1. Verhalten der Familienglieder zu einander.

[44] 1. Sehr wichtig ist in der Familie das Entgegenkommen, die zarte Rücksicht aufeinander, die Unterordnung unter die Wünsche anderer und die freundliche und wohlwollende Behandlung der Untergebenen, von welcher wir in einem späteren Abschnitt sprechen werden. Je mehr die Menschen durch die Bande der Natur und der häuslichen Verhältnisse miteinander verbunden sind, desto[44] mehr haben sie die Pflicht, einander liebend zu ertragen und so sich das Leben zu erleichtern, Nur wo die Nächstenliebe und das selbstlose Zurücktreten des eigenen Ich ohne Zwang und Heuchelei heimisch ist, da wird jene geistige Einheit herrschen, welche so ungemein wohlthätig wirkt und uns den Aufenthalt in einem Hause, bei einer Familie so überaus angenehm und behaglich erscheinen läßt. Dieses glückliche Einvernehmen kann nur durch die gegenseitige Liebe erreicht werden; die Liebe ist das Kennzeichen der Kinder Gottes, das Band der Vollkommenheit, die eigentliche Erfüllung des göttlichen Gesetzes.

2. Die Kinder sollen den Eltern mit Liebe und Ehrerbietung gegenübertreten. Es gibt keinen besseren Maßstab für den guten Ton in einer Familie, nichts, das einen angenehmeren und tieferen Eindruck auf jedermann machen kann, als die liebevolle Art und Weise, wie die Kinder den Eltern gegenübertreten. Diese Art und Weise läßt einen sicheren Schluß auf die ganze Erziehung, auf das ganze Leben im Hause zu; sie ist für den kundigen, feinfühlenden Beobachter ein untrüglicher Prüfstein; sie wirkt entscheidend für die Meinung, welche der Fremde von den Eltern, den Kindern und dem Hauswesen mit sich fortnimmt (siehe Abschnitt V, 1 A, »Benehmen der Kinder gegen die Eltern«).

3. Die Kinder sollen die größte Rücksicht gegeneinander beobachten, vornehmlich sei der Jüngling rücksichtsvoll gegen seine Schwestern. Er sei gegen die Schwester gerade so höflich,[45] wie es der Anstand und die gute Sitte gegen fremde Damen vorschreiben. Was er von ihr verlangt, das wünsche und erbitte er und lasse keine Gelegenheit vorbeigehen, sich als liebender Bruder zu zeigen.

4. Die älteren Geschwister seien gegen die jüngeren liebevoll und nachsichtig, ohne dadurch Unarten bei ihnen einreißen zu lassen; sie sollen ihnen mit gutem Beispiel vorangehen, ihnen nicht nur bei ihren Arbeiten, sondern auch bei ihren Spielen leitend zur Seite stehen, und solcher Art sich in ganz vorzüglicher Weise den Eltern nützlich machen und zum häuslichen Glücke beitragen. So vergelten sie ihren Eltern das empfangene Gute und verbreiten durch ihre gesittete Haltung und ihr geordnetes Betragen Freude und Sonnenschein in der Familie.

5. Zur Erhaltung des Anstandes, wie des Friedens im Hause, ist es unumgänglich notwendig, daß die Geschwister unter sich einig sind. Fortwährende Mißverständnisse, Neckereien oder gar Zank dürfen unter Geschwistern nicht vorkommen. Noch weniger aber Neid und Eifersucht; denn dadurch leidet auch die ganze Umgebung.

6. Die Eltern haben die Kinder selbstverständlich zum Anstand und zur Höflichkeit, zur Verträglichkeit gegeneinander zu erziehen und zwar von frühester Jugend an. Das Kind lerne vom frühesten Alter an artig und höflich zu grüßen; man leite sie an, sobald sie älter geworden sind, nie mehr der Mutter oder einer Dame voran[46] aus dem Zimmer oder in das Zimmer zu gehen, man lehre sie richtig essen, kurz man lehre sie alle jene äußeren Formen des Anstandes, die man mit Fug und Recht auch schon vom zarten Alter verlangen kann, man präge ihnen vor allem ein festes, unerschütterliches Pflichtgefühl ein. Nur in einem auf Glauben, selbstloser Liebe, gegenseitiger Achtung und ausgebildetem Pflichtgefühl begründeten Familienleben ist Zusammengehörigkeit; nur hier können die edleren Keime alles Guten und Schönen sich entwickeln, welche auch in weiteren Kreisen segensreich wirken und den wohlthätigsten Einfluß üben; nur in einer solchen Familie ist der Boden, aus dem der wahre »gute Ton«, der wahre Anstand und die wahre Löslichkeit hervorgehen kann und auch hervorgehen muß.

Quelle:
Vogt, Franz: Anstandsbüchlein für das Volk. Donauwörth [1894] [Nachdruck Donauwörth 21987], S. 44-47.
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