18. Kapitel

[163] Gott und die Schöpfungsvorgänge; Urzeugung; gewunderte Insekten. »Blickrichtung«. Examinationssystem


Soviel ich auch in den vorhergehenden Kapiteln über göttliche Wunder zu berichten hatte, so ist dies doch bisher überwiegend nur in der besonderen Richtung geschehen, daß ich ihre schädigenden Einwirkungen auf meinen Körper und die durch dieselben verursachten Erschwerungen der jeweilig von mir gewählten Beschäftigungen zu besprechen hatte. Offenbar handelt es sich hier um ein ganz abnormes Verhältniß, das nur dadurch entstanden ist, daß die Weltordnung selbst in wesentlichen Stücken aus den Fugen gegangen ist. An und für sich liegt nicht die Bekämpfung eines einzelnen Menschen und irgendwelche Zerstörungsarbeit an dessen Körper, sondern das Schaffen in der Zweckbestimmung der göttlichen Strahlen. Diese eigentliche Funktion der Strahlen, die schaffende Wundergewalt Gottes tritt auch jetzt noch in vielen Beziehungen erkennbar für mich zu Tage und ich will daher nicht unterlassen, die Vorstellungen, die ich mir nach meinen bezüglichen Wahrnehmungen hierüber gebildet habe, darzulegen. Allerdings wage ich mich dabei an die schwierigste Materie, die wohl jemals den menschlichen Geist beschäftigt hat, und ich muß gleich von vornherein betonen, daß ich mich nur zu einigen wenigen Bemerkungen von lückenhaftem aphoristischem Charakter für befähigt erachte. Das eigentliche Schöpfungsgeheimniß bleibt in der Hauptsache auch für mich ein Buch mit verschlossenen Siegeln; nur Ahnungen, die ich darüber erlangt habe, können in dem Folgenden wiedergegeben werden.

Wie bereits früher (Kap. I Anmerkung II) bemerkt worden ist, glaube ich das Wesen des göttlichen Schaffens dahin bezeichnen zu können, daß es eine theilweise Selbstentäußerung der Strahlen ist, die mit dem bewußten Willen abgesendet werden, irgendwelche Dinge der Außenwelt hervorzubringen. Gott will, daß Etwas werde, und indem er Strahlen mit diesem Willen entsendet, ist das Gewollte auch ohne Weiteres da. Es ist das Verhältniß, das die Bibel in so bezeichnender Weise mit den Worten ausdrückt »Gott sprach: Es werde Licht, und es ward Licht,« der nähere Zusammenhang entzieht sich dem menschlichen Verständniß. Dabei scheint jedoch die göttliche Schaffensmacht nicht ganz ohne gewisse Schranken zu sein, nicht ganz der Gebundenheit an gewisse Vorbedingungen zu entbehren, die hauptsächlich in dem räumlichen Verhältnisse zu demjenigen Weltkörper, auf welchem die schaffende Gewalt entfaltet werden soll, namentlich in dem Grade der Annäherung begründet sein dürften.

Um einen fertigen Menschen hervorzubringen – ein Schöpfungsakt,[164] der, wie ich annehmen zu dürfen glaube, vor unvordenklichen Zeiten in der That irgend einmal stattgefunden hat – bedurfte es, wenn ich so sagen darf, einer ungewöhnlichen Kraftanstrengung, einer ganz exceptionellen Annäherung an den betreffenden Weltkörper, die, als dauernder Zustand gedacht, vielleicht mit den eigenen Existenzbedingungen Gottes oder mit der Fürsorge für das ganze übrige Weltall unvereinbar gewesen wäre.

Das Gleiche, was vom Menschen gesagt ist, gilt natürlich auch von jeder höheren Form des Thierlebens, die im Vergleich zu den bisher schon vorhandenen niederen Formen desselben geschaffen werden sollte. Man könnte sich also vorstellen, daß das Ganze der Schöpfung auf irgend einem Weltkörper nicht, wie nach der Darwinistischen Auffassung, ein Hervorgehen neuer Arten durch allmälige Umwandlung derselben, sondern das Aufeinanderfolgen einzelner Schöpfungsakte gewesen ist, durch welche jeweilig eine neue Art, allerdings nicht ohne Erinnerung an die früher vorhandenen, sozusagen als Modelle dienenden Arten geschaffen wurde. Jede Art könnte nur in einem oder einigen wenigen Individuen erschaffen worden sein, denen das Geschenk der Fortpflanzungsfähigkeit gewissermaßen mit in die Wiege gelegt war und die daher unter günstigen Bedingungen zu einer beliebig großen Menge sich vervielfältigen konnten. Selbstverständlich mußten jeweilig bei Erschaffung einer neuen Art die Voraussetzungen gegeben sein, unter denen sich dieselbe auf die Dauer behaupten konnte; die physikalischen Verhältnisse des betreffenden Weltkörpers (Temperatur, Vertheilung von Luft und Wasser usw.) mußten bereits bis zu einem entsprechenden Grade vorgeschritten und eine hinreichende Bevölkerung an Pflanzen und niederen Thierformen vorhanden sein, die den höheren Formen zur Nahrung dienen konnte. Die Krone der ganzen Schöpfung aber bildete der Mensch, auf dessen Erschaffung als ein gottähnliches und nach dem Tode sich wieder in Gott verwandelndes Wesen (vergl. Kap. I Anmerkung 11) der Schöpfungsplan von vornherein angelegt war.

Zu einer wissenschaftlichen Durcharbeitung der kosmogonischen Auffassung, die ich im Vorstehenden nur in wenigen großen Strichen angedeutet habe, fehlt es mir beinahe an allen und jeden Voraussetzungen. Es fehlt mir fast gänzlich an wissenschaftlichen Hülfsmitteln; es fehlt mir während des größeren Theils der mir zur Verfügung stehenden Zeit an einer entsprechenden gesundheitlichen Verfassung, da ich, während ich arbeite, fortwährend gedankenzerstreuenden oder sonst meinen Kopf schädigenden Wundern ausgesetzt bin, die eine anhaltende Denkarbeit auf einem so schwierigen Gebiete häufig zur Unmöglichkeit machen; es würde endlich vielleicht auch ein schärferer Verstand als der meinige dazu gehören, um die Riesenaufgabe zu lösen, die in einer vollkommen wissenschaftlichen Begründung dieser Auffassung liegen würde.

Ich werde mich daher in dem Folgenden im Wesentlichen damit begnügen müssen, diejenigen Wahrnehmungen mitzutheilen, die mich[165] auf die gewonnene Auffassung hingeleitet haben. Das Ziel meines Strebens kann nur dahin gehen, dem Leser den Eindruck zu verschaffen, daß er es nicht blos mit leeren Hirngespinsten eines armen Geisteskranken zu thun hat – als solcher gelte ich ja zur Zeit noch vor den Menschen – sondern mit Ergebnissen, die auf Grund ganz besonderer, anderen Menschen ihrer Natur unzugänglicher Erfahrungen durch mehrjähriges, reifliches Nachdenken gewonnen worden sind, und die, wenn sie vielleicht auch noch nicht in allen Stücken die volle Wahrheit enthalten sollten, doch jedenfalls der Wahrheit unvergleichlich näher kommen, als alles Dasjenige, was andere Menschen im Laufe der Jahrtausende über diesen Gegenstand gedacht und geschrieben haben.

Die wichtigste der betreffenden Wahrnehmungen besteht darin, daß ich die unmittelbare Entstehung (Erschaffung) durch göttliche Wunder wenigstens an niederen Thieren seit Jahren erlebt habe und jetzt noch täglich und stündlich in meiner Nähe erlebe. Ich bin danach zu der sicheren Ueberzeugung gelangt, daß es eine Urzeugung (elternlose Zeugung, generatio aequivoca) in der That giebt, aber nicht in dem Sinne, den die materialistische Richtung der Naturwissenschaft mit diesen Ausdrücken zu verbinden pflegt, daß nämlich unorganische Substanzen durch irgend welches Ungefähr in der Weise in Verbindung mit einander treten, daß irgend ein organisirtes (belebtes) Wesen aus der Verbindung hervorgeht, sondern in der hiervon gänzlich verschiedenen Bedeutung, daß es sich bei der Entstehung der betreffenden Wesen um zielbewußte Aeußerungen der göttlichen Willensmacht oder Schöpferkraft handelt. Die Thiere, die hierbei erschaffen werden, gehören je nach Verschiedenheit der Tages- und der Jahreszeiten verschiedenen Gattungen an; am häufigsten sind außer Spinnen Insekten aller Art in Frage, namentlich Fliegen, Mücken, Wespen, Bienen, Hummeln, Ameisen, Oehrlinge, Schmetterlinge, Nachtvögel, Motten u.s.w. u.s.w. Diese Thiere erscheinen bei ganz bestimmten Gelegenheiten und in ganz bestimmter Abwechslung fortwährend in meiner Nähe und zwar, wie ich nach der Häufigkeit der betreffenden Erscheinungen nicht im mindesten mehr bezweifeln kann, nicht als schon von früher her vorhandene, nur zufällig in meine Nähe getriebene, sondern als jeweilig neu erschaffene Wesen. Ich kann z.B. mit voller Sicherheit darauf rechnen und daher voraussagen, daß, wenn ich im Garten auf einer Bank sitze und, da mir nun durch Wunder die Augen geschlossen werden, in Folge der jeweilig in kurzer Zeit sich ergebenden Vereinigung aller Strahlen es zum Schlafe kommen müßte, alsbald eine Fliege, Wespe oder Hummel oder auch ein Mückenschwarm erscheint, um mich am Schlafe zu verhindern. Die betreffenden Wunder gehen zur Zeit meist noch von dem niederen Gott (Ariman) aus; doch will es mir scheinen, als ob derartige, verhältnismäßig harmlose Wunder in neuester Zeit auch von dem oberen Gott (Ormuzd) geübt würden, da, wie schon früher erwähnt, in Folge der stetig sich steigernden Seelenwollust auch dessen feindselige Gesinnung in starker Abnahme begriffen ist.[166]

Dafür, daß es nicht mir zufällig zufliegende, sondern jeweilig um meinetwillen neuerschaffene Wesen sind, habe ich die bündigsten und für mich überzeugenden Beweise in geradezu erdrückender Fülle. Ob ich die gleiche Ueberzeugung auch anderen Menschen beibringen kann, bleibt natürlich zur Zeit noch fraglich: Indessen lege ich auch darauf nicht den Hauptwerth. Es ist vorläufig keineswegs meine Absicht, Propaganda für meinen Wunderglauben und für meine Vorstellungen von göttlichen Dingen zu machen; ich beschränke mich vielmehr darauf, meine Erlebnisse und Erfahrungen darzulegen, in der sicheren Erwartung, daß das Gesammtbild der wunderbaren Erscheinungen, die an meiner Person zu beobachten sind und wahrscheinlich künftig immer deutlicher hervortreten werden, der Erkenntniß der Wahrheit – und sollten auch noch Jahre darüber vergehen – auch bei anderen Menschen von selbst Bahn brechen wird. Weil ich aber nun einmal auf den Einwurf gefaßt sein muß, es sei doch gar nichts Ungewöhnliches, daß zu gewissen Zeiten Fliegen im Zimmer, Wespen im Freien herumfliegen u.s.w., und es sei also lediglich eine krankhafte Einbildung von mir, bei allen diesen Erscheinungen an göttliche Wunder zu glauben, die zu meiner Person in irgendwelcher Beziehung stehen, so will ich wenigstens einige der wichtigeren Anhaltspunkte anführen, die mir die gegentheilige Ueberzeugung in Folge jahrelanger Wiederholung der betreffenden Erscheinungen zur unumstößlichen Gewißheit machen. Jedesmal, wenn ein Insekt der erwähnten Gattungen erscheint, wird nämlich auch gleichzeitig das Wunder der Blickrichtung an meinen Augen geübt; es ist dies ein Wunder, das ich bisher noch nicht erwähnt habe, das aber seit Jahren bei den verschiedensten Anlässen ganz regelmäßig in Scene gesetzt wird. Strahlen wollen eben beständig dasjenige sehen, was ihnen gefällt, und dies sind vorzugsweise entweder weibliche Wesen, durch welche ihre Wollustempfindung erregt wird, oder die eigenen Wunder, deren Anblick ihnen nach dem bereits in Kap. I hierüber Bemerkten die Freude an den von ihnen erschaffenen Dingen gewährt. Man giebt also meinen Augen durch entsprechende Einwirkung auf meine Augenmuskeln diejenige Richtung, nach welcher mein Blick auf die soeben erschaffenen Dinge (in anderen Fällen auf ein weibliches Wesen) fallen muß.

Ueber die Objektivität dieses Vorgangs habe ich nach seiner tausendfältigen Wiederholung nicht den mindesten Zweifel, da ich aus eigenem Antriebe sicher nicht das mindeste Verlangen haben würde, jede Fliege, jede Wespe und jeden Schmetterling u.s.w., der zufällig in meiner Nähe erschiene, einer besonderen Aufmerksamkeit zu würdigen. Daß ich mir dessen bewußt werden muß, ob meine Augen in der angegebenen Weise nach irgend einem für mich an und für sich gleichgültigen Gegenstande sozusagen herumgedreht werden oder ob ich dieselben freiwillig nach einem mich interessierenden Punkte meiner Umgebung richte, wird man wohl glaublich finden.1 Dazu kommt aber noch,[167] daß auch die mit mir redenden Stimmen die betreffenden Erscheinungen jedesmal zum Gegenstande einer ihnen eigens gewidmeten Unterhaltung machen. Es geschieht dies in verschiedener Weise, entweder, indem man meinen Nerven fälschungsweise gewisse Befürchtungs- oder Wunschgedanken unterlegt z.B. wenn nur die verfluchten Fliegen aufhörten, wenn nur die verfluchten Wespen aufhörten u.s.w., oder, indem man eine auch sonst bei jeder Gelegenheit hervortretende Examinationsabsicht damit verfolgt. Gott kann sich nun einmal nach dem bereits in Kap. III hierüber Bemerkten von der Vorstellung nicht losmachen, daß in jedem gegebenen Augenblicke, sobald das Nichtsdenken bei mir eintritt d.h. in Worten formulierte Gedanken aus meinen Nerven nicht herausklingen, der Zustand vollständiger Verdummung (der »Blödsinn«) bei mir Platz gegriffen habe; er hat aber gleichwohl immer den Wunsch, sich darüber zu vergewissern, ob diese Annahme auch wirklich zutreffe und damit der erhoffte Zeitpunkt, in welchem ein endgültiger Rückzug der Strahlen möglich sein werde, eingetreten sei.

Die Form des Examinirens ist eine höchst eigenthümliche und für Jemand, der mit der Menschennatur vertraut ist, kaum verständliche. Man läßt die Personen meiner Umgebung, deren Nerven man hierzu anregt, gewisse Worte, und zwar die Verrückten mit Vorliebe irgendwelche gelehrte Brocken (womöglich fremden Sprachen angehörige), die ihnen aus ihren früher erlangten Kenntnissen noch zur Verfügung stehen, sprechen und legt sich nun bei mir sozusagen aufs Ohr, indem man die Worte in meine Nerven hineinspricht: »Fand Aufnahme« (scilicet in das Bewußtsein oder das Verständniß); also, um ein Beispiel zu gebrauchen, es werden etwa von irgend einem Verrückten ohne jeden Zusammenhang die Worte »Rationalismus« und »Sozialdemokratie« ausgestoßen und es wird gleichzeitig mit den von den Stimmen gesprochenen[168] Worten »Fand Aufnahme« bei mir angeklopft, ob für die Begriffe »Rationalismus« und »Sozialdemokratie« noch Verständniß bei mir vorhanden sei, d.h. ob ich noch wisse, was diese Worte zu bedeuten haben.

Die Vorstellung einer bei mir jeweilig eingetretenen Verdummung ist eine so hartnäckige und der Grad der bei mir vorausgesetzten Dummheit ein so großer, daß man Tag für Tag von neuem bezweifelt, ob ich die Personen meiner Umgebung noch kenne, ob ich von den alltäglichen Naturerscheinungen, Kunst- und Gebrauchsgegenständen, sonstigen Vorgängen noch eine Vorstellung habe, ja sogar, ob ich überhaupt noch wisse, wer ich selbst sei oder gewesen sei. Die dem Examinierzwecke dienenden Worte »Fand Aufnahme« ertönen daher nach dem mit der Blickrichtung erfolgten Hinweise auf die betreffenden Erscheinungen oder Gegenstände, um noch einige weitere Beispiele anzuführen, in meinen Nerven selbst in der Weise, daß ich mit anhören muß »Der Geheime Rath – fand Aufnahme,« »der Vorsteher (Oberpfleger) – fand Aufnahme,« »Schweinebraten – fand Aufnahme,« »Eisenbahn – fand Aufnahme,« vor allen Dingen auch »Das will ein Senatspräsident gewesen sein – fand Aufnahme« usw. usw. Dies Alles geschieht seit Jahren, Tag für Tag und Stunde für Stunde in tausendfältiger Wiederholung. Incredibile scriptu, möchte ich selbst hinzufügen, und doch ist Alles thatsachlich wahr, so wenig andere Menschen den Gedanken einer so totalen Unfähigkeit Gottes, den lebenden Menschen richtig zu beurtheilen, werden fassen können, und so langer Zeit es auch für mich bedurft hat, um mich an diesen Gedanken nach den unzähligen, hierüber gemachten Beobachtungen zu gewöhnen.

In ähnlicher Weise examinirend wird nun also auch beim Erscheinen der gewunderten Insekten verfahren. In jetziger Jahreszeit (Anfang September) sind beispielsweise bei meinen Spaziergängen im Garten die Schmetterlinge besonders zahlreich. Fast ohne Ausnahme erfolgt daher beim Auftreten eines Schmetterlings erstens die Blickrichtung auf das betreffende, offenbar soeben erst neugeschaffene Wesen und ertönen zweitens in meinen Nerven die von den Stimmen in dieselben hereingesprochenen Worte »Schmetterling – fand Aufnahme,« d.h. man hat es für möglich gehalten, daß ich nicht mehr wisse, was ein Schmetterling sei und frägt also damit gewissermaßen bei mir an, ob der Begriff »Schmetterling« noch Eingang in mein Bewußtsein finde.

Ich sollte meinen, daß die vorstehenden Bemerkungen selbst dem nüchternsten Leser den Eindruck aufdrängen müssen, daß doch ganz merkwürdige Dinge mit mir vorgehen. Man könnte vielleicht nur zweifeln, ob ich die Wahrheit sagen könne und wolle, d.h. ob ich etwa zu Uebertreibungen geneigt sei oder irgendwelchen Selbsttäuschungen unterliege. Demgegenüber darf ich von mir selbst behaupten, daß – mag man von meinen sonstigen geistigen Fähigkeiten denken, was man will – ich zwei Eigenschaften unbedingt für mich in Anspruch nehme, nämlich einmal unverbrüchliche Wahrheitsliebe und das andere Mal[169] eine mehr als gewöhnliche Schärfe der Beobachtungsgabe, und daß das Vorhandensein dieser beiden Eigenschaften von Niemand, der mich in meinen gesunden Tagen gekannt hat oder der sich jetzt zum Zeugen meines ganzen Thuns und Lassens machen kann, in Zweifel gezogen werden wird.

In Betreff der gewunderten niederen Thiere (Insekten etc.) habe ich schon oben hervorgehoben, daß dabei gewisse Unterschiede nach der Verschiedenheit der Jahres- und Tageszeiten zu beobachten sind.

Auch Gott kann nicht zu beliebiger Zeit alles Mögliche schaffen. Vielmehr ist das Maß seiner Schöpferkraft von dem – für die Entstehung des Jahres- und Tageszeiten maßgebenden – Verhältnisse zwischen der Sonne und der Erde, und wie mir scheinen will, sogar von der jeweiligen Wetterlage abhängig. Dabei hat man sich zu erinnern, daß nach meinen bereits früher (Kap. I und Kap. VII bei Anmerkung 44.) entwickelten Vorstellungen die Sonne nicht eigentlich als ein für Gott fremder Machtfaktor anzusehen ist, sondern in gewissem Sinne mit Gott selbst identifiziert werden muß, d.h. als das der Erde zunächst gelegene Werkzeug seiner schaffenden Wundergewalt sich darstellt. Mit anderen Worten: Gott kann jeweilig nur Dasjenige schaffen, wozu er sich nach den einmal eingerichteten räumlichen Beziehungen zwischen sich selbst und dem betreffenden Weltkörper und der dadurch bedingten Licht- und Wärmeausstrahlung in den Stand gesetzt hat. Demnach erscheinen Schmetterlinge nur am Tage, Wespen, Bienen und Hummeln vorzugsweise an besonders warmen Tagen, Nachtvögel, Mücken und Motten dagegen am Abend, wo dieselben überdies – wie auch sonst – durch den Schein der Lampe angezogen werden.

Ob und inwieweit es mit den in Kap XV besprochenen gewunderten (sprechenden) Vögeln eine ähnliche Bewandtniß hat, ist eine schwer zu beantwortende Frage.2 Bereits in dem erwähnten Kapitel habe ich bemerkt, daß auch die sprechenden Vögel jeweilig denjenigen Vogelarten angehören, in denen sie sonst nach Verschiedenheit der Jahreszeiten bei uns aufzutreten pflegen. Ein wesentlicher Unterschied besteht aber jedenfalls insofern, als in den sprechenden Vögeln, wie ich aus den bereits früher angeführten Gründen anzunehmen habe, Reste verschiedener Menschenseelen stecken, was bei den gewunderten Insekten nicht der Fall ist. Der Klang der in meinen Kopf hineingesprochenen Stimmen theilt sich zwar, wenn eine Wespe oder Fliege längere Zeit in meiner Nähe schwirrt, dem Gesumme der genannten Thiere mit, sodaß dieselben ebenfalls zu sprechen scheinen. Dies ist aber, wie bei den übrigen, am Schlusse von Kap XVII erwähnten Geräuschen (Eisenbahnen, Kettendampfern u.s.w.) unzweifelhaft nur ein subjektives Gefühl. Dagegen tritt bei den gewunderten Insekten wiederum ein anderes interessantes Moment zu Tage, das eine weitere Bestätigung meiner Annahme, wonach es sich um neugeschaffene Wesen handelt, enthält. Je nach der Gesinnung, von der Gott mir gegenüber erfüllt ist, kommen nämlich[170] in ganz regelmäßigem Wechsel mehr belästigende oder weniger belästigende Wesen zum Vorschein. Die Gesinnung aber wird, wie ebenfalls schon früher ausgeführt wurde, durch den Grad der jeweilig vorhandenen Seelenwollust und das Maß der Entfernung, in welche sich Gott zurückgezogen hat, bestimmt; je weiter er sich entfernt hat und je geringer die Seelenwollust ist, desto unfreundlicher tritt er mir entgegen. Die Perioden freundlicherer und unfreundlicherer Gesinnung wechseln in rascher Folge an jedem einzelnen Tage vielfach miteinander. In den Letzteren erscheinen daher z.B. in der Nacht Oehrlinge, Spinnen und dergleichen, am Tage Wespen, Hummeln usw., mit anderen Worten Thiere, deren Nähe besonders störend, Ekel oder auch – durch Stiche – Schmerz erregend auf den Menschen wirkt, in den Ersteren aber Fliegen, Motten, Schmetterlinge u.s.w., die von mir kaum als eine nennenswerthe Belästigung empfunden werden.

Im Zusammenhang mit dem vorstehend Besprochenen habe ich endlich noch der sogenannten »Schreckwunder«, als einer vermuthlich ebenfalls mit der schaffenden Wundergewalt Gottes in Verbindung stehenden Erscheinung, zu gedenken. »Schreckwunder« – der nicht von mir, sondern von den Stimmen herrührende Ausdruck ist der wenigstens ursprünglich damit beabsichtigten Wirkung entlehnt – werden seit Jahren in den verschiedensten Formen in meiner Nähe geübt.

In den früheren Jahren erschienen zuweilen, während ich im Bett lag – nicht schlafend, sondern in wachem Zustande – allerhand abenteuerliche, ich möchte sagen lindwurmartige Gestalten in unmittelbarer Nähe meines Bettes von ziemlicher Größe, annähernd der Größe meines Bettes entsprechend und so nahe, daß ich sie fast mit Händen hätte greifen können. Der Kategorie der »Schreckwunder« gehören wahrscheinlich auch an die »schwarzen Bären« und jedenfalls die »weißen Bären«, die ich nach dem in Kap. VI Bemerkten zur Zeit meines Aufenthaltes in der Flechsig'schen Anstalt öfters gesehen habe. Schreckwunder in der Gestalt plötzlich auftauchender schwarzer Schatten erschienen seit Jahren und erscheinen auch jetzt noch tagtäglich, bei Tag und bei Nacht, während ich auf dem Korridor herumgehe oder Klavier spiele u.s.w. in meiner unmittelbaren Nähe, zuweilen eine der menschlichen Gestalt ähnliche Form annehmend. Ich kann sogar die Schreckwunder oder etwas Aehnliches willkürlich provozieren, wenn ich meine Hand vor eine weiße Fläche, etwa die weißgestrichene Stubenthür oder den mit weißer Glasur versehenen Ofen halte, indem dann ganz eigenthümliche Schattenverzerrungen, offenbar durch eine ganz besondere Veränderung der von der Sonne ausgehenden Lichtausstrahlung erzeugt, sichtbar werden. Daß es sich bei allen diesen Erscheinungen nicht um bloße subjektive Empfindungen (»Gesichtstäuschungen« im Sinne von Kräpelins Psychiatrie Seite 110) handelt, ist mir ganz unzweifelhaft, da jedesmal beim Erscheinen eines Schreckwunders meine Aufmerksamkeit im Wege der Blickrichtung (Verdrehens der Augen) noch besonders darauf hingelenkt wird. Es geschieht dies namentlich auch[171] beim Klavierspielen, wo sicher meine Gedanken nach meiner eigenen freien Willensbestimmung mehr bei dem Augeneindrucke der Noten oder der durch die Schönheit der Musik erzeugten Empfindung weilen würden, und wo dann auf einmal meine Augen dergestalt herumgedreht werden, daß mein Blick auf ein an der Thür oder sonst in meiner Nähe erzeugtes Schattenbild fallen muß. Ich habe die Vermuthung – nur von einer solchen kann natürlich hierbei die Rede sein – daß die »Schreckwunder« vielleicht als die ersten Anfänge des göttlichen Schaffens anzusehen sind, die unter gewissen Umständen geeignet wären, sich zu »flüchtig hingemachten Männern« oder anderen dauernden Geschöpfen zu verdichten. Natürlich ist die schreckhafte Wirkung durch jahrelange Gewöhnung längst bei mir verlorengegangen; ich empfinde es jetzt höchstens noch als eine Belästigung, wenn meiner Aufmerksamkeit in der angegebenen Weise auf einmal eine andere Richtung angesonnen wird, als die Betrachtung derjenigen Gegenstände, die mich jeweilig wirklich interessieren.

In dem folgenden Kapitel sollen noch einige andere die Gottesnatur und das Wesen des göttlichen Schaffens betreffende Punkte erörtert werden.

1

Derartige Blickrichtungswunder werden, wie im Text hervorgehoben, eben auch noch bei anderen Anlässen geübt, neuerdings, wo die Gesinnung der Strahlen mir gegenüber überhaupt eine freundlichere geworden ist, manchmal sogar in der Weise, daß dies lediglich in einem mir günstigen Sinne geschieht. Ich mache z.B. fast alltäglich die Erfahrung, daß, wenn ich unter meinen Büchern ein einzelnes Buch oder unter meinen Noten einen einzelnen Notenband oder sonst irgend einen kleinen Gegenstand (Nadel, Cigarrenscheere u. dergl.) suche, den der Mensch wegen seiner Kleinheit nicht im Augenblick bemerken würde, mein Blick durch Wunder (Augenverdrehung) auf den gesuchten Gegenstand gerichtet wird. Diese in ihrer Objektivität für mich vollkommen unzweifelhafte Erscheinung ist nach meinem Dafürhalten von der höchsten grundsätzlichen Wichtigkeit für die Erkenntniß göttlicher Eigenschaften und Kräfte. Es geht daraus hervor, einmal, daß die Strahlen (was mir auch sonst aus tausend Gründen unzweifelhaft ist) meine Gedanken lesen können (da sie ja außerdem nicht wissen könnten, was ich im Augenblicke gerade suche), und zweitens, daß ihnen jeweilig bewußt ist, wo der gesuchte Gegenstand sich befindet, mit anderen Worten der Ort, wo sich irgend ein Gegenstand befindet, von Gott vermittelst des Sonnenlichtes in ungleich vollkommenerer und sicherer Weise, als von den Menschen vermittelst des Sehvermögens wahrgenommen werden kann. Dazu bedarf es übrigens keineswegs der vollen Tagesbeleuchtung; es genügt vielmehr die schwächere Lichtausstrahlung, die auch in der Nacht stattfindet; gerade im Halbdunkel oder bei völliger Dunkelheit in der Nacht wird mir auf diese Weise oft das Auffinden gesuchter Gegenstände durch Blickrichtung erleichtert.

2

(Zusatz v. März 1903). Das Sprechen aller freifliegenden Vögel hat auch in den inzwischen vergangenen Jahren, in denen ich den Aufenthalt vielfach gewechselt habe, ununterbrochen fortgedauert und findet bis auf diesen Tag noch statt. Im Uebrigen würde ich jetzt anstatt des Ausdrucks »gewunderte Vögel«, der oben im Texte gebraucht ist, den Ausdruck »sprechende Vögel« vorziehen. In früherer Zeit habe ich mir eben das Sprechen der Vögel nicht anders erklären zu können geglaubt, als daß diese Vögel als solche gewundert, d.h. jeweilig neu geschaffen worden seien. Nach Allem, was ich inzwischen in Erfahrung gebracht habe, möchte ich es für wahrscheinlicher halten, daß es sich um durch natürliche Fortpflanzung entstandene Vögel handelt, in deren Leiber nur auf irgend welchem übersinnlichen Wege die noch vorhandenen dürftigen Reste der »Vorhöfe des Himmels«, also selig gewesener Menschenseelen eingefügt worden sind oder jeweilig neu eungefügt werden. Daß diese Seelen (Nerven) aber in der That in den Vogelleibern darinstecken (vielleicht neben den, den betreffenden Vögeln sonst eigenthümlichen Nerven und jedenfalls ohne das frühere Identitätsbewußtsein) ist mir aus den im Texte entwickelten Gründen nach wie vor vollkommen unzweifelhaft.

Quelle:
Schreber, Daniel Paul: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. Bürgerliche Wahnwelt um Neunzehnhundert. Wiesbaden 1973, S. 172.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken.
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken: nebst Nachträgen und einem Anhang über die Frage:
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Der Vorzugsschüler / Der Herr Hofrat. Zwei Erzählungen

Der Vorzugsschüler / Der Herr Hofrat. Zwei Erzählungen

Zwei späte Novellen der Autorin, die feststellte: »Eine gescheite Frau hat Millionen geborener Feinde: alle dummen Männer.«

72 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon