Umschwung zwar nicht ganz mehr so einförmig fort, wie vorher in der Periode der Regungslosigkeit, bot aber doch immer noch verhältnißmäßig wenig Abwechselung, wie dies der Aufenthalt in einer Anstalt mit sich bringt. Auf Klavierspielen und Schachspielen verwendete ich nach wie vor einen großen Theil meiner Zeit; der Notenschatz,[135] der mir zu den Zwecken des ersteren zur Verfügung stand, wurde durch Geschenke meiner Angehörigen nach und nach gar nicht unbeträchtlich.

Da ich anfangs nur mit einigen Buntstiften, später auch mit anderem Schreibmaterial versehen wurde, so fing ich an, schriftliche Aufzeichnungen zu machen; so erbärmlich waren meine Verhältnisse gewesen, daß ein Bleistift oder ein Radirgummi lange Zeit von mir wie ein wahrer Schatz gehütet wurde. Die Aufzeichnungen bestanden zunächst nur in zusammenhangloser Niederschrift einzelner Gedanken oder Stichworte; später – vom Jahre 1897 an – begann ich geordnete Tagebücher zu halten, in welchen ich alle meine Erlebnisse eintrug; vorher – noch im Jahre 1896 – hatte ich mich auf dürftige Notizen in einem kleinen Kalender beschränken müssen. Gleichzeitig machte ich schon damals die ersten Versuche, ein Brouillon meiner künftigen Memoiren zu entwerfen, deren Plan ich bereits damals gefaßt hatte. Dasselbe ist in einem braunen Hefte, betitelt »Aus meinem Leben«, enthalten und hat mir bei der Ausarbeitung der gegenwärtigen »Denkwürdigkeiten« als eine willkommene Unterstützung meines Gedächtnisses gedient. Wer sich irgend für dieses – stenographisch geführte – Brouillon näher interessiren sollte, wird darin noch manche Stichworte finden, die ich in meine Denkwürdigkeiten nicht aufgenommen habe und welche dem Leser eine Vorstellung davon geben mögen, daß der Inhalt meiner Offenbarungen noch ein unendlich viel reicherer gewesen ist, als derjenige, den ich in dem beschränkten Raume dieser »Denkwürdigkeiten« habe unterbringen können. Endlich habe ich – seit dem Spätherbst 1897 – in den dazu bestimmten kleinen Notizbüchern B, C und I die bereits in Anmerkung 61 erwähnten Betrachtungen oder kleinen Studien niedergelegt.

Große Schwierigkeiten bot mir von jeher (und bietet mir zum Theil noch jetzt) das Einnehmen der Mahlzeiten, das bis Ostern dieses Jahres (1900) stets allein auf meinem Zimmer stattfand. Kein Mensch hat eine Vorstellung davon, mit welchen Hindernissen ich dabei zu kämpfen hatte; denn während ich aß, wurde mir fortwährend im Munde herumgewundert; auch nahmen dabei die thörichten Fragen: »Warum sagen Sie's nicht (laut)?« usw. unbehindert ihren Fortgang, während doch das laute Sprechen für einen Menschen, der den Mund voll hat, nahezu eine Unmöglichkeit ist. Meine Zähne waren dabei beständig in großer Gefahr; es ist auch öfters vorgekommen, daß mir einzelne meiner Zähne während des Essens durch Wunder zerbrochen sind. Oft wurden mir während des Essens Zungenbißwunder applizirt. Die Schnurrbarthaare wurden mir bei den Mahlzeiten fast regelmäßig dergestalt in den Mund hineingewundert, daß ich mich schon aus diesem Grunde entschließen mußte, mir den Schnurrbart im August 1896 ganz abrasiren zu lassen. Das Fallen des Schnurrbarts war aber auch noch aus anderen Gründen für mich zur Nothwendigkeit geworden, so wenig ich mir auch – am Tage – mit glattrasiertem Gesichte selbst[136] gefallen mochte und noch gefalle. Mit Rücksicht auf die im Kap. XIII geschilderten Verhältnisse ist es für mich erforderlich, mich wenigstens in der Nacht mit Hülfe meiner Einbildungskraft als ein weibliches Wesen vorzustellen und dieser Illusion hätte natürlich der Schnurrbart ein kaum überwindliches Hinderniß bereitet. Solange ich allein aß, habe ich fast stets während der Mahlzeiten Klavier spielen oder lesen müssen, da es auch während des Essens immer geboten war, dem entfernten Gotte2 den Beweis der Unversehrtheit meiner Verstandeskräfte zu liefern; sofern ich dies nicht wollte, blieb mir kaum etwas Anderes übrig, als das Essen im Stehen oder Herumgehen einzunehmen.

Die Nächte habe ich – ich greife hier zum Theil wieder zeitlich etwas vor – wie schon früher erwähnt, während eines zweiundeinhalbjährigen Zeitraumes, vom Mai 1896 bis Dezember 1898, nicht in dem eigentlich für mich bestimmten, neben meinem Wohnzimmer befindlichen Schlafzimmer, sondern in Dementenzellen im Erdgeschosse und im ersten Stockwerke des Rundflügels der Anstalt verbracht. Die Gründe für die betreffende Anordnung sind mir eigentlich heute noch unverständlich. Allerdings ist es in den ersten Jahren meines Aufenthalts in der hiesigen Anstalt verschiedene Male zu Thätlichkeiten zwischen mir und anderen Patienten der Anstalt, einige Male auch mit Pflegern gekommen. Die einzelnen Fälle habe ich mir sämmtlich aufnotirt; es handelt sich danach um 10 bis 12 Vorgänge, deren letzter sich am 5. März 1898 ereignete und bei denen ich übrigens, wenigstens soweit es sich um andere Patienten handelte, stets der angegriffene Theil gewesen bin.

Die tieferen Gründe, welche die Veranlassung zu derartigen Rohheitsscenen waren, werde ich später noch zu besprechen Gelegenheit finden. Jedenfalls kann ich nicht annehmen, daß mich die Aerzte um dieser immerhin vereinzelten Vorkommnisse willen für einen im Allgemeinen der Tobsucht verfallenen Menschen haben halten können, da sie doch gleichzeitig Gelegenheit hatten, zu beobachten, daß ich mich am Tage unausgesetzt mit Klavierspielen, Schachspielen, später auch Bücher- und Zeitunglesen anständig, ruhig und durchaus meinem Bildungsgrade entsprechend beschäftigte. Daß ich in der Nacht ab und zu einmal laut gesprochen habe – wozu ich aus den in Anmerkung 46 angedeuteten Gründen zuweilen genöthigt war – mag vorgekommen[137] sein; es wäre also möglich, daß andere auf demselben Korridor oder über mir schlafende Patienten hin und wieder Grund zur Beschwerde über mich gehabt hätten. Aber auch hierbei hat es sich keinesfalls um Ruhestörungen gehandelt, die sich allnächtlich oder auch nur in der überwiegenden Zahl der Nächte wiederholt hätten, und zudem muß ich Aehnliches nicht selten auch meinerseits von anderen Patienten ertragen, auch ist mein Schlafzimmer von anderen Schlafräumen immerhin ziemlich abgetrennt.

So muß ich es denn allerdings als eine über die Maßen befremdliche Maßregel bezeichnen, daß man mich mit Ausnahme einiger weniger Nächte volle 21/2 Jahre lang in für Tobsüchtige eingerichteten Zellen hat schlafen lassen, in denen ich außer einer eisernen Bettstelle, einem Nachtgeschirr und den Bettstücken nicht das Mindeste vorfand und die obendrein während des größeren Theils der Zeit durch schwere hölzerne Läden total verfinstert wurden. Ich wiederhole, daß es mir durchaus fern liegt, irgendwelche Anklagen für die Vergangenheit zu erheben; allein ich kann nicht anders annehmen, als daß dabei eine gewisse vis inertiae mit im Spiele gewesen ist, die es bei einem einmal geschaffenen, noch so schwer erträglichen Zustande bewenden läßt, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, ob die Gründe, welche zur Verhängung der betreffenden Maßregel Veranlassung gegeben haben, auch wirklich noch fortbestehen.

Ich glaube ruhig behaupten zu können, daß keinem anderen Patienten der Anstalt auch nur entfernt etwas Aehnliches begegnet ist; Einsperrungen in die Zellen kommen in Fällen periodischer Tobsucht wohl vor, pflegen aber doch dann, soviel mir bekannt ist, immer höchstens nur einige Wochen anzuhalten.

So wenig ich daher die Absicht habe, der folgenden Darstellung irgend eine persönliche Schärfe zu geben, so gehört doch nun einmal eine Schilderung, wie unsäglich ich während dieses Zellenaufenthalts gelitten habe, zu dem vollständigen Bilde meiner Leidensgeschichte. Mein Schlaf ist, wie aus dem früher Mitgetheilten hervorgeht, ausschließlich von der Konstellation der himmlischen Verhältnisse abhängig; sobald sich Gott, was periodenweise in der Regel auf halbe Tage oder doch mehrere Stunden zu geschehen pflegt, in allzugroße Entfernung zurückgezogen hat, ist Schlaf für mich schlechterdings unmöglich. Muß ich dann wachen, so erzeugt das sinnlose Stimmengewäsch in meinem Kopfe geradezu unerträgliche geistige Martern, zu denen überdies seit länger als Jahresfrist, bald mehr oder weniger, die später zu schildernden Brüllzustände hinzutreten, sofern ich nicht in der Lage bin, den entfernten Gott, der mich für blödsinnig geworden erachtet, jeweilig von dem Gegentheil zu überzeugen.

Wie sollte ich dies aber in schlaflosen Nächten in der Zelle, in der es mir an der Beleuchtung, sowie an jeglichen zu irgendwelcher Beschäftigung geeigneten Gegenständen mangelte, anfangen? Das Verbleiben im Bette war einfach unmöglich, das Herumtappen in der finsteren[138] Zelle aber, nur mit dem Hemde bekleidet in bloßen Füßen – denn auch die Hausschuhe wurden mir nicht gelassen – war natürlich über die Maßen langweilig, dabei zu Winterszeiten empfindlich kalt und überdies wegen des Anwundern meines Kopfes an die niedrigen Zellengewölbe gar nicht ungefährlich. Noth macht erfinderisch und so habe ich denn im Laufe der betreffenden Jahre zu allen möglichen Auskunftsmitteln gegriffen, um nur in irgend erträglicher Weise die Zeit zu verbringen. Ich habe manchmal fast stundenlang Knoten in die vier Ecken meines Taschentuchs geschlungen und wieder aufgelöst, sowie theils vom Bette aus, theils im Herumgehen laut sprechend irgend welche Erinnerungen aus meinem Leben vorgetragen, laut namentlich Französisch gezählt – denn auch darauf, ob ich noch »fremde Sprachen« spräche, wurden beständig Fragen gerichtet – irgend Etwas von meinen geschichtlichen und geographischen Kenntnissen zum Besten gegeben, z.B. die sämmtlichen russischen Gouvernements und französischen Departements aufgesagt usw. usw. Natürlich entschloß ich mich zum Lautsprechen nur ungern, da ich damit auf den Schlaf verzichtete, aber es blieb oft Nichts weiter übrig. Sehr empfindlich war mir dabei der Mangel von Uhr und Schwefelhölzchen; denn wenn ich nach kürzerem oder längerem Schlaf in der Nacht aufwachte, konnte ich doch nicht wissen, in welcher Zeit man lebte und welches Verhalten ich demnach für den Rest der Nacht noch einschlagen sollte.

Als gegen das Ende der Zellenaufenthaltsperiode die Fensterläden nicht mehr verschlossen wurden, habe ich mich daher auf die Beobachtung des Sternhimmels verlegt3 und es dabei auf Grund einer Sternkarte, die ich jedesmal am Tage studirt hatte, ganz wie die Völker der Urzeit, zu einiger Fertigkeit in der Bestimmung der Nachtstunden gebracht. So lange die Fensterläden geschlossen wurden, habe ich mir durch Dagegendonnern mit den Fäusten die Hände oft fast wund geschlagen; einmal habe ich auch den einen durch Wunder bereits gelockerten Fensterladen vollends heruntergewuchtet, wobei mir dann das obere Querstück dergestalt auf den Kopf gewundert wurde, daß mein Kopf und meine Brust von Blut überströmt war. Etwas besser gestalteten sich die Verhältnisse in der letzten Zeit meines Zellenaufenthalts dadurch, daß ich jedesmal einen kleinen Blechkasten mit in die Zelle nahm, in welchem ich verschiedene Kleinigkeiten, Bleistift, Papier, ein sog. Pocket-Chess-Board (Taschenschachspiel) usw. zu verwahren pflegte, mit denen wenigstens im Sommer vom Eintritt der Tageshelligkeit ab irgend welche Beschäftigung möglich war. Diese Zustände habe ich, wie gesagt, zwei und ein halbes Jahr ertragen, im Grunde genommen doch nur, weil Menschen übersinnliche Verhältnisse nicht zu würdigen wußten.

1

Meine Augen hatten dabei einen eigenthümlichen, ich möchte sagen verglasten Ausdruck. Die Anwesenheit der von W.'schen Seele selbst machte sich für mich als eine Art wässeriger Masse bemerkbar, die meinen Augapfel bedeckte.

2

Nach dem, was ich schon früher mehrfach, z.B. in Anmerk. 19 über die Hierarchie der Gottesreiche bemerkt habe, wird hoffentlich der Leser wenigstens eine Ahnung davon gewinnen, was ich mit dem Ausdrucke »Der entfernte Gott« besagen will. Man hat sich eben Gott nicht etwa als ein durch die Umrisse eines Körpers räumlich begrenztes Wesen wie den Menschen, sondern als eine Vielheit in der Einheit oder eine Einheit in der Vielheit vorzustellen. Dies sind nicht willkürliche Phantasiegebilde meines Gehirns, sondern ich habe für alle derartige Annahmen bestimmte thatsächliche Anhaltspunkte, in der hier fraglichen Beziehung z.B. (d.h. für den Ausdruck »ein entfernter Gott«), darin, daß zu der Zeit, als noch die echte Grundsprache herrschte, jeder vordere Strahlenführer von den nach ihm kommenden göttlichen Strahlen oder Vertretern der Gottheit als von einem »Entfernten, der ich bin« zu reden pflegte.

3

Dies immer in dem eigenthümlichen, noch in keinem Menschen entstandenen Bewußtsein, daß dieser Sternhimmel selbst es war, von dem die mich so vielfach schädigenden Wunder ausgingen.

Quelle:
Schreber, Daniel Paul: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. Bürgerliche Wahnwelt um Neunzehnhundert. Wiesbaden 1973, S. 139.
Lizenz:
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Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken: nebst Nachträgen und einem Anhang über die Frage:
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