Logierbesuch,

[63] ein zweiter der Fremde, den man hat. Die erstere Person erfährt dadurch eine gefährliche Verschärfung, daß sie gewöhnlich ein Verwandter ist.

Ein Familienmitglied, welches sich entschließt, einige Tage in der Residenz zuzubringen, wird wahrlich, wie es brieflich versichert, nicht Logierbesuch, weil es das Geld einer Hotelwohnung sparen will. Nein, sagt der Briefleser, wegen der größeren Billigkeit.

Der Logierbesuch, der aus einer kleinen Stadt herbeieilt und von den Verwandten auf dem Bahnhof mit Blumen erwartet wird, ist eine anspruchsvolle und unzufriedene Persönlichkeit. Kommt er nun gar aus[63] einer Stadt, in welcher es noch keine Droschken giebt, so findet er schon auf der Taxameterfahrt in die Wohnung, daß die Verkehrsmittel Berlins noch in den Windeln liegen. Namentlich wünscht er die Züge der Stadtbahn, die auf dieser Fahrt über seinem Haupt verkehren, weniger geräuschvoll.

Beklagt er sich darüber, daß das Asphaltpflaster noch nicht allgemein sei und nur zu häufig vom Steinpflaster unterbrochen werde, so fasse man Mut und erkläre kurz und bündig und der Wahrheit gemäß, daß man unschuldig daran sei.

Man sorge dafür, daß das Fremdenzimmer nach hinten hinaus liege, damit der Besucher nicht zu früh von dem Straßenlärm aufgeweckt werde. Aus demselben Grunde gebe man ihm abends keinen stärkeren Kaffee, sondern schweres Bier zu trinken.

Giebt es in der Heimat des Besuchers kein Theater, oder nur ein solches, das alljährlich auf vierzehn Tage in den großen Kasinosaal gastieren kommt, so sei man in der Wahl des Theaters doppelt vorsichtig. Denn der Logierbesuch stellt an Darstellung und Inscenierung die höchsten Ansprüche. Wenn dies irgend möglich, führe man ihn in eine Novität, damit er keine Vergleiche anstellen kann, welche immer zum Nachteil der Berliner Bühnen ausfallen. Selbst Schillers »Räuber« kennt er bereits.

Will der Verwandte einer Reichstagssitzung beiwohnen, so wähle man eine solche, in welcher die hervorragendsten Abgeordneten und Bundesratsmitglieder das Wort ergreifen. Sonst hat man Unannehmlichkeiten, namentlich muß man auf den Vorwurf gefaßt sein, daß man sich wenig um den Verwandten bekümmere.

Man führe den Logierbesuch, wenn man ihm das Nachtleben zeigen will, von den Linden durch die[64] Friedrich- und die Leipzigerstraße nach dem Potsdamer Platz. Man gebe ihm aber Recht, wenn er behauptet, es sei nicht viel los, auch schien ihm die Straßenbeleuchtung mangelhaft. Stehen ihm die Feuermelder im Wege, so teile man ihm mit, daß sie, wenn er, so Gott will, im nächsten Winter wiederkomme, sämtlich auf der Chausse nach Charlottenburg stehen würden.

Man lasse in seiner Gegenwart niemals das Wort Heimreise fallen, denn alsbald wird man gefragt, ob der Besuch wohl schon zu lange dauere. War man aber so unvorsichtig, so schwöre man nicht, daß sich der Besucher irre. Ein Meineid ist schauderhaft.

Man lasse dem Besucher nicht dessen Leibgerichte kochen, denn er würde sie doch nicht wiedererkennen und dann über Magenschmerzen klagen.

Sagt der Logierbesuch selbst, daß es Zeit sei, wieder an die Heimreise zu denken, und daß er übermorgen abreisen wolle, so rufe man nicht aus: I wo! oder dergleichen. Er wäre kapabel.

Nach der Siegesallee lasse man ihn allein gehen, denn man würde ihm jedes einzelne Standbild historisch erklären müssen und dies könnte man nicht. Er würde aber darin eine Unfreundlichkeit erblicken, wie sie nur ein Verwandter haben könne.

Seine Abreise beklage man erst auf der Fahrt nach dem Bahnhof, dann aber in eifrigster Weise. Dann kann es keine üblen Folgen mehr haben.


Quelle:
Stettenheim, Julius: Der moderne Knigge. Berlin 41906, Bd. I, S. 63-65.
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