VIII.

Memel.

[104] Ich wurde nun wieder dem Stadtgericht zur unentgeltlichen Beschäftigung überwiesen. Die günstige Zeit für die jungen Juristen war bereits vorüber: sie hatten nach dem Staatsexamen ein paar Jahre auf ihre Anstellung zu warten. Ich verdiente mir den Unterhalt wieder durch Arbeit im Bureau meines Onkels.

Im Frühjahr 1859 erfolgte die Mobilmachung eines Teils der preussischen Armee. Ich wurde als Artillerieoffizier eingezogen und blieb bei der Waffe fünf Monate lang, brauchte aber Königsberg nicht zu verlassen. Erst dieser längere und ernstere Militärdienst machte mich mit den Obliegenheiten eines Offiziers vertraut und überdies sattelfest, sodass ich nun wohl auch im Kriege meine Pflicht hätte erfüllen können. Zu ihm kam es aber damals nicht.

Bis zum Herbst dieses Jahres beschäftigte ich mich viel mit altpreussischer Geschichte. Freund Reicke, Kustos an der Königl. Bibliothek, führte mir bereitwilligst das Material zu. Ich glaubte bald einen interessanten Dramenstoff aus der älteren Ordensgeschichte gefunden zu haben und bemühte mich eifrig um seine Ausgestaltung. So entstand der Plan zu der Tragödie »Der Withing von Samland« auf historischen Grundlagen, aber mit freier Erfindung der Fabel. Es[105] ist mir sehr wahrscheinlich, dass im Herbst der erste Entwurf schon fertig war.

Das Samland ist die zwischen den beiden Haffen gelegene, von den Nehrungen wie von zwei Bändern gehaltene, nordwestlich in die Ostsee vorspringende Landzunge. Es war in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts im Besitze eines streitbaren Volkes, das von kleinen Fürsten, Withinge genannt (Withen-Gothen), beherrscht wurde. Da die Armen das Unglück hatten, Heiden zu sein, und das Verbrechen begingen, nicht sogleich ihren nationalen Göttern abzuschwören und sich zum Christentum zu bekennen, wurden sie von dem deutschen Orden, sobald derselbe die südlicheren Landschaften Preussens unterworfen hatte, mit Hilfe von Kreuzfahrerheeren bekämpft und nach mannhaftem Widerstand besiegt und entwaffnet. Es wird berichtet, dass der Orden und die mit ihm verbündete Kirche die jungen Söhne von preussischen Edlen nach dem Reich habe bringen und auf gelehrten Schulen, namentlich in Magdeburg, im christlichen Glauben habe erziehen lassen, um sich ihrer dann im Kampf gegen die eigenen Stammgenossen als Vermittler zu bedienen. Dies die historische Grundlage. Die Handlung baut sich nun auf der Voraussetzung auf, dass ein fanatischer Mönch das Söhnchen eines samländischen Grossen heimlich entführt und nach Magdeburg gebracht habe, wo es, in Unwissenheit über seine Abstammung gehalten, ritterlich und christlich erzogen ist. Als höchstes Lebensideal schwebt dem jungen Manne vor, in den Orden einzutreten und als Streiter der heiligen Jungfrau Maria gegen die Heiden zu kämpfen. Das Drama beginnt mit seiner Aufnahme in den Orden, welcher in demselben Kapitel einen Kriegszug gegen die Samen beschliesst. Der junge Ritter beteiligt sich bei demselben, gerät in Gefangenschaft und soll auf einem Scheiterhaufen den Göttern geopfert werden. Schon scheint ihm der Märtyrertod gewiss zu sein, den er mutig zur grösseren Ehre Gottes auf sich nimmt, als er durch besondere Schicksalsfügungen von seinen[106] Eltern erkannt und gerettet wird. Der gleichfalls gefangene Mönch, sein Lehrer, legt ein Geständnis ab und fordert den Ritter auf, nun seine Stammgenossen zur Unterwerfung zu bestimmen. In diesem aber lehnt sich das natürliche Gefühl gegen den schändlichen Betrug auf, der ihm gespielt worden. Überdies von Leidenschaft für eine Priesterin ergriffen, die sich des im Kampfe an der heiligen Eiche Verwundeten liebevoll angenommen hatte, tritt er zu seinen Standesgenossen über und bricht das Gelübde des Ordens. Daraus ergiebt sich der tragische Konflikt, welcher sich dadurch vertieft, dass er bald erkennen muss, wie er durch seine Erziehung den Seinen entfremdet, auf eine andere Kulturstufe gestellt ist. Er möchte ihn dadurch lösen, dass er die Samen bewegt, das Christentum anzunehmen und so dem Orden den Grund zu entziehen, sie zu bekämpfen und ihrer Freiheit zu berauben. Bald wird er belehrt, dass diese Stellung ihn nach beiden Seiten hin nicht decken kann. Man nötigt ihn zu einer Entscheidung, die für ihn eine sittliche Unmöglichkeit ist. So bleibt ihm nichts, als sich zwischen die Streitenden zu werfen und den Tod zu suchen.

Das Drama ist fünfaktig und in Jamben geschrieben. Ich halte Stoff und Fabel für echt tragisch. Vom vierten Akt ab lässt vielleicht die dramatische Energie zu sehr nach, der Held wird passiv und die Handlung zerflattert. Es scheint mir der rechte Wagemut für die notwendige Steigerung gegen den Schluss hin gefehlt zu haben. Verbesserungen, an denen ich es bei reicherer Bühnenerfahrung nicht fehlen liess, fand ich leider bisher keine Gelegenheit in einer Neuauflage des Werkchens öffentlich bekannt zu geben.

Im Oktober berief mich der Departementsrat des Oberlandesgerichts zu sich und fragte mich, ob ich ein Kommissorium in Memel annehmen wolle. Dort wäre ein Kreisrichter in Disziplinaruntersuchung, deshalb vom Amte suspendiert, und sollte vertreten werden. Die Beschäftigung könne voraussichtlich[107] mehrere Monate dauern. Obgleich mir keine Aussicht gemacht wurde, bei Vakanz in die Stelle einzurücken, dies auch kaum in meinen Wünschen liegen konnte, da die Seestadt Memel für den teuersten Ort in der Provinz galt, glaubte ich doch nicht ablehnen zu dürfen. Bewährte ich mich hier, übrigens auf einem sehr schwierigen Posten, da ich ein stark verwahrlostes Dezernat vorfinden sollte, so durfte ich hoffen, später mehr meinen Wünschen gemäss berücksichtigt zu werden. Als Reiseentschädigung wurde mir ein Pauschquantum von ganzen zwölf Thalern bewilligt.

Ich packte also meine Tragödie in den Handkoffer und fuhr am letzten Oktobertage über das kurische Haff mit Dampfschiff nach meinem neuen Bestimmungsort. Das Bild der sich endlos hinziehenden grauen Sandberge der Nehrung, in meilenweiten Entfernungen durch ein paar schmucklose Fischerdörfer kümmerlich belebt, an einer Stelle nur, bei Schwarzort, eine Viertelstunde weit mit altem Fichtenwalde bedeckt, steht mir deutlich vor Augen, wie meine Phantasie es damals aufnahm. Eine ganz neue Erscheinung war mir aber auch gegen Ende der Fahrt die lange Reihe von Schneidemühlen am jenseitigen Ufer entlang hinter den Holzgärten der Memeler Kaufleute, deren Holzhandel damals noch sehr beträchtlich war. Mächtige Dreimaster lagen weit ins Haff hinaus vor Anker und nahmen durch eine Luke nicht weit über dem Wasser ihre Ladung von Balken und Planken ein. Dann erschien die freundliche Stadt mit dem tiefeinschneidenden von Schiffen besetzten Hafen und in der Ferne der Leuchtturm mit der hellen Glaskuppel auf der durch eine riesige Steinmole gegen die See hin verlängerten Landzunge.

In Memel war ein Universitätsfreund und Verbindungsgenosse, Gustav Calame, Kreisrichter. An ihn hatte ich mich mit der Bitte gewandt, mir ein Logis zu verschaffen. Er nahm mich an der Landungsbrücke in Empfang und führte mich zunächst nach dem Restaurant von Ephraim, wo die[108] Honoratioren verkehrten. In demselben Hause, wie sich herausstellte, hatte er für mich ein Zimmer zwei Treppen hoch mit freundlicher Aussicht gemietet. Der Preis war erschwinglich, und so blieb ich dort wohnen, solange mein Aufenthalt in Memel dauerte, oft noch spät in der Nacht von dem kneiplustigen Völkchen durch den Kellner ins Restaurationszimmer zitiert.

Ich habe die Stadt mit ihrer nächsten Umgebung später in einem längeren Artikel geschildert, der in das Feuilleton der Berliner Stern-Zeitung aufgenommen wurde. Sie machte auf mich den günstigsten Eindruck wegen ihrer schönen Lage an dem breiten Seetief und wegen ihrer originellen Bauart in den nicht durch die grosse Feuersbrunst vernichteten älteren Teilen und Vorstädten. Die in Zwischenräumen gebauten, einstöckigen Kaufmannshäuser mit Mansardendächern und Vortreppen hatten in ihrer Geschlossenheit für die Benutzung je nur einer Familie etwas Alt-Patrizisches und draussen wieder gab's ebenso einzelne schmucke Häuschen von ländlicher Bauart mit kleinen Gärten rundum, aus denen sich oft ein getakelter Mast mit buntem Wimpel erhob, Wohnungen von kleinen Leuten, die mit dem Seeverkehr in Verbindung standen. Es sah in Memel ein wenig anders aus, als überall, und das, sowie die Erinnerung an Pillau, hatte mir viel Anziehendes. Vom Leuchtturm genoss man eine wundervolle Aussicht über die freundliche Stadt und die sich nordwärts am Seestrande hinziehende Plantage, jenseits des von Schiffen belebten Tiefs über den schmalen Landstreifen der kurischen Nehrung und zu beiden Seiten über See und Haff.

Die Memeler Kaufleute waren nicht reich, aber in manchen Häusern herrschte noch eine alteingewöhnte Wohlhabenheit, die dem Handel verdankt war. Man klagte über dessen Rückgang, da das russische Getreide meist seinen Weg nach Königsberg nähme, das aufstrebende und von der russischen Regierung begünstigte Libau schwere Konkurrenz mache und das Holz in der Nähe der russischen Flüsse[109] schon knapp würde. Aber Memel besass damals noch eine eigene Rhederei von mehr als hundert grossen, meist im Holzhandel beschäftigten Schiffen und durfte sich seines auch im Winter stets offenen Hafens rühmen.

Die Stadt hatte ein Kreisgericht, zu welchem eine Kommission in dem litauischen Marktflecken Prökuls gehörte. Direktor war ein alter Herr, der sich, wie behauptet wurde, in die neue Gerichtsverfassung noch immer nicht recht finden könne und besonders die Schwurgerichte, denen er vorsitzen müsse, als eine schwere Last empfinde. Der älteste Rat, ein Witwer, kam gesellschaftlich nicht in Betracht. Der nächstfolgende, ein alter Junggeselle, namens Burchardi, war seiner korpsstudentischen Manieren und seiner derben Ausdrucksweise wegen beim Publikum gefürchtet, wusste von jedem, der in Memel einen Namen hatte, eine Geschichte zu erzählen, erklärte die Welt für ein Spitzbubennest und schien sich doch in ihr ganz gut zu behagen. Gleich bei meinem ersten Besuch informierte er mich in seiner Weise und empfahl mir zugleich seinen Mittagstisch bei einer Witwe Stelling, wo man billig und gut esse und in »möglichst anständiger Gesellschaft« sei. Der originelle Herr, dem ich zu gefallen schien, interessierte mich, und ich nahm deshalb sein Anerbieten gern an. Wir trafen einander nun alle Tage zu bestimmter Zeit, in der die meisten Gäste schon abgefertigt waren, und machten dann gewöhnlich noch einen Spaziergang nach einem ausserhalb der Stadt belegenen Kaffeehause, so schlecht auch das Wetter sein mochte. Zwei jüngere Richter, Gisevius und Hildebrandt, sowie der Staatsanwalt Dalcke waren verheiratet und öffneten mir ihr Haus. Auch bei einigen Rechtsanwälten verkehrte ich in den Familien. In der Wohnung des einen, die wohl ehedem einem weitgereisten Kapitän gedient haben mochte, waren die Wände einiger Zimmer ganz mit exotischen Landschaften bemalt, der andere war ein lustiger alter Herr, der über seinem Sopha eine Guitarre mit blauem Bande hängen hatte,[110] mit der er in früheren Jahren den Damen Ständchen gebracht haben sollte. Im Laufe des Winters hatte ich Veranlassung, auch dem russischen Generalkonsul v. Trentovius, einem trotz allzu reichlichem Kindersegen immer vergnügten, leicht angeregten Lebemann, sowie in einigen Kaufmannshäusern Besuche abzustatten und lernte dort die ganze Memeler Gesellschaft kennen.

Der Richter, zu dessen Vertretung ich abgeschickt wurde, war ein sehr unglücklicher Mensch, Sohn eines Königsberger Professors, der als ein grosser Sonderling galt und seine Söhne zu Sonderlingen erzogen hatte. Auffallend hässlich, deshalb menschenscheu, mit den Formen der guten Gesellschaft wenig vertraut oder ihnen abstrebend, in eigenen Angelegenheiten ganz unpraktisch, übrigens gutmütig und grundehrlich, hatte er sich in eine junge Dame verliebt und sie lange nur aus der Ferne angebetet. Endlich eröffnete er sich einem Freunde und bat ihn, da er sich selbst zu ungeschickt fühlte, in seinem Namen um ihre Hand anzuhalten. Der Freund sagte zu, überzeugte sich aber bald, dass seine Bemühungen keine Aussicht auf Erfolg hatten, entdeckte aber zugleich, dass sein eigenes Herz Feuer fing und ihm selbst eine Neigung entgegengebracht wurde. Er machte für sich selbst eine Liebeserklärung und ward erhört. Ob er nun seinem Auftraggeber gegenüber nicht ganz ehrlich zu Werke gegangen war, ob dieser ohne Grund vermutete, von dem Freunde hintergangen zu sein, jedenfalls kam es zu einem schweren Zerwürfnis zwischen beiden, das dann auch in das amtliche Verhältnis übertragen wurde. Ein Skandal war unvermeidlich. Alle gütlichen Versuche, ihn zu einem angemessenen Verhalten zu bewegen, scheiterten. Zugleich fing er an, in cynischer Weise seine Person zu vernachlässigen, verfeindete sich mit den meisten Kollegen, von denen er sich verspottet glaubte, und erfüllte auch nicht mehr regelmässig die Pflichten, die ihm sein Amt auflegte. So hatte er sich eine Disziplinaruntersuchung zugezogen, die[111] zunächst die vorläufige Enthebung vom Amt, dann seine Absetzung zur Folge hatte.

Man missbilligte in amtlichen Kreisen allgemein seine Handlungsweise, oft in sehr scharfen Ausdrücken; seine Verteidigung führte allein Rat Burchardi, insofern er die besonderen Umstände, welche die unzweifelhaften Ausschreitungen veranlasst hatten, und den Charakter der Beteiligten in Rücksicht zog. Mir gefiel seine Unparteilichkeit, und ich beschloss, mich auch dem suspendierten Kollegen vorzustellen. Ich fand ihn in der traurigsten Gemütsverfassung und in körperlich verwahrlostem Zustande; die Unterhaltung hatte für mich psychologisches Interesse. Der Eindruck, welchen das ganze Erlebnis auf mich gemacht hatte, war so bleibend, dass sich daraus mit der Zeit der Stoff zu einem Roman entwickelte, dessen Titel »Ein hässlicher Mensch« den Zusammenhang schon erkennen lässt. Erst einige Jahre später freilich ist er aufgeschrieben.

Auch sonst fehlte es nicht an Anregungen besonderer Art. Die Nähe der russischen Grenze machte sich fühlbar. Aus Gesprächen am Ephraimschen Stammtisch, die sich mit Vorliebe in dieser Richtung bewegten, gewann ich einen Einblick in russische Verhältnisse. Die Geschäfte wegen der Zufuhr an Holz, Getreide, Hanf und Theer wurden vielfach durch jüngere Kaufleute jenseits der Grenze abgeschlossen und öfters war später wieder eine Reise zu den Bezugsquellen erforderlich, wenn die Behörden Hindernisse in den Weg stellten oder die Abwickelung der Zahlungsgeschäfte Schwierigkeiten verursachte. Da war so manches Abenteuer unter den russischen Edelleuten, Juden und Polizei- oder Zollbeamten erlebt, und die Erzählungen wirkten als unmittelbare Erlebnisse stets sehr überzeugend, so fremdartig mir auch alle diese Dinge erscheinen mussten. Nicht minder interessant waren aber die immer reichlich zufliessenden Mitteilungen über den Schmuggel längs der russisch-preussischen Grenze. Er wurde damals in grossem Maasstabe betrieben, ein starker[112] Teil der Grenzbevölkerung auf beiden Seiten – hier Litauer, dort Syamaiten im Solde von Juden und, wie behauptet wird, auch von christlichen Kaufleuten – war dabei betätigt, ganze berittene und auch meist bewaffnete Trupps zogen in dunkeln Nächten von den Dörfern aus, häufig genug kam es zu ernstlichen Konflikten mit den russischen Soldaten, welche dann auch dem Gericht zu meist unfruchtbaren Untersuchungen Veranlassung gaben. Die strenge Grenzsperre führte eine Art von dauerndem Kriegszustand herbei, der die schlimmsten Gewalttätigkeiten erlaubt erscheinen liess.

Mit den Litauern kam ich nun als Richter in den engsten Verkehr. Die ganze Landbevölkerung in diesem nördlichsten Winkel Preussens war litauisch, wenn es auch zerstreut einige deutsche Besitzer gab, welche Bauerländereien zusammengekauft und zu grösseren Gütern vereinigt hatten, die sie mit litauischen Knechten und Mägden bewirtschafteten. Ich hatte das Bagatellamt übertragen erhalten und daher selbständig alle Prozesse zu entscheiden, deren Streitwert 50 Thaler nicht überstieg – beiläufig jährlich mehr als viertausend. Bei den meisten waren Litauer als Parteien und Zeugen beteiligt. Es konnte nicht fehlen, dass ich bald einen sicheren Einblick in die gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse dieses merkwürdigen Völkchens gewann, das sich gegen das doch unaufhaltsame Eindringen der deutschen Kultur in die nationalen Gewohnheiten mit zäher Ausdauer wehrte. Sehr oft musste ich durch den litauischen Dolmetscher verhandeln. Als solcher fungierte ein junger Aktuar, namens Herrmann. Er war der Sohn eines seit undenklicher Zeit in dem Marktflecken Prökuls angestellten Gerichtssekretärs, unter den Litauern aufgewachsen und ebenso guter Kenner ihrer Sprache, als Sitten. Von ihm erhielt ich, wie später von seinem Vater, allerhand Aufschlüsse über die Lebens- und Wirtschaftsweise, Gebräuche, Festlichkeiten, Familienverhältnisse und Anschauungen der Leute. Ihre Sprache lernte ich allerdings nicht sprechen und nicht einmal[113] verstellen, – bei oft mehr als zwölf Stunden Aktenarbeit des Tages konnte ich an solche Studien nicht denken – aber da ich mir gern, schon zu besserer richterlicher Information, ihre Antworten möglichst wörtlich übertragen liess, kam ich mit der Zeit doch dahinter, wie sie sich äusserten, und drang so in ihre Sinnesart tiefer ein.

Sobald die aufgehäuften Reste abgearbeitet waren, gewann ich wieder ein wenig Musse und benutzte sie sofort, um meine Tragödie zu vollenden. Im Frühjahr 1860 lag sie in einer sauberen Abschrift fertig vor. Von den Bühnen erwartete ich mir kein freundliches Entgegenkommen. Ich bot sie deshalb Decker an. Im Juli erhielt ich zustimmende Antwort; auf Honorar musste ich freilich verzichten und mich mit einer nicht allzu grossen Zahl von Freiexemplaren begnügen. Das hübsch ausgestattete Büchelchen erschien dann noch im Herbst. Die wenigen grossen Theater, an die ich es versendete, rührten sich nicht; einige freundliche Rezensionen konnten die Kauflust des Publikums kaum stärken. So ist dieses Werk, das wahrlich nicht zu meinen schlechtesten gehört, nur wenigen bekannt geworden und auch später unbeachtet geblieben, nachdem es in Königsberg eine günstige Aufführung erlebt hatte.

Im April wurde die Memeler Richterstelle besetzt. Ein älterer Kollege erhielt sie, der bis dahin bei der Kreisgerichtskommission Prökuls zur Aushilfe thätig gewesen war. Etatsmässig war die Kommission nur mit einem Richter besetzt; die Arbeitslast hatte sich aber längst für ihn zu gross erwiesen, sodass daran gedacht wurde, den Bezirk ein wenig zu vergrössern, dafür aber zwei Richter fest anzustellen. Vorläufig sollte auch weiter ein Assessor kommissarisch dort beschäftigt werden. So unsicher die Aussicht war, so zögerte ich doch nicht, um Übertragung dieses Kommissoriums zu bitten. Ich erhielt es zum 1. Juni und fuhr nun sogleich dorthin, um mich nach einer Wohnung umzusehen, da ich zu heiraten beabsichtigte.

Quelle:
Wichert, Ernst: Richter und Dichter. Ein Lebensausweis, Berlin und Leipzig 1899, S. 104-114.
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