Über den Verfall der Sitten in Teutschland

1794

[3] Quis, talia fando,

Temperet a lachrimis?


Virg.
[3]


Es ist nimmer zu helfen, wenn dasjenige, was man ehmals für Laster hielt, Sitte geworden ist.

Seneka.
[4]


Savior armis Luxuria incubnit, victumque ulciscitur orbem.

Lucan.


Gerecht und edel, Freund! sind deine Klagen,

Dass in der Menschheit sonnenhellen Tagen

Die freche Dirne Sittenlosigkeit,

Von manchen selbst, die der Aufklärung Orden tragen,

Zur Göttinn eingeweiht,

Durch Teutschlands Gauen auf des Sieges Schwingen rauschet.

In ihres Busens Wellenschlage lauschet

Verzweiflung – Tod in ihres Blickes Feuerglanz,

Und greuliches Verderben in dem Kranz

Von Rosen, den sie um des Thoren Schläfe windet –

Wenn er, von ihrem Flammenaug' entzündet,[5]

Der Zauberinn sich in die Arme wirft,

Und mit geschwinden – heissen Zügen

Die hönnigsüssen Laster schlürft,

Die in der Wollust Taumel – Becher liegen.


O Vaterland! mir rinnt die bittre Thräne

Für deiner Herta Töchter, deines Tuisko Söhne,

Die, hingerissen durch des Beyspiels Meereskraft,

Die ehmals Helden schuf, jezt feige Sklaven schafft,

Der schnöden Modegöttinn jede Tugend zollen.

Ha! Frankenland – des Leichtsinns Schlangen-Nest,

Aus deinem Eingeweide schlich die Pest

Der weibischweichen Sitten in die männervollen

Gefilde Teuts; und ach! der Edelmuth,

Der aus des Teutschen Seele kolossalisch ragte,

Wich mit der Mädchenwange keuscher Glut,

Die jedem Schurken einst den Kuss versagte,

Hinweggeschwemmt vom Strohme der Empfindeley;

Und durch der Mode bange Tyranney,

Die jeden Tugendkeim, dem Wurme gleich, zernagte,[6]

Verwelkten das Gefühl der Unschuld und der Hang

Zu häuslichem Vergnügen, und die bessre Liebe,

Die einst Tusnelda's Herz mit allgewalt'gem Triebe

An Herrmanns Flammenbusen schlang,

Wie die Natur mit mildem Zwang

Des Epheu's Schwacheit um den Stamm der Eiche schlinget.

Als, o Natur! mit Reizen die kein Krösus dinget,

Die Liebe deinem schönen Gang

Noch folgte, warb des Jünglings Feuerseele

Beym zärteren Geschlecht, dass es mit ihr vermähle

Der sanftern, himmelvollen Liebe Glück;

Und schaamhaft, und mit holdem Wider streben

Ergab des Jünglings seelenvollem Blick

Des Mädchens Liebe sich fürs ganze Leben.

Jetzt zucket Lüsternheit aus falschem Mädchen – Blick,

Und blinzelnd giebts der sieche Jüngling ihr zurück.

Die Sittsamkeit, der Unschuld Engelwache, ringet

Nicht mehr mit der Verwegenheit[7]

Des schmeichelnden Verführers. Seine Rede dringet

Wie Balsam in das junge Herz, und ach! der Zeit!

Der Vater ruft dem Sohne nimmer

Die Warnung zu: »Mein Freund! Nicht jeder Schimmer

Ist Goldes Spur – merkts du es nicht,

Wie sich dein weicher Pfad zum Abgrund bricht!«

Und Mütter sehen ihre Töchter, ohne Schauern,

Dem Busen einen Blumenstrauss vertrau'n,

In dessen Mitte Basilisken lauern.

Der Leichtsinn findet nirgend Einen Zaun!

Geschweigt durch der Begierden stürmendes Gewimmel

Verstummet des Gewissens zarter Laut. Wo spricht

Es noch zur Jugend: »Nicht beym lauten Bachusmahl,

Und in der Wollust glatten Armen nicht,

Und nicht in eiteln Prunks hofsärt'gem Gaukelsaal –

Nur in des Menschen Innerm wohnt sein Himmel!«

Selbst diese heil'ge Stimme schweiget – Ach![8]

Mir rollet, Freund! ein heisser Bach

Vom Auge; denn, wo Sie verstummt ist, und der Jugend,

Die zaudernd noch am Scheidewege steht,

Des weisern Alters Stab durch's Dorngefild der Tugend,

Nicht mehr den Pfad zur Wahrheit zeiget, o da gebt

Der allzusichre Staat auf üpp'gen Blumenwegen

Mit schnellem Schritt dem Untergang entgegen!


Ha! Frankreich! – lachend gossest du dein Gift

In Teutschlands Herz, und lachend siehst du nun den Segen,

Der aus gelieh'nem Giftpokale trieft,

Denn Teutsche lachten mit, und tranken – Weh' den Thoren! –

Den süssen Becher, bis sie jeden Sinn verloren

Für Tugend und Religion. –

Zuerst schlich das Verderbniss auf den Tron,

Vom Trone durch die ersten Stufen goss

Sein Quell sich in die naheliegenden Paläste;

Von da ins adeliche Ritterschloss:[9]

Vom Ritterschloss in niedre Hütten, wo die Reste

Des Tugendsinns noch schlummerten, und nun –

Nun seh' ich, Freund! mit schauerkaltem Schweisse,

Des Lasters Fluch auf Teutschslands Volke ruh'n!

So bilden sich im Teich die hundert Wellenkreisse

Um einen Stein, der sich vom Ufer riss. –


Der Etiquette Possenspiel verstiess

Von Teutschlands Höfen jenen Geist der Volkesväter,

Der segnend ehmals über ihren Gauen flog,

Und ihren Arm, als Genius und Retter

Mit Donner rästete, wenn je das Wetter

Des Krieges dräuend an die Gränze zog.

Die offne, holde Freundlichkeit des Fürsten

Verschloss in eines Harems Kerker sich;

Man sah' sein Herz nicht mehr nach Volkbeglückung dürsten,

Und jedes ernstere Geschäfte wich

Dem Hang nach glänzendem Vergnügen

Als Pantheons der Wollust, stiegen

Theater jezt empor; für seinen theuren Schweis[10]

Gab man, um sein Gefühl von Elend zu betriegen,

Das Volk in frecher Musen zauberischem Kreis

Der Natter der Verderbnis preis.

Der teutsche Fürst ward Sklav gebiethender Maitressen,

Da lagen jezt Verdienst und Fähigkeit vergessen.

Der Weise ward verdrängt, der Schmeichler drang hervor,

Nur auf des Gelds, der Gunst und der Kabale Stufen

Schwang man zu Ehrenstellen sich empor.

Ministers – Kreaturen der Maitressen, schufen

Mit Satanslist den Hof zum Paradies,

Und das despotisirte Land zur öden Wüste –

Das Land, das leise murrend seine Fesseln küsste,

Das seufzend seine Henker Väter hiess.

Die Väter schwelgten im Palast; und in den Hütten

Des Landmanns, der den Mächtigen das Brod

Mit saurer Arbeit zollt, lag bleiche Hungersnoth.

Sie predigten dem Volk die Freyheit in den Sitten,[11]

Und zwangen es zugleich in Fesseln ein.

Ihr Machtspruch must' nunmehr Statthalter der Gesetze,

Des Herrschers Wohl des Volkes Götze,

Der Politik Religion die Sklavin seyn –

Der höllischen, die kalt durch's Herz der Menscheit wühlet,

Mit Nazionen, wie mit Kegeln spielet,

Und ihrer dumpfsten Sklaverey sich freut.


Zwar hatte längst der Ahnen Biederzeit,

Die, wenig raisonirend, mehr und weiser wirkte –

Aus kluger Sorg', es möcht die unbezirkte

Gewalt des Herrschenden, vom Hang zur Despotie

Verführt, spät oder früh',

Die Nazion als seinen Knecht behandeln,

Und zwischen ihm und ihr den ungeheuren Spalt

Erbau'n, der Würmer trennt von Gottes Allgewalt,

Um alles Recht in seine höschste Gunst zu wandeln –

Zur Gegenwehr den Volksschutz der mit Harmonie

Und Kraft gerüsteten Vertreter festgegründet;[12]

Nachahmend der Natur erhabene Magie,

Die jede Kraft durch eine andre bindet,

Und weis', durch Alpen dort des Windes Energie,

Und dort des Stromes Drang mit hohen Ufern dämmte.

Auch wich die Herrschsucht oft der Stände Macht,

Die kühn sich ihrer Klauen Griff entgegenstemmte.

Doch – »Trenn' das Volk«1 und »Eile sacht!«2

Dies sind der Politik so hoch berühmte Waffen,

Die sicherer zerstören, als der Donnerkeil,

Als Heereskraft, als alle Mächte, die mit Eil'

Und öffentlich daniederraffen.

Durch sie besiegt, schmolz auch des Volkes Schild,

Erlag der Herrschsucht auch das Ephorat der Stände.

Zwar liess sie noch – sein Schattenbild!

Doch, ha der List! nur sich zum Instrumente,

Um frech dem Schandmahl ihrer Tyranney[13]

Von der Gesetzlichkeit das Siegel aufzulügen.

So ward die Standschaft – Spiegelfechterey,

Dem Volk das Ziel des Fluches und der Höhnerey!

Des Strohmes Ungestüm hier durch die Ufer dömmte.

Mit Frankreichs Sitten früh' die Laster Frankreichs sogen.

Doch, um in seinen Wahn es tiefer einzuwiegen,

Zerschlug, mit frommer Heucheley,

Als ob sie gegen Druck und Unrecht föchte,

Die Herrschsucht jetzt der Stände Vorzugsrechte,

Und sprach: »Vor mir ist jeder Bürger gleich«!

Da segnete der dritte Stand bey jedem Streich,

Der Geistlichkeit und Adel schwächte,

Des Fürsten liebe Popularität,

Die nun die goldne Zeit der Gleichheit wiederbrächte.

So flog, vom Gleichheitsrausch herumgedreht,

Das Volk, als Federball, in die Raquette

Des Despotismus, der bereits die Marionette,

Standschaft genannt, am Gängelbande hielt.[14]

»Wie aber dann, wenn Rache Volk und Stände

Einst gegen Den, der beyden mitgespielt,

Der Lethargie entweckt, mit Löwengrimm verbände«?

Des Despotismus Schädel lief

Der Zweifel ängstigend hindurch, und sich! er rief,

Um Volk und Standschaft aller Thatkraft zu entzieren,

Und beyde völlig zu egalisiren,

Jetzt über sie die Pracht und Ueppigkeit,

Die mit der Hand, die trügerische Rosen streut,

Despotisch Kopf und Herz und Sitten nun regieren.


Des Luxus Florgewand barg jetzt die tiefen Wunden,

Die uns die Willkühr schlug, und Weichlichkeit,

Des Luxus Tochter, hielt mit sanftem Zauberband'

Das Auge des betäubten Volks gebunden,

Das unbewusst am Abgrund stand. –

Die Söhne Teutschlands wurden nimmer teutsch erzogen;[15]

Der Luxus schickte sie nach Frankenland,

Wo sie, den Geist vom schönen Modetand

Leichtfertiger Philosophie betrogen,

Und in der Thorheit Labyrint verirrt,

Recht früh' mit Frankreichs Sitten, Frankreichs Laster sogen.

Auch teutsche Mädchen wurden dort gepflogen,

Und von der Politesse Meissel brilliantirt,

Und kehrten dann – das Köpfchen leer von der für Mütter

Und Gattinnen so nöth'gen Hauskenntniss,

Nur ausmeublirt mit schalem Anstandsflitter,

Voll eitler Sucht das Herz nach falschem Weltfirniss,

Entblösst von Unschuld, in die Fluren Teutschlands wieder,

Und teutsche Frauen wurden – Dirnen – Weint ihr Engel!

So sinkt am welken Stengel,

Vergiftet von des Wurmes stillem Biss,

Der Gärten Stolz, die Frühlingsrose nieder.

Durch's unersättliche Getrieb der Eitelkeit

Dem zarten reinen Glück entrissen,

Das nur im Schooss der Eingezogenheit gedeyht,

Ward das Geschlecht der Weiber von Genüssen,[16]

Die sie vormahls mit Recht den Männern überliessen,

All' seiner sanften Zier entweyht,

Und durch Verweiberung der Männer hingerissen

Verschwand auch alle Männlichkeit.

Doch die von der Natur so schrecklich abgeschweiften

Geschlechter freuten sich, weil wild und unscheut

Der Lüste Horden hin und wieder streiften,

Wie Kinder, ihrer Ungebundenheit;

Von Tugend blieb jetzt an der Anstands glatter Rinde

Nur eine schwache, täglich schwächre Tinte.

Der Aufwand ohne Mässigkeit,

Den Eitelkeit und Schwelgerey diktirten,

Erhob das Geld, hoch über allen Reiz der Würden,

Zum höchsten, allgemeinsten Ziel.

Vor diesem Gott sah' man in scheckigtem Gewühl

Magnat und Fürst und Pöbel niederfallen,

Und Geldgier kratzte jedes edlere Gefühl

Aus ihrer blindgeblendeten Vasallen

Verengter Brust mit ihren ehrnen Krallen.

Rechtschaffenheit galt nun so viel,[17]

Als Thorheit, fail für Geld, nach Otahit3 verstossen,

Entfloh die Freundschaft; nur als Lottospiel

Ward an der Börs' dein Bund, o Hymen jetzt geschlossen!

Die einst des Teutschen Muth zu hohen Thaten schwoll,

Die Ruhmbegier sank allgemein verhöhnet,

Als Kinder-Vorurtheil, und Bürgerwohl

Blieb noch – im Herzen? – Nein! dies war zu voll

Vom Eignen Ich! doch, weil der Klingklang magisch tönet –

Dem Ton zu Lieb auf mancher Lippe steh'n,

Und soll noch jetzt als gute Münze geh'n,

Die jede Schurkerey beschönet.

Auch sah man nun, dem Standesvorurtheil entwöhnet,

Um Einen Schandpfuhl Alle Ständ' sich dreh'n,

Gleich einem Maskenball in bunten Affengruppen. –

Der Adel Deutschlands, einst der eisne Kern der Truppen,

Des Trons und Volks getreue Wache, sank

Zum Soldknecht tief herab, an Geist und Körper krank![18]

Die jungen Ritter wurden Stutzer, art'ge Puppen,

An Kenntniss arm, und ärmer noch an Kraft und Muth.

Von ihrem Adel blieb – ihr Nachruhm wird es melden! –

Ein Stammbaum und ein Rittergut,

Auf dem der Creditoren bange Hoffnung ruht.

Weh', weh' dem Land, das solchen wunderkühnen Helden,

Und solchen wunderweisen Führern sich vertraut!

Der Feldherr wird dem Landmann Geissel, und Verräther

Dem Vaterlande seiner Väter,

Der Richter wird ein Schelm, und der Minister baut

Auf den Ruin des Volks den Gipfel eigner Grösse.

Dann lacht er teuflisch auf die nackte Blösse

Des Unterthans, den, taub für jeden Klagelaut,

Die Härte des Barbaren selbst entkleidet,

Und sein entmenschtes Geierauge weidet,

Beym kalten Schauer der Natur,

Zur Lust sich an den Schandtrophäen, die sich drängen

Auf jammervoller, menschenleerer Flur,[19]

Der seine Staatskunst durch verkaufte Söldner Mengen,

Und durch den Druck der Steuern ohne Zahl

Bevölkerung und Wohlstand stahl. –


Indess' zerstreute der Aufklärung Mittagsstrahl

Die täuschende, geheimnissvolle Wolke,

Durch welche lang die Peiniger dem guten Volke

Entzaubert waren, und – mit Einemmahl

Sank jezt das Dunstgebild vor seinen Augen.

Es sah', dass jene, die der Bienen Honig saugen,

Auch Menschen sey'n, aus Fleisch und Blut.

Da schloss der Klügre: »Seine Majestät der König,

Sind Sie der Beste Mann im Land nicht, sind nur wenig!«

Doch stolzer schien der Pöbel sich zum König gut.

Natürlich! wenn des Königs Wirkungssphäre

Auf die des Raubthiers eingeenget wäre! –

Das Volk sah' im Palast und auf dem Tron'

Kein Fünkchen mehr von Tugend und Religion.

Da hielt es bald dies edle Paar für nicht'ge Grillen.[20]

Nun achtet es nicht mehr der Gottheit Willen;

Und dieses Volk soll Fürsten noch gehorchen? – Nein!4

Ach nein! Es würd' es müsst' sich ihres Sturzes freu'n!5

O Menschenherrscher! seht – wie wenig nützt

Aufklärung ohne Besserung der Sitten!

Wie kalt bleibt nicht das Volk bey euerm Droh'n und Bitten,

Jezt, da der Feind des Fürstenhassés Fahne schwingt,

Und siegend schon auf eure Tronen dringt –

Das Volk, das willig Eure Väter einst beschützt –

Dies Volk wird nie den Angriff eurer Feinde dämpfen,

So lang' ihm noch der Hohn vom Munde blitzt:

»Wie? soll der Sklav' um seine rost'ge Fessel kämpfen?«[21]

So, Freund! so sclich die Pest des Lasters erst hinauf,

Und floss dann wüthend auf des Beyspiels Stufen wieder

Durch alle Reih'n des Alters und der Stände nieder.

Und wer, Geliebter! dämmet ihren Lauf?

Ha! könnt' der Kranke sich, im Fieberwahn'

Vollkommener Gesundheit, selber heilen,

Der Krankheit Quell Genesung uns ertheilen,

Und das aus einem Strohm zum Ozean

Sich bildende Verderben selbst den Damm sich setzen,

Dann wäre Hoffnung! Aber nun,

Da alle sich am Taummeltrank des Lasters letzen,

Nach Einer schlechten Form des Herr'n und Sklaven Thun

Sich dreht, die Höhern nur zur Thorheit höher klimmen,

Und die Regierenden, wie die Regierten auf

Dem Strohme des Verderbens eingeschlummert schwimmen;

Wer widersteht des Siegers wildem Lauf?

Die Kabinette – Sie, des Staatenwohls Sirenen,

Die lachend Recht und Wahrheit höhnen,[22]

Ihr Unrecht noch mit dem Betrug der Menschheit krönen,

Und, da sie mit durchsichtiger Sophisterey

Ihr Wolfsherz in ein Lammsfell einzuhüllen wähnen,

Nur zur Erhöhung ihrer Tyranney

An ihren Wolfspelz noch den Fuchsbalg heften?

Wie hülfe Der der Sittlichkeit zu frischen Kräften,

Der ihre Kräfte selbst, als Meuchelmörder, bricht?6

Die Seelenhirten? – Ach! wie Viele sind der Würde

Des Gottesamtes voll und seiner heil'gen Pflicht!

Ihr Wort beleuchtet zwar der Tugend hohe Zierde,

Doch leider! nur ihr Wort – ihr Wandel nicht!

Und sind nicht, fern vom Beyspiel, schöne Worte

Was Segel ohne Wind,[23]

Was Wolken ohne Wasser sind?

Ja, Freund! nur Thaten öffnet sich des Herzens Pforte!

Und dann, liegt jezt die Geistlichkeit nicht ungeehrt

Und von der Witzwuth überall bekleckst danieder? –

Das Bardenvolk? – o Freund! was könnten seine Lieder

Im Bund der Tugend nicht! – doch ach! verkehrt

Zum Lockton für Cytherens Bundesglieder –

Sind sie jezt noch des Namens: Bardenlehren werth?

Wie gäbe Gnid', der Menschleit die Gesundheit wieder,

Wovon sein süsses Gift den letzten Keim verzehrt?

Die Philosophen? – Ha! wer glänzt mit diesem Namen

In unserm Vaterland? – Der Witz, der Flattersinn,

Die Klügeley, sich fein der Tugend zu entzieh'n,

Die aus dem zweyten Babylon herüberkamen,[24]

Und jene Grübelsucht, die bey dem Lampenlicht

Des Sektengeistes spinnt, und stolz dem Lahmen

Die Krücken seiner Tugend bricht! –

Vom Munde solcher Philosophen trieft nicht Wahrheit;

Nicht Wahrheit ist's, was ihr Buchstabe spricht.

Durch sie wird selbst die Wahrheit Irrthum, und die Klarheit

Der Weisheit wird in ihren Schriften Nacht.

Ihr blendendes Geschwätz, was ist es, als – die Lehren

Der Sinnenlust, in ein System gebracht,

Um den bereits verstimmten Tugendsinn

Mit gleissender Sophistik vollends zu bethören,

Und, statt zur Gottheit sie empor zu zieh'n,

Tief unter's Thiergeschlecht die Menschheit zu entehren?

Und was, das Ding: Metaphysik? –

Ein athemlos Gerippe, das den Blick

Des Unbefangnen nie an sich zu kehren,

Und den ersehnten milden Tag

Der Sittlichkeit heraufzuführen nie vermag?[25]

Von ihren kahlen, unwirthbaren Höhen

Hat Mancher Eitelkeit und Schwindel schon

Geholt, nicht Einer in der Wahrheit Land gesehen!

Nur Zweifel wachsen dort und unbescheidner Ton,

Die Kopf und Herz nicht bessern, nur verwildern.

Die schönen Musen? – Ach! die schönen Musen schildern

In Wollust athmenden, verführerischen Bildern

Den Sieg des frechen Lasters, und ihr Hohn,

Gestempelt von der Mode sittenlosem Siegel,

Trifft Unschuld und Religion –

Die Königinn Religion, den letzten Zügel

Der Leidenschaft, wenn sie auf wildem Flügel

Geblendte Völker in's Verderben reisst –

Religion, die jedem Menschen seine Pflichten,

Und jenen, die sie treu entrichten,

Die Palme der Vollendung weist.

Mit Ihr löst sich das letzte Band der Ordnung auf.

Zerrissen ist's! – der Frevel stürmt im Siegeslauf![26]

Ich seh': Die Nachwelt Teuts, bejocht: durch niedre Lüste,

Und grimmig fluchend jedem Fürstenjoch,

Schwingt der Empörung Fackel hoch! –

Sie zündet rasend das verhasste Prunkgerüste

Des Frankreich nachgeäfften Despotismus an,

Und wird ihr eigener Tyrann.

Dann haschet sie, berauscht von wilden Demagogen,

Nach Freyheit – einem Regenbogen,

Der stets nur auf des Zufalls blindem Fittig irrt,

Wo ihn, im Schoos der Mässigkeit gepflogen,

Der Sitten Reinheit nicht fixirt.

Und taumelt, von der Hoffnung Irrwischschein geführt,

Durch Ströme Bürgerbluts und hunderttausend Wehen,

Um hier dem Schlunde: Despotie,

Der ihr der tiefste dünket, zu entgehen,

Dort in den tiefern: Anarchie!


O Freund! – o Vaterland!

Beym Ahnden dieser grausen Szene[27]

Bebt mir vom Aug' die kummervolle Thräne,

Der matte Pinsel aus der Hand!7


Fußnoten

1 Divide et impera!


2 Festina lente!


3 Eine der Freundschaftsinseln in der Südsee. S. Cooks Reisen! –


4 Versteht sich – So lange und wo das Volk nicht eines Bessern belehrt wird. – Denn Teutschland hat noch vortreffliche Fürsten;


5 Versteht sich – nicht von Rechtswegen, sondern nur der That nach. Von dieser allein ist hier die Rede.


6 Die Immoralität der auswärtigen Politik, wider welche Friedrich II. selbst so sehr eiferte, kann ohnmöglich ohne Einfluss seyn auf die Moralität der Nazionen.


7 Die aufrührerische Stimmung in Teutschland hat zwar, seitdem die Epistel geschrieben ward, im Ganzen ziemlich nachgelassen, weil fremdes Beyspiel und eigene Erfahrung die Unterthanen überführen mussten, dass das, was man in unsern Tagen als Freyheit anpreisst, gar nicht glücklich mache. Jedoch sind wir vor einer gewaltsamen Umwälzung so lange nicht geborgen, als nicht eine gründliche Sittenreform in Haupt und Gliedern geschieht, und auch der Regierende Theil die neueste Zeitgeschichte als Warnung und Lehre für sich selbst betrachten wird.


Quelle:
[Wessenberg, Ignaz Heinrich von]: Über den Verfall der Sitten in Teutschland. [Zürich] 1799.
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