9.

[54] Merken Sie aber wohl: nicht etwa ein vorübergehender guter Gedanke, eine einzelne gute, edle Handlung, giebt dem Gesichte diesen feststehenden und überall sich empfehlenden schönen Ausdruck; nein, Ihre Empfindung, Ihr Sinn für das Gute und Edle muß ausdauernd, muß Ihr bleibender Charakterzug werden; denn nur jedes ausdauernde Gefühl, jede herrschende Hauptempfindung drückt sich in dem Gesichte aus, und wird ihm, je nachdem es gut oder böse ist, vortheilhaft oder nachtheilig. Diese Bemerkung begegnet auch zugleich dem Einwurfe, daß mancher, der ein Verbrechen begangen hat, und als ein solcher vor den Richtern steht, gar die Miene seines Verbrechens und der Gesinnungen, die es zuließen, nicht hat, weil er vielleicht sonst ein sehr guter Mensch war, und durch Umstände, Uebereilung und Unüberlegtheit zu diesem Verbrechen hingerissen wurde.

Quelle:
Siede, Johann Christian: Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit. Dessau 1797, S. 54-55.
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