A. Benehmen des Gastes.

[116] 1. Der Gast komme nie unangemeldet zu einem längeren Besuche; es grenzt dies an Rücksichtslosigkeit, denn der Gastgeber beziehungsweise die Hausfrau soll genügend Zeit haben, die nötigen Vorbereitungen für Empfang und Aufenthalt zu treffen.

2. Ebensowenig melde er sich ohne weiteres auf der Durchreise »für eine Nacht« an; so ein Besuch erfordert so ziemlich die gleichen Vorbereitungen, wie ein längerer, und es hat dann doch eigentlich niemand einen Genuß davon, wenn alles in der Eile gehen muß. In einem solchen Falle verbringe der Gast womöglich die Nacht im Gasthofe und bringe bei seinen Freunden nur die Nachmittags- oder Abendstunden zu.

3. Angekommen reinigt sich der Gast zuerst von den Spuren der Reise, denn es ist eine einfache Pflicht der Höflichkeit, sich seinen Wirten nicht in einem so ungeordneten Zustande, wie ihn eine Reise naturnotwendig mit sich bringt, zu zeigen, sondern mit der größten Sorgfalt darauf bedacht zu sein, einen netten und sauberen Eindruck auf sie zu machen.[116]

4. Der Gast suche sich genau über die Hausordnung seines Wirtes zu unterrichten und sei stets darauf bedacht, den Wirt in seinen Gewohnheiten und Pflichten so wenig wie möglich zu stören, besonders nicht am Morgen, wo derselbe für sein Gesinde und für die nötigen Beschäftigungen des Tages seine Anordnungen zu treffen hat.

5. Er suche sich während der Anwesenheit im Laufe seines Freundes nützlich zu machen, jedoch ohne dabei unbescheiden und zudringlich zu sein. Es finden sich bei aufmerksamer Beobachtung eine Menge kleiner Verrichtungen, die er dem Wirte abnehmen kann und die ihm selbst zu angenehmer Ausfüllung derjenigen Zeit dienen, welche der Wirt ihm nicht widmen kann.

6. Der Gast tadle nichts, was Wohnung, Nahrung, Bedienung, Pflege betrifft; er halte mit seiner eignen Meinung seinem Wirte gegenüber möglichst zurück, bringe dieselbe womöglich mit der seinigen in Einklang und achte namentlich die religiösen und politischen Ansichten des Wirtes.

7. Er vermeide es, eine Ausnahmestellung in der Familie einzunehmen dadurch, daß er dieses und jenes anders macht als jene. Solange er sich im Hause seines Gastgebers weiß, hat er sich der Allgemeinheit anzuschließen, die eignen Neigungen zu unterdrücken und lieber eine kleine Unbequemlichkeit zu ertragen, als Anstoß zu erregen.

8. Am Abend mache er selbst den Vorschlag, zuerst aufzubrechen, nehme dabei aber Rücksicht auf die Gewohnheiten des Wirtes, die er kennen muß. Er spreche auch nicht allzufrühe vom Aufbruch,[117] dadurch bringt er Störung in die vielleicht belebte Unterhaltung der Familie. Ist er genötigt, sich früher zurückzuziehen, so geschehe es ohne Aufsehen.

9. Er vergesse das Fortgehen nicht und lasse womöglich schon am ersten Tage den Termin seiner Abreise verlauten. Der Gast ist gewöhnlich willkommen, wenn er nicht lange bleibt. Dauert sein Aufenthalt über eine gewisse Zeit hinaus, so fällt er beschwerlich.

10. Bei der Abreise entschädige er die Dienstboten durch ein angemessenes Trinkgeld.

11. Zu Hause wieder angekommen, soll er nicht den Vorwurf des Undanks auf sich laden dadurch, daß er der genossenen Gastfreundschaft vergißt, sondern er schreibe an seinen Wirt einen recht herzlichen Brief, um für die gastliche Aufnahme zu danken. Dankbarkeit ist das Zeichen einer edlen Gesinnung.

Quelle:
Vogt, Franz: Anstandsbüchlein für das Volk. Donauwörth [1894] [Nachdruck Donauwörth 21987], S. 116-118.
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