Herr Soltau.

[200] Unter solchen war ein junger Mensch mit Namen Herr Soltau, der als Handlungsdiener bei einem Kaufmann war. Zuweilen kam er und frug, ob nicht mein Bruder zu Hause wäre. Nein, dann ging er weg. Gegen allen Wohlstand, glaube ich, wär's gewesen, wenn wir ihm nicht erlaubt hätten, eine halbe Stunde bei uns zu bleiben. In seinem ganzen Betragen war so viel Bescheidenheit und Sitte, daß wir ihm gern den Zutritt in unserm Haus gestatteten. Und was ihm einen Wert mehr bei mir gab, war, daß er kein Hamburger war. Freilich nicht weit davon, aus Bergedorf, doch kein Hamburger; denn ich haßte es nun einmal und war nicht fähig, die ersten Eindrücke zu überwinden. Ich bat ihn um Bücher zum Lesen, und er versorgte mich damit, daß ich nie Mangel hatte. Das erste war der Hamburger Patriot, und das war Wasser auf meine Mühle. Er selbst las gut, das war mir lieb, meine Mutter und ich arbeiteten, während er las. Der Stunden, die er kam, waren nur wenige und das nur des Sonnabends und Sonntags. Denn an den Tagen, wo Komödie war, war es einmal bei mir zum Gesetz geworden, daß ich keinen Besuch annahm und keinen abstattete. Und des Abends 7 oder auf das längste halb 8 Uhr war niemand mehr bei mir zu hören, noch zu sehen. Das war nun einmal unsere Art so, und meine Mutter, die bald gesund, bald krank wurde, dieser durfte nicht im Wege sein, daß ihre Haushaltung um eine Stunde einen andern Gang hätte nehmen sollen. Kurz, wir waren die Leute nach der Uhr. Denn wenn jemand noch um 1/28 Uhr mit dem Hut in der Hand in der Stube stand, so konnte sie so verdrießlich werden, daß ich oft viele Geduld nötig hatte. Doch sie ward alt und kränklich, und ich wußte, was meine Pflicht war: gab nach, ja, sagte es frei heraus: »Hab' ein paar leidliche Stunden gehabt, also wünsche ich nicht, daß solche mir durch verdrießliche Gesichter wieder verbittert würden.«[200]

Im Februar sollte ich von Gott heimgesucht werden von der Seite, wo ich von jeher am empfindlichsten war.

Zuerst zwar machte sie die Nachricht, daß ihr Riekchen glücklich entbunden sei, springen »wie eine Rakete«. Da ihr die Mutter solches Uebermaß der Empfindung verweist, erklärt sie, mit den »hölzernen, schwerfälligen Maschinen« nichts gemein haben zu wollen. In ihrem vierzigsten Lebensjahr werde sie, wo Liebe, Freundschaft, Ehre und Schande ins Spiel käme, noch ebenso lebhaft fühlen. Furchtbar regt sie aber dann die Nachricht vom Tode ihres 84jährigen Freundes Bothe auf. Vierzehn Tage war sie kaum wiederzuerkennen. Wer ihren Schmerz nicht genügend verstand, den haßte und verachtete sie und hätte ihn prügeln können. Am liebsten wäre sie aus ihrer kalten Kammer, ihrem Winkelchen, garnicht herausgekommen. Mit Geld hätte sie jede Stunde erkaufen mögen, die sie nicht zum Theater brauchte. Auf eine Art von Gesicht hin, läßt sie dann von ihrem Kummer ab und nimmt mit Soltau und ihrer Mutter an der harmlosen Zerstreuung teil, sich Rätsel aufzugeben und etwas hinzuschreiben, was der andere lesen muß, um »den Verstand aufzulösen«. Sehr überrascht wird sie dann durch Soltaus Erklärung, daß er jetzt moralisch und fromm geworden und daß das auf ihren Einfluß zurückzuführen sei. Am Sonntag darauf las man zusammen im »Messias«, und ging der Abend hin in stiller Ruhe und Zufriedenheit.

Quelle:
Schulze-Kummerfeld, Karoline: Lebenserinnerungen. Berlin 1915, S. 200-201.
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