Italien

[157] Mai 1873 bis April 1874


In Neapel löste ich mich von dem Prinzen, nachdem ich einmal seinem Vater, dem Herzog Georg und seiner zweiten Gemahlin, Freifrau von Heldburg, im Museum vorgestellt war. Der Herzog bemühte sich um die römische Tracht, wohl schon in Gedanken an die epochemachende Aufführung des Cäsar durch die »Meininger«, die ich später in Berlin bewundert habe. Dann trat ich in den Dienst von Mommsen, der mit Bardt sein Hauptquartier in Neapel aufgeschlagen hatte. Eben hatte er auf dem Wege nach Camaldoli einen Raubanfall überstanden, aber die geraubte Uhr war ihm von der Polizei zurückgegeben. Der Minister hatte es befohlen, und die Polizei stand ja mit der mächtigen Camorra in geheimer Beziehung. Mommsen sagte mit Recht, »das konnte mir auch im Tiergarten zustoßen; nur würde sich kein Minister darum bemüht haben und wiederbekommen hätte ich die Uhr auch nicht«.

Wir fanden gute Unterkunft in einem Logierhause dicht beim Museum, frühstückten in einem Café reichlich, erst Eier und eine bistecca, dann Erdbeeren. Die bistecca war eine Scheibe Rindfleisch, dünn wie ein Bogen Papier, denn da es an Eis fehlte, mußte das Fleisch frischgeschlachtet gebraten werden. Zur Kühlung der Getränke und der Bereitung des gelato kam alle Morgen eine Flotille von Castellamare herüber und führte den Schnee ein, der in den Schluchten des Monte St. Angelo aufbewahrt ward.

Um 8 Uhr öffneten sich die kühlen Hallen des Museums, in dessen Oberstock sich die Bibliothek und die officina dei papiri befand. Meine bescheidene und langweilige Aufgabe war es, die Zeitungen und manches aus der Lokalliteratur für die lateinischen Inschriften zu exzerpieren. Oft entschlüpfte ich zu den Papiri10, noch lieber ins Museum hinunter, denn die Arbeitszeit mußte voll ausgenutzt werden. Danach ging es zu einer Siesta und stillem Lesen nach Hause; der Hunger regte sich schon. Er mußte sich gedulden; erst führte noch eine carozzella zum Bade nach der Villa Reale, wo die Italiener sich über unser Schwimmen verwunderten; die Neapolitaner gingen damals überhaupt noch wenig ins Wasser. Erst gegen Sonnenuntergang ging es zu reichlichem Male und kräftigem Trunke in die giardini di Torino. Nur Mommsen arbeitete dann noch. Er schickte Bardt und mich auch einzeln[158] in die Umgegend, um Inschriften nachzusehen11. Ein Besuch der furcae Caudinae mißlang; Regen zwang dicht vor dem Ziele zur Umkehr. Über Puteoli bin ich einmal (wohl allein) nach Cumae gegangen; die alte Griechenstadt zog unwiderstehlich. Mein Eindruck von der Öde entsprach dem Goethischen »Wanderer«, der zufällig Cuma nennt. Jüngst hatte der Direktor des Neapler Museums Maiuri die große Freundlichkeit, mir Cumae zu zeigen, wo er die imponierende Sibyllengrotte freigelegt hat. Jetzt bedecken herrliche Weinberge das Stadtgebiet, aus dem die Burg kahl emporragt. Rings wohlangebautes Land, auf das Meer zu erst ein breiter Streifen Hochwald, dahinter der sandige Strand, keine Spur von dem Hafen; er war wohl schon versandet, als die Römer Dikaiarcheia Puteoli zu dem Welthafen machten, der nun nach Neapel gerückt ist. Einmal hatte ich auch einen Auftrag des Institutes auszuführen, in Curti bei Capua das merkwürdige Heiligtum einer mütterlichen oskischen Göttin zu besichtigen und darüber im Bullettino zu berichten.

Der Verkehr mit Mommsen gipfelte in einer Fahrt nach Lucera und Venosa, an der ich neben dem Führer, dem Direktor der Bildergalerie des Museums, Salazar, teilnehmen durfte. In Lucera ließ sich die archaische Inschrift 4912 Dessau nicht finden, was schon Mommsens Zorn erregte. In Venosa waren die Steine, die er einst abgeschrieben hatte, teils verkommen, teils verwahrlost, so daß der Sindaco, der in weißer Weste zu ehrerbietiger Begrüßung erschien, die Kritik bekam »voi volete essere la città di Orazio, siete la città dei porchi«. Ein feierliches Frühstück im Rathause schlug der Meister aus, nahm nur eine Zitrone gegen den Durst an. Seine Begleiter fanden den Entschluß, mit den Venusinern den eigenen Magen zu strafen, etwas hart. Als wir am Abend vorher spät in einem elenden Albergo untergekommen waren, gab es außer trocknem Brot und gutem Wein nur ein Kuheuter in Essig, das sich beim besten Willen nicht kauen ließ. Das Schloß Friedrichs II. in Lucera zu sehen war schon eine Überraschung gewesen. Unvergeßlich war die Wagenfahrt über Canosa und das Schlachtfeld von Cannae. Rings[159] umgaben uns Feuer, in denen das Stroh der abgeernteten Äcker aufging, damit die Asche sie düngte. So erklärte der kundige Begleiter und rühmte, daß die Zahl der Schafe, die unter den Bourbonen im Winter auf diesen Äckern, im Sommer in den Abruzzen gehalten wurden, schon um Tausende abgenommen hätten. Die Italia una sollte mit dem Ackerbau den Wohlstand zurückführen, den wohl schon der römische Senat durch die Vernichtung der Samnitenherrschaft zerstört hatte. Wertvoller als alles dies war für mich, daß sich nun ein vertrautes Verhältnis zu Mommsen ergab; es ward vielerlei über römisches und griechisches Staatswesen verhandelt; auch von seinem Plane, die Römische Geschichte fortzusetzen, sprach er eingehend. Mit der Hof- und Senatsgeschichte in der Weise des Tacitus müsse aufgeräumt werden. Er würde nur noch Dynastien unterscheiden, danach den Stoff abgrenzen. Hervortrat die schwere Ungerechtigkeit gegen Augustus, die er nie überwunden hat. Sie gehörte zu der Vergöttlichung Cäsars, auf der die künstlerische Wirkung der römischen Geschichte wesentlich beruht. Es ist spaßhaft, wie heutzutage Literaten, die von der Sache nichts verstehen und von dem Fortschritte der Forschung keine Ahnung haben, so tun als könnten sie erst mit ihrer Rhetorik dem Cäsar gerecht werden, und hängen doch von Mommsens Cäsar ab, an den längst kein wirklicher Historiker mehr glaubt. Aber das blöde Publikum bewundert das Brillantfeuer der Wortkunst, ganz wie im zweiten Jahrhundert n. Chr. Das rechnen wir dort für ein Symptom des Verfalles. Auch über die Poeten der Kaiserzeit gab er sein Urteil ab, zum Teil sehr befremdend. Eigentlich mochte er nur Horaz und natürlich Petron.

Als Mommsen abreiste, zogen Bardt und ich nach Pompei, wo wir Mau trafen. Trotz der Hitze war die primitive Existenz im Sole mir geradezu eine Wonne. 41/2 Lire den Tag war so gut wie geschenkt; dabei durfte von dem niemals zugemessenen Weine auch ein Besuch aus Neapel, etwa der freundliche G. de Petra, später Direktor des Neapler Museums12, mittrinken. Gegessen ward in einem Hinterzimmer: das Gastzimmer gehörte den durchreisenden Inglesi; die mochten 10 Lire für ein Pranzo bezahlen, bekamen aber erst, nachdem für uns serviert war. Die Flöhe waren allerdings ungezählt, und was als Insektenpulver in Neapel feil war und polvere Prussiano hieß, machte ihnen keinen Eindruck. Unser Wirt Nicola wußte aber, wie man sie mit Erfolg jagt: man legt sich nur mit einem Strumpfe bekleidet auf[160] das Bett: bald sammeln sie sich in dem Strumpfe und man bringe sie einzeln um13. In der langen Siesta der heißen Stunden war Zeit genug, denn ganz früh ging es in die Stadt, zur colazione zurück, erst gegen 5 Uhr wieder hinein. Wir waren im Besuche ganz unbehindert, denn durch Mommsen waren wir Fiorelli vorgestellt, zu dessen großzügiger Verwaltung es stimmte, uns bei Tag und bei Nacht in Pompei jede erdenkliche Freiheit zu gewähren, so daß uns die Wächter beinahe als Vorgesetzte betrachteten. Es stand damals ein Haus für wissenschaftliche Arbeit in der Stadt, auch mit einigen Büchern. Dort liebten wir bei Nacht zu sitzen oder durch die Gassen zu schlendern, wenn der Mondschein auf die Ruinen so belebend wirkte wie auf der Burg von Athen oder wie die Fackelbeleuchtung der Statuen im kapitolinischen Museum. Wenn eins gespenstisch genannt werden durfte, war es nur das Letzte. Fiorelli war ein imponierender Mann, zum Gebieter geboren, ohne viel Rücksicht. Es ist schon glaublich, daß er Briganten zu Wächtern geworben hatte: energische Kerle waren sie und gewohnt, einem Führer, wenn er danach war, unbedingt zu gehorchen. Aber auch als Gelehrter ist Fiorelli Bahnbrecher der wissenschaftlichen Studien in Pompei, durch eigene Beobachtung, durch die Veröffentlichung der alten Ausgrabungsberichte und nicht zuletzt durch die Erlaubnis, die er R. Schöne und Nissen zu ihren Studien gewährt hatte, die erst später in Nissens großem Werke ans Licht traten. Nun war Mau eben am Werke, durch die Unterscheidung der vier Stile auch die Malerei dem geschichtlichen Verständnis zu erschließen. Er hatte die wichtigsten Gedanken gefaßt, als wir zu ihm kamen, trug sie vor und ließ uns an dem Fortschritte seiner Erkenntnis teilnehmen. Auch suchen durften wir, ob sich nicht hier oder da unter späterer Übermalung eine frühere zweiten Stiles erkennen ließe. Glücklich war ich, als ich in der casa del labirinto so etwas bemerkt hatte. Mau war ein ganz anderer Mensch geworden, gesund, gesprächig, mit leuchtenden Augen. In Rom verschloß er sich wieder. Unverkennbar war, daß er sich Pompei für das Leben geweiht hatte, mit dem sein Name für immer verbunden ist.

Mit Bardt habe ich Ausflüge nach La Cava, Paestum, Sorrent, Capri gemacht. Paestum war noch schwer über Eboli zu erreichen, wo wir bei den[161] Offizieren eines Kavallerieregimentes freundliche Hilfe fanden. Capri war im Sommer still, aber die durch den Besuch der Fremden verdorbene Bevölkerung hat mir die Insel verleidet. Eins haben wir gewagt, was wenigen gelungen sein mag, in der blauen Grotte gebadet, zum Ärger für den Alten, der den Besuchern die Lichteffekte an seinem Körper vormachte. Empfehlen kann ich den Versuch nicht; wir kamen arg zerschunden mit Mühe in das Boot zurück, und es gab mehr unliebsame Erlebnisse. Was man auf der Insel und von den Bootsleuten erfuhr, war nicht erfreulich. Man muß wohl so lange wie Norman Douglas unter dem Volke gelebt haben, um Eindrücke zu gewinnen, wie er sie anziehend (trotz dem Abstande, in dem sich der Engländer immer hält), in seinem Büchlein »In Sirens land« niedergelegt hat. Immerhin waren wir so weit, uns in Pompei mit den Nachbarn des Sole zu unterhalten, Klagen über die grausamen Zustände zu hören. Die fleißigen Bauern hatten kein Eigentum und konnten vertrieben werden, sobald der Pächter mit der Zahlung im Rückstand blieb oder der Verpächter einen Wagehals fand, der mehr bot. Das wagte wohl ein junger Bursche, um eine rüstige Braut heimzuführen. »Es geht auch zuerst gut, aber die Kinder kommen, die Frau wird krank, das Elend ist da«. So viel lernte man, daß Campanien nicht ein Paradies der Faulen, sondern terra di lavoro ist. Ich bin mit den lustigen Neapolitanern immer gut ausgekommen; wie überall muß man sich nur den Landessitten anbequemen. Wie es jetzt steht, weiß ich nicht. Das neue Pompei mit seinem einträglichen Aberglauben war zum Glück noch nicht entstanden.

Auf den Vesuv bin ich allein geritten, weil Bardt plötzlich unwohl ward. Um 3 Uhr nachts stieg ich zu Pferde; der Führer ritt nun das für Bardt bestimmte Pferd, so konnten wir rasch traben. Es ging herrlich durch die kühle Nacht, nachher gemächlich den Berg empor, von der Südseite, wo die Fremden nicht gehen. Unter dem Aschenkegel hörte jeder Weg auf, der Führer blieb mit den Pferden zurück. Ich watete durch die lockeren rapilli und die Asche empor; das Ziel leuchtete ja. Oben machte der Einblick in den feurigen Schlund keinen besonderen Eindruck; das hatte man sich so gedacht. Um so großartiger war es, als im Nordosten die ersten Strahlen aufzuckten und die dichten Wolken oben am Himmel beleuchteten. Morgenwind hob sich. Als der Sonnenball aufstieg begann ein Kampf. Die Wolken waren tagsüber aus dem Meer emporgestiegene Dünste: gegen sie stritt die Sonne. Sie wogten droben unter wechselnden Windströmungen. Eine Weile war unten alles von Nebelschwaden verdeckt, denn tiefer und tiefer sank das Gewölk, näher und näher trieb es die Sonne dem Meere zu; schließlich versank es.[162] Strahlend lag die ganze Landschaft, als ich rasch den Kegel herab sprang. Bardt saß beim Frühstück, als wir herantrabten. Ein großartigeres Schauspiel der Natur habe ich nicht gesehen, kürzlich in Kyrene das gleiche Phänomen bei Sonnenaufgang, aber die Höhe, die Gebirge ringsum, in der Tiefe die See, nicht zuletzt die völlige Einsamkeit und Öde wirkten ganz anders zusammen. Helios offenbarte sich als Titan.

Bardt war von Mommsen ausersehen, die Inschriften von Sizilien und Sardinien zu bearbeiten, hatte halb zugesagt, verzichtete jedoch und zog heim, zunächst um zu heiraten. Auch ich ging zurück, erst in das nun einsame Rom, einiges in der Stille zu erledigen, dann in das ebenso einsame Florenz, wo es Bibliotheksarbeit gab, trotz der Hitze genußreiche Wochen. Für eine Lira konnte man in einem Sommertheater mancherlei mit der den Italienern eingeborenen mimischen Kunst dargestellt sehen, kleine zierliche Verskomödien von Giacosa, und was ich theoretisch bei Lachmann gelernt hatte, praktisch erproben, daß erst der richtige Vortrag italienischer Verse die echt lateinischen mit ihren vielen sog. Elisionen verständlich und genießbar macht. Wie sie in Deutschland gewöhnlich durch Unterdrückung einer Silbe gesprochen werden, ist unausstehlich. Aber auch den Hamlet gab es, einen seltsamen Hamlet, der die arme Ophelia mit wilden Schritten umkreiste und ihr wiederholt auf die Schulter klopfte und rief: »geh ins Kloster«, offenbar zornig, weil sie immer noch dastand. Am Schlusse, als die Bühne voll von Sterbenden lag, kam der Geist und hielt jedem seine Sünden vor, für die sie nicht nur sterben, sondern in der Hölle büßen würden. Hamlet der Sohn fragte: »Was ist meine Strafe?« Antwort: vivrai. Da fiel der Vorhang und stürmischer Beifall folgte. Um der poetischen Gerechtigkeit zu genügen hat man, wenn ich nicht irre, auch in Deutschland einen ähnlichen Schluß angeflickt. Übrigens gestehe ich, daß ich den letzten Akt, vom Totengräber abgesehen, auch nicht vertragen kann.

Dann holte ich Bologna (wo die Ausgrabungen noch nicht begonnen hatten, S. Petronio im Umbau und daher unzugänglich war), Modena, Parma, darauf umkehrend Ravenna, Rimini, Cesena nach. Die Erweiterung des künstlerischen Horizontes war beträchtlich. Von Correggio soll man nicht reden, wenn man Parma nicht kennt, und wenn man es kennt, wird man ihm seinen Ehrenplatz nicht mißgönnen. In Modena erschütterten die bunten Tonfiguren des Mazzoni klassizistische Vorurteile, denn es half nichts: auch diese Kunst mußte anerkannt werden. Heute mag man lächeln, daß es einen Kampf kostete; wer sich in die Zeit versetzt, wird begreifen, daß ich froh bin, ihn bestanden zu haben. Vollends Ravenna: auf dieser byzantinischen Insel[163] betritt man eine andere Welt und ahnt Größe, auch wenn diese Formensprache beklemmend, nicht befreiend wirkt. Damals kannte ich die zugehörige Poesie noch nicht; wieder hat man beide nötig, um jedes von beiden voll zu würdigen; Predigten und christliche Hymnen gehören auch dazu, aber auch die Anecdota Prokops. Nach Cesena trieb mich die Bibliothek der Malatesta. Wieder einmal war der Bibliothekar in campagna; ich bekam aber für kurze Zeit Zutritt, sah mehrere Handschriften an (Platon, Demosthenes, aus dem ich die solonische Elegie abschrieb); nichts konnte reizen. Anders war es in Modena gewesen. Da griff ich zuerst nach dem alten Codex der Kirchenväter, in Wahrheit einer Abschrift des Pariser, was noch unbekannt war. Scholien zu Clemens schrieb ich ab, verlorne Mühe. Ein guter Fund war die Handschrift der Hymnensammlung, aus der ich Homer und Kallimachos zum Teil verglich; um es für den letzteren zu vollenden, bin ich im folgenden Frühjahr zurückgekehrt. Etwas Großes wähnte ich für die kleinen Schriften des Xenophon gefunden zu haben. In der alten Politie der Athener gab es eine Menge Varianten, die den Text glatter machten. Da Kirchhoff eine Ausgabe vorbereitete, teilte ich ihm Proben mit, erhielt aber umgehend die mitleidlose Kritik, daß ich mich durch Humanisteneinfälle hätte täuschen lassen. So war's; ich sah es sofort ein. Daß Jahrzehnte nachher ein Verteidiger dieser Überlieferung auftreten könnte, war mehr als ich erwartete, und da wird eine solche Ausgabe gar noch ernst genommen. Eine gute Folge war, daß ich zunächst für Kirchhoff in Rom die Xenophonhandschriften aufsuchte und verglich, auch sonst mich mit Xenophon abgab, wenn ich's auch nicht verwertet habe, außer daß ich in Berlin Zurborg bei seiner Ausgabe der Πόροι half. Zur Warnung gestehe ich wieder etwas Beschämendes: unter meinen Auszügen steht eine Beschreibung des Vaticanus 1950, es wird auch aufgeführt Ἐπικούρου προσφώνησις; also ich hatte in der Spruchsammlung, die Usener bald darauf herausgeben konnte, einen köstlichen Fund in der Hand und ließ ihn mir entgehen. Wer weiß, ob ich beim raschen Einsehen in sehr viele Handschriften nicht mehr der Art begangen habe. Praktisch ist bei der Bibliotheksarbeit des nächsten Winters nichts herausgekommen. Sehr viele Scholien zu Thukydides aus dem Vaticanus B (später auch in Florenz aus C), habe ich abgeschrieben; von Aristeides Text und Scholien geprüft u. dgl.; nichts damit angefangen. Am besten war es, wenn ich Aufträge ausführte, so für Müllenhoffs Germania antiqua, für die ich schon in Neapel die Germania des Tacitus verglichen hatte. Mir von diesem in seiner Schlichtheit imponierenden Manne Dank zu verdienen, war mir eine große Freude; ich habe[164] ihn später auch persönlich so weit kennengelernt, daß der Eindruck lebendig geblieben ist. Für die griechische Philologie ist in jenen Jahren kaum etwas herausgekommen, das sich mit dem messen könnte, das im ersten Bande seiner deutschen Altertumskunde steht.

In Rom nahm das Leben denselben Gang wie im vorigen Winter, in der Ragazzeria war es für mich noch reicher. Robert kam als Stipendiat, wir zogen in einem Hause an piazza Montanara zusammen, Kaibel zog zu uns, als er aus Griechenland zurückkam, und dieses enge Zusammensein und Zusammenarbeiten14 ist uns allen eine der glücklichsten Zeiten geblieben. Robert nahm erst jetzt die entschiedene Wendung zur Archäologie, er durfte sich des Erfolges seiner Apollodorarbeiten freuen und belebte allgemein durch das Gefühl des eigenen Könnens und Strebens neben einem naiven Glücksgefühl, sich frei nach der eigenen Neigung bewegen zu dürfen. Kaibel brachte eine Fülle von neuem Wissen mit und war uns dadurch überlegen, daß er noch eine andere große Aufgabe übernommen hatte, die Sammlung der griechischen Inschriften von Italien und Sizilien. Dazu hatte ihn Mommsen geworben, ein Beweis von Vertrauen und Wohlwollen, das ihn heben mußte. Er hatte alle schüchterne Zurückhaltung verloren, fühlte sich im römischen Leben mehr zu Hause als wir, wozu beitrug, daß er auch über die Tagespolitik für deutsche Zeitungen schrieb, um des Geldes willen; im Grunde war er unpolitisch. Wie viele Abende haben wir bei dem billigen vino dei castelli lange zusammen gelesen, über die neuen Epigramme gesonnen, die Kaibel mitgebracht hatte, leidenschaftlich über alle möglichen Fragen der Wissenschaft und des Lebens disputiert. Es ergab sich eine Gemeinsamkeit in entscheidenden Überzeugungen, die wir in unsere Lehrtätigkeit und wissenschaftliche Haltung mitnahmen. Hinzu kam Friedrich Leo aus Bonn, mit Kaibel schon befreundet, was unsern nahen Verkehr begründete. Er war wohl schon als Kind im Elternhause, dann weiter in Göttingen und Bonn sehr verwöhnt worden und kam sich fertiger vor als er war. Seine Dissertation gehörte noch zu der Sorte, in der die Methode durch Zerstörung eines Kunstwerkes ihren Triumph feiert. Meinen Widerspruch hatte ich ihm schon schriftlich ausgesprochen, und er richtete sich eben gegen diese Methode überhaupt. Da waren also Gegensätze und es ging ohne scharfe Auseinandersetzungen nicht ab. Aber gerade dadurch begründete sich eine enge Freundschaft, denn es war ihm mit der Wissenschaft und[165] dem Leben ernst und er hatte die Kraft auch den Ansatz zur Selbstgefälligkeit zu überwinden. Wir waren nun vier, die immer zusammenlebten, Mau war auch ein lieber Gefährte, zu Henzen und namentlich zu Helbig war die Beziehung nahe. Das Weihnachtsfest verlief nicht minder glänzend als das vorige; Leos Gedichte schossen den Vogel ab. Einer Erweiterung unseres Kreises bedurften wir kaum. Daher ist uns Wilhelm Meyer nicht nahe getreten, wenn wir auch im Gabbione zusammenkamen, in der Bibliothek auch, und auf manchen Spaziergängen. Er war unheimlich fleißig, ganz von handschriftlichen Forschungen eingenommen; aber es imponierte nicht nur, daß er sich ganz durch unbeugsame Energie emporgearbeitet hatte, sondern der Mann in seinem manchmal unbeholfenen, aber sicheren und lauteren Wesen hat mir wenigstens starke Achtung und eine vielleicht noch nicht ganz bewußte Zuneigung eingeflößt. Ich mußte ihm gut sein, auch wenn er abstieß. Auf einige Wochen erschien Usener, den wir aber nicht viel sahen. Ich erinnere mich einer Wanderung nach Tivoli in großer Gesellschaft, an der er teilnahm. Herrliches Frühlingswetter, frisches Grün und manche Blume auf der sonst öden Campagna, wechselnde Blicke auf die Sabinerberge, Schnee auf Monte Gennaro. Es war wohl an der Zeit, sich der Natur hinzugeben. Usener ging mit Wilhelm Meyer fürbaß und weiter vertieft in die Besprechung von mittelalterlichen Lexika und anderen Codices, während wir andern bald auf einen Hügel sprangen, bald ein verfallenes Grab besichtigten, an den Anioübergängen gern Halt gemacht hätten. Da empfand ich einen Gegensatz zu Usener. W. Meyer war ein Naturfreund, also auch nicht auf seine Rechnung gekommen, war auch ein gewaltiger Fußwanderer. Er stürmte weiter auf die Berge zu, als wir in Tivoli ankamen. Wir saßen längst beim Weine, die Sonne war längst untergegangen, da kam er erschöpft und erfrischt zugleich zurück und holte befriedigt das überschlagene Mittagsmahl mit dem Abendbrote nach.

Es war einer meiner letzten Ausflüge. Die Krankheit meiner Mutter zwang zur Heimkehr. In meinem Plane hatte der Besuch von Sizilien gelegen, wohin ich nie gekommen bin. Daher habe ich zwar aus allen anderen Büchern des Thukydides größere Stücke in den Vorlesungen erklärt, aber gerade die schönsten Bücher vermieden, denn ohne eigene Kenntnis von Syrakus und seinen Umgebungen mochte ich es nicht tun. 1927 bin ich wenigstens in dem Hafen gewesen und in flüchtiger Fahrt auf den Euryelos gelangt; das hat mir bestätigt, daß der Verzicht berechtigt war. Denn mit der grammatisch-stilistischen Erklärung die Studenten abzuspeisen hat mir nie genügt, und ein Historiker muß selbst auch einer historischen Kritik unterworfen[166] werden. So wie Peter den Tacitus behandelte, war es für Schüler vortrefflich, aber eine richtige Interpretation müßte zu einer Rechtfertigung des Tiberius führen.

Der Aufbruch von Rom fiel leichter, weil zunächst Klügmann und Leo mitkamen. Terni mit den Wasserfällen, Perugia, Orvieto sollten noch besucht werden. In Perugia kam man zwischen 3 und 4 Uhr nachts an, fuhr hinauf, lief den ganzen Tag herum und mußte vor Tagesanbruch aus den Betten, um über Orte nach Orvieto zu fahren. Dort war der Dom und Luca Signorelli noch ein ganz großer Eindruck; Michel Angelos Jüngstes Gericht hat für mich das archaische des Camposanto in Pisa und Signorelli nicht erreicht, geschweige verdrängt. Als ich mir Photographien kaufte, bemerkte ich das Fehlen des Brustbeutels mit meiner ganzen Barschaft für die Heimreise. Offenbar hatte ich ihn in der Ermüdung am Abend vorher abgestreift und im Dunkel des Morgens vergessen. Sofort fuhr ich zurück, kam spät abends in Perugia in das Hotel. Derselbe alte Diener machte mir in demselben abgelegenen fensterlosen Nebenzimmer das Bett. Alles schlief. Er mußte das Geld gefunden haben. Ich fragte, er leugnete, aber so, daß ich nicht zweifelte. Ich versprach 50 Lire, ich schilderte, was der Verlust des Reisegeldes mir bedeutete. Keine Antwort, aber er kam mit der Zurichtung des Bettes nicht vorwärts. Offenbar war ihm nicht wohl. Sollte ich ihn packen, Gewalt versuchen? Ich bot ganz ernste Beredsamkeit anderer Art auf. »Wie dem Menschen wohl zumute sein wird, wenn die Reue kommt, wenn er zur Beichte gehen soll, auch dort schweigt, und dem Jüngsten Gerichte entgegengeht, denn die Absolution kann er ohne Beichte nie erreichen. Wie anders, wenn er das Gefühl einer guten Tat hat.« Da wandte er sich um und sagte tonlos l'ho io, lo cercheró. Nun vertraute ich ihm, ließ ihn gehen, er brachte den Beutel, bekam seine 50 Lire, und ich konnte mit dem Nachtzuge abfahren, der uns zwei Tage vorher nach Perugia gebracht hatte. Als die Gefährten am Vormittage in Florenz eintrafen, empfing ich sie am Bahnhof und erzählte. Leo hat sich die Einzelheiten besser als ich eingeprägt, wiederholte sie gern und half meiner Erinnerung auf.

Rasch mußte ich weiter, mußte nur noch in Venedig, Modena, Mailand einiges erledigen. In Venedig wußte ich kein Albergo, ging törichterweise in ein österreichisches, bekam ein abscheuliches Loch und erkrankte an überaus heftigem Fieber. Tagelang habe ich ohne Wartung und Nahrung gelegen; der Arzt gab nur starke Chinindosen; schreiben konnte ich nicht. Aber es ging vorüber. Als ich zum ersten Male zu dem entfernten Postamt ging, um nach Hause zu telegraphieren, war ich so schwach, daß ich mich[167] auf die Stufen jeder Brücke setzen mußte, um Kräfte zu sammeln. Die Arbeit in Venedig ließ ich fahren, zwang mich, das andere doch noch abzuschließen; erst als ich die Alpen hinter mir hatte, schwand das Gefühl der Krankheit. Ohne Aufenthalt ging es nach Hause, zum erstenmal mit der Eisenbahn von Bromberg nach Inowrazlaw, wo ich meinen Bruder und seine Frau in einem neuerworbenen Hause antraf. Sie waren glücklich in der jungen Ehe, da ihr Knabe die Cholera ohne Schädigung überstanden hatte. Aber in Markowitz war das Wiedersehen erschütternd. Es war keine Hoffnung, daß meine Mutter von ihrem Schmerzenslager aufstehen könnte. Aber ich kam nicht zu spät, und es war gut, daß ein neuer, unverbrauchter Pfleger hinzukam.

10

Zu wirklicher Arbeit konnte es nicht kommen; man bekam nur wenig in die Hand und ich war auch unvorbereitet. Ein Euripidesvers Hermes XI, 301.

11

Einmal stand Bardt hoch auf einer Leiter, wir mußten uns laut besprechen. Die Menge unten stritt sich darüber, wo wir her waren; Aussehen und Sprache wollten nicht übereinstimmen, also entschied ein weiser Mann: sono Inglesi, ma parlano Francese. Unser Italienisch trug uns mehrfach die Ehre ein, für Piemontesen gehalten zu werden. Der Stimmung der Zeit entsprach es, daß man als Prussiano überall mit achtungsvoller Freude begrüßt ward; Tedesco soll man auch heute nicht sagen: das bedeutet Österreicher. Vor allem die italienischen Offiziere fühlten sich geradezu als unsere Kameraden. Als deutsches Papiergeld das preußische ersetzte, wollten die Wechsler es zuerst nicht nehmen: non é prussiano.

12

Von einem anderen Neapler Archäologen, der später über Pompei gearbeitet hat, sei ein bezeichnendes Wort festgehalten: »der Archäologe braucht Latein und Deutsch e del Greco si passa«. Ich fürchte, das Letzte sagen oder denken doch auch deutsche junge Archäologen.

13

Einen wichtigeren Rat will ich nicht zurückhalten. Die Hitze führt für Nordländer sehr leicht zu Dysenterie, die oft genug gefährlich, durch nordische Behandlung tödlich wird. Ich war in Pompei schon so geschwächt, daß ich den Weg nach Torre Annunziata nicht zu Fuß machen konnte, befolgte aber das Hausmittel des Wirtes und aß dort, wo es erst erreichbar war, recht viel ganz hartgefrorenes Gelato. Das half sofort durch die Abkühlung des Magens und der Därme.

14

Unter anderem lasen wir den Ödipus auf Kolonos, und ich verbesserte Vers 1583, womit das Verständnis der Tragödie in einem Hauptpunkte erreicht war. Veröffentlicht habe ich es 1917.

Quelle:
Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Erinnerungen 1848–1914. Leipzig 1928, S. 157-168.
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