VII. Privatdozent
Berlin, Herbst 1874 bis Ostern 1876

[168] Der Sommer verging in Markowitz über der Pflege und dem Tode meiner Mutter und der Abfassung meiner Habilitationsschrift. Wie es mit einer Universitätslaufbahn geht, übersah zu Hause niemand; die Unsicherheit schreckte, und zu den Beängstigungen der Kranken gehörte die Furcht, ich würde hungern müssen. In Berlin war Mommsen trotz einem Rufe nach Leipzig geblieben; Haupts Tod hatte ihm die Stelle als Sekretar der Akademie freigemacht; für das nächste Jahr war er zum Rektor erwählt. Bei ihm konnte ich auf einen freundlichen Empfang rechnen, bei ihm lernen zu können, nicht seine römische Wissenschaft, sondern Wissenschaft überhaupt, war die große Hoffnung. Es verstand sich von selbst, daß ich ihm mein erstes Buch widmen müßte. Die Habilitation ging glatt; bei der lateinischen Antrittsvorlesung, die nach dem tatsächlichen Schluß der Vorlesungen stattfand, war außer dem Dekan nur Mommsen und der Studiosus Oldenberg zugegen, der damals noch vertrauter Schüler Mommsens war1. Zum Herbst fand ich eine schöne Wohnung in der Matthäikirchstraße bei den selben Vermietern wie Friedrich Matz, eben als a.o. Professor nach Berlin berufen. Der nächste Verkehr mit ihm war schon örtlich geboten, und da er Jahns Schüler und Stipendiat gewesen war, durfte auf harmonischen Verkehr zuversichtlich gerechnet werden. Ein Privatdozent führte sich damals durch eine öffentliche Vorlesung ein, das belastete nicht sehr, auch gesellschaftliche Pflichten waren zuerst nicht stark; aber häusliche Verhältnisse nahmen Zeit in Anspruch. Es ward mir schwer, mich einer Einladung nach Italien oder Südfrankreich zu erwehren; meine Tante Emma, gewohnt zu herrschen und bereit, sich sehr erkenntlich zu erweisen, konnte nicht einsehen, daß ich durch eine Stellung ohne Gehalt mich gebunden[169] fühlte, so daß ich ihre Gunst verscherzte. Im Jahre 1875 ward mein Vater vom Schlage getroffen und hat noch zwölf Jahre siech, meist in Bädern gelebt.

Von den alten Freunden war Bardt nun verheiratet und in seinem Hause lebte die Erinnerung an Rom weiter. Wichtiger noch war, daß Leo als Probekandidat an das Joachimstal kam und wir zumal im nächsten Jahre viel und eingehend lasen, Platons Gesetze und die Schrift πεγὶ ὕψους, die schon in Rom behandelt war. Das Ergebnis war nicht gering2. Zu Weihnachten sandten wir ein neckisches Gedicht an die casa Tarpea, das wehmütig schloß:


Klingt denn ein Reim, keimt ein Gedanke

Verbannten uns am Strand der Panke?

Nur wer im Licht wohnt möge dichten3:

Uns deckt die Nacht: wir schweigen und verzichten.


Diesmal war dort noch eine blühende Ragazzerie, 1875 klagte Henzen bereits über Cliquenwesen und Zerfall.

Ich hatte wohl Grund zu trüber Stimmung, denn kaum hatte sich zwischen Matz und mir das Verhältnis freundschaftlich gestaltet, so erkrankte er, längst lungenleidend, und bald war galoppierende Schwindsucht nicht zu verkennen. Wie sich von selbst verstand, suchte ich ihm alles zu Liebe zu tun. Eine Tante kam auch öfter, aber nicht immer beruhigend. Er sehnte sich nach Licht und Leben, aber bald täuschte er sich nicht mehr und rüstete sich zum Scheiden. Ich las ihm manches vor, und einmal bat er in starkem Fieber, ich sollte recht viele Kerzen anzünden und dann Goethesche Lieder vorlesen, Braut von Korinth, Gott und Bajadere. Warum widerstehen? Warum[170] nicht eine der wenigen Lebensstunden noch glücklich machen, selbst wenn es einige unglückliche Tage kostete. Aber da mußte die Tante dazwischen fahren: sie war sehr fromm, unser Gebaren war heidnisch; es ward gewünscht, daß ich in die Weihnachtsferien führe. Nach wenigen Tagen rief mich die Todesnachricht zurück und ich bekam mit der Sorge für die Leiche und die Bestattungsfeier, zu der ich meine Zimmer zur Verfügung stellte, viel zu tun. Ehe der Sarg geschlossen war, kam die Tante und brachte ein Neues Testament; das mußte in den Sarg kommen. So haben die ägyptischen Christen, sei es als Reiselektüre, sei es als Zauber wie die Ägypter das Totenbuch, heilige Schriften mitgenommen; wir verdanken dem die Reste des Petrusevangeliums. Der berühmte Prediger, der in meinem Schlafzimmer Toilette machte, erkundigte sich bei mir, ob und durch wen die »sinnige« Handlung vollzogen wäre, und quittierte in seiner Rede dafür durch ein Lob der »unbekannten« frommen Hand. Als ich nach einigen Tagen mit den Eltern von Matz in jenes Haus zu Tisch geladen war, saß ein halbwachsener Junge am Katzentisch, wir wären ja sonst dreizehn gewesen4. Solche Erfahrungen, wie die ganz Frommen vor und hinter den Kulissen agieren, hatte ich noch nicht gemacht. Den Eltern, die einen so hoffnungsvollen Sohn verloren hatten, jedes Geschäft, jede unbequeme Verhandlung abzunehmen, war ich gern bereit. Es zog sich durch Monate hin.

Ich siedelte in die bequemere Wohnung von Matz hinüber und freundete mich mit den Wirtsleuten an. Die Frau war von guter Herkunft, der Mann Geldbriefträger, alter Unteroffizier. Sie hatten nur ein Töchterchen, das am Typhus schwer erkrankte; ich habe manches Mal an ihrem Bettchen gesessen. Der Mann kam zu mir in Verzweiflung, er habe einen Geldbrief verloren, müsse die ziemlich hohe Summe ersetzen. Ich gab ihm das Geld, obgleich es mir schwer war, und traute ihm. Die Wohnung haben nach mir Robert und Kaibel bezogen; da wiederholte sich das Fehlen eines Geldbriefes, die Unterschlagung kam heraus, der Mann ins Gefängnis. Robert, der sich ein Haus baute, nahm Frau und Tochter aus Mitleid in die Portierwohnung. Aber nach einiger Zeit mußte er sie hinauswerfen, denn die Tochter war Hure geworden. Eine traurige Erfahrung.

In den Osterferien machte ich eine Offiziersübung, nicht zur Freude; ich hatte viel verlernt, die bekannten Offiziere waren zu gutem Teile fort oder[171] so hoch avanciert, daß ich auf die ganz jungen angewiesen war, unter die ich nicht paßte und deren Lebensführung mich abstieß. Es ward gespielt, was früher die Regimentskommandeure unterdrückt hatten. Als ich wenige Jahre darauf zur Landwehrübung kam, waren manche Spieler verschwunden. Wie 1870 mußte ich daneben Korrekturen lesen, diesmal von meiner Habilitationsschrift, dem ersten Buche.

Zu gleicher Zeit kam Lüders mit seiner jungen Frau, einer ebenso anmutigen wie tapferen Griechin, die ganz deutsch geworden ist, die Töchter natürlich nicht. Lüders war bei der Gründung des athenischen Institutes der erste Sekretär geworden, aber er über warf sich sofort mit der Zentraldirektion und sah auch selbst ein, daß er der Aufgabe nicht gewachsen war. Er entschied sich für die Konsulatskarriere, was eine Vorbereitungszeit erforderte, die ihm peinlich genug war. Die Frau hielt mit heiterer Selbstverleugnung aus, obwohl der Gegensatz zu dem reichen Leben, aus dem sie kam, stark war. Es dauerte nicht lange, bis Lüders von einem unbefriedigenden Konsulatsposten als Erzieher des Kronprinzen Konstantinos nach Griechenland berufen ward.

Die archäologische Gesellschaft war immer erfreulich durch das Zusammentreffen mit Menschen, die man sonst nicht sah. Der Erbprinz von Meiningen, damals bei den Gardefüsilieren, fehlte selten. Mir war Victor Hehn besonders merkwürdig, denn sein berühmtes Buch »Kulturpflanzen und Haustiere« hatte mich entzückt; sein »Italien«, das jeder lesen soll, der das Land besuchen will, war noch nicht erschienen. Er kam nach dem gemeinsamen Essen noch in den Schwarzen Bären mit. Nur zögernd zog ich die Zigarrentasche heraus, als ich gerade neben ihm saß, denn er hatte das Rauchen in seinem Buche als barbarisch hart verurteilt. Da lachte er vergnügt, steckte sich eine schwere Havanna an und sagte: »Warum nicht? Wir sind doch Barbaren?« Selbst warf er nicht oft eine Bemerkung in die Unterhaltung, aber sein Mienenspiel zu beobachten reichte hin, eine scharfe Kritik herauszuerkennen.

Die Ausgrabung von Olympia kam allmählich in Gang, das hielt die Gemüter in Spannung. Im Museum war eine neue Hand, die einen kräftigen Besen führte, dringend nötig. Bötticher hatte die Gipse neu angestrichen, so wie die Griechen alljährlich die Inschriftsteine neu kalken, die in den Kirchen und Häusern eingemauert sind. Der hellenistische wundervolle Dornauszieher war angeboten und ausgestellt; Menzel bewunderte und zeichnete ihn, aber die Museumsverwaltung wollte von einem so realistischen Bengel nichts wissen: nur der Spinario des kapitolinischen Museums genügte den klassizistischen Anforderungen. Ich will keine weiteren Skandale ans Licht ziehen, die der Numismatiker A. von Sallet geflissentlich kolportierte.[172] Auch die ersten Platten vom Zeusaltar in Pergamon, die Humann schickte, erregten Kopfschütteln. Es ist nicht sicher, daß die Ausgrabung beschlossen wäre, wenn nicht Conze aus Wien Rettung gebracht hätte. Der große Aufschwung der Museen ist aber erst das Werk von Richard Schöne, dem Generaldirektor, der über allen stand, weil er sich persönlich zurückhielt und jedem Fähigen freie Bahn schuf. Seine alles überragenden Verdienste sind eben darum niemals genügend anerkannt worden. Ich kam noch in sein Haus, als er zunächst Referent im Kultusministerium geworden war. Conze kam erst, als ich Berlin verließ.

Die gesellschaftlichen Verpflichtungen mehrten sich. Es bestand ein akademischer »Kyklos«, der im Sommer Ausflüge unternahm, und zu den Familien wurden auch Privatdozenten herangezogen, wie denn überhaupt der verkannte und in den Schatten gedrängte Privatdozent in das Reich der akademischen Mythologie gehört. Wer so empfand, hatte es sich selbst bereitet. Heinrich Kiepert war ein besonders eifriges Mitglied, und ich gewann die Gunst des etwas seltsamen, sehr berlinischen Herrn5, ohne dessen Karten das lateinische Corpus und überhaupt die historische Geographie gar nicht hätte leben können. Curtius und Mommsen fehlten selten, Kirchhoff kam natürlich nicht, aber ich verkehrte bei ihm und widmete ihm noch eine lebhafte Verehrung. Er lebte mit seiner viel älteren Frau und einer Schwägerin zusammen; wie die Ehe zustande gekommen war, ist wohl bekannt, ich halte mich nicht für berechtigt, es zu wiederholen. Die Damen waren sehr musikalisch und veranstalteten Musikabende. Er war unempfänglich und schritt während der Vorträge in seinem Studierzimmer schweigend auf und ab. Ich wunderte mich über seine wenigen Bücher und erfuhr, daß er alles verkaufte, was er nicht mehr brauchte. Den Plotin hatte er ganz abgetan; ihn interessierte nur, was er gerade trieb. Pflichtmäßig erklärte er den Pindar, aber sprach offen aus, daß er sich nichts aus ihm machte.

Vahlen kam von Wien, fand sich aber nicht schnell in die andere Art und Vorbildung der Studenten. Seine starke Wirkung fällt erst in die letzten 70 er und die 80 er Jahre, ebenso seine schönsten Programme. Er gab im Verkehr überhaupt wenig aus; immerhin begründete sich ein freundliches Verhältnis, das ich auch als Kollege trotz allem aufrecht zu halten vermocht habe, allerdings ohne den Verkehr mit seiner dritten Frau aufzunehmen.

Das Haus Curtius war so anziehend wie immer, aber ich hatte nun zu viel gesehen und gelernt, um in ihm den Historiker und den Archäologen[173] hoch zu werten, und der berühmte Mann ersetzte mir das nicht. Ich hatte auch angefangen mich selbst mit attischer Topographie und Stadtgeschichte abzugeben. Er aber vertrug keine Abweichung von seinen Lieblingsmeinungen. Zu Emil Hübner führte schon der Hermes; er schickte mir einzelne Beiträge zur Beurteilung oder vielmehr Abweisung. In seinem Hause zog die liebenswürdige Frau und die blühenden Kinder an, und vor allem bekam ich den hochverehrten J.G. Droysen, ihren Großvater, zu sehen und von seinem sprühenden Geiste einiges zu erhaschen. Er war ja auf andere Gebiete übergegangen, aber hatte wohl schon die neue Auflage seines Alexander und der Diadochen im Auge. Selbst als ich von Kallimachos sprach, sagte er: »ich bin jetzt anderweitig verheiratet, aber ich treibe immer noch einige Buhlschaft mit meiner Jugendliebe.«

Durch Mommsen kam ich in die Häuser von Bonitz und Hercher, dessen Witz sich gern an allen Fachgenossen rieb. Müllenhoff war mir freundlich, Nitsch ebenso, auch Zeller lernte ich kennen: wahrlich, es war eine stolze Reihe von Männern, bei denen ein Anfänger genug zu lernen fand; ich gedachte das noch länger fortzusetzen, durch die Vorlesungen mich in immer mehr Gebiete einzuarbeiten; ein Buch zu schreiben lag mir ganz fern.

Über alles ging, wie natürlich, daß ich mit Mommsen in nahem Verkehre blieb, nun auch in sein Haus eingeführt. Gleich bei der Übernahme des Rektorates, 1874, hielt er eine bedeutende Rede, deren Urteile mir aus dem Herzen kamen. Seltsamerweise hat er sie nicht weiter verbreitet, wohl gar zurückgezogen; aus Vahlens Exemplar ist sie in seinen Reden und Aufsätzen gedruckt. Es wird wohl Anstoß erregt haben, daß er erklärte, auf den Visitenkarten der Studenten den studiosus historiae ungern zu sehen, und was er weiter an philologischen und juristischen Forderungen erhob. Zu viele alte Historiker juckte es, und dann suchen die Betroffenen nicht sich selber zu kratzen. Die Rede ist immer noch zeitgemäß und wird es bleiben. Er erwies mir die Auszeichnung, mich zu einem kleinen vornehmen Rektoratsdiner im Hotel de Rome zuzuziehen, das ein jähes Ende nahm: er fiel in Ohnmacht. Als er zu sich gekommen war, erhielt ich den Auftrag, ihn nach Hause zu bringen, wo der Unfall womöglich nicht bekannt werden sollte. Auf der langen Fahrt nach Charlottenburg sprach er unaufhörlich mehr zu sich selbst als zu mir, sprach, was er niemals wissentlich einem fremden Ohre anvertraut haben würde, Stimmungen, Hoffnungen, Ansprüche, Reue. Hüllen der Seele fielen. Nie und zu niemandem ist auch nur eine Andeutung von dem über meine Lippen gekommen, was ich wider seinen Willen, sein Bewußtsein gehört hatte, nie werde ich ein Wort verraten. Aber ich gelobte[174] ihm die Treue für Leben und Tod, die ich gehalten habe. Der Unfall hatte keine Folgen. Seine Rede bei der Enthüllung der Tafeln mit den Namen der gefallenen Studenten war ein ganzer wohlverdienter Erfolg, wenn auch seine Stimme die Aula nicht füllte.

Bei seinen Arbeiten konnte ich ihm nicht helfen, nur gab er mir ein Stück lateinischer Prosa, das Niese von einem Pariser Palimpsestblatte abgeschrieben hatte. Es kostete Mühe, eine quintilianische Deklamation zu finden6. Aber eine schwere ehrenvolle Aufgabe legte er auf meine Schultern, die Sammlung von Haupts Opuscula. Das war an sich erziehlich, denn die Gelehrten sind zu leicht geneigt, nur zu treiben, wozu sie Lust haben, womöglich auch in den Vorlesungen. Darum sollte jeder zu Anfang eine Aufgabe zugewiesen erhalten, die er machen soll, weil sie gemacht werden muß. Fertig werden muß sie auch: das Meisterstück in unserm Handwerk. Ich hatte es damit nicht leicht. Es gehörten ungedruckte Reden dazu, über deren Auswahl zu entscheiden war, die Kollegienhefte mußten durchgesehen werden, Adversaria waren vorhanden, die Ränder der Handexemplare enthielten Notizen und Konjekturen. Die Bibliothek war verkauft; ich fand bei dem Antiquar noch manche Autoren mit ähnlichen Eintragungen und kaufte für schweres Geld, was sich als nutzlos erwies. Arbeit war es genug; öffentliche Anerkennung habe ich wenig gefunden. Aber diesem Auftrage verdanke ich, daß ich die lateinische Literatur in einem Umfange gelesen habe, wie es sonst schwerlich geschehen wäre, denn ich wollte verstehen, was ich herausgab. Nicht gering schlage ich auch an, daß ich Salomon Hirzel kennenlernte, sogar zu ihm nach Leipzig fuhr, der sich nicht nur als ein vorbildlicher Verleger, sondern auch als Freund um Haupt bemühte, sogar an der Korrektur teilnahm. In dem Nachlaß befand sich eine saubere Niederschrift der historia Apollonii Tyrii; ich dachte, es wäre die Ausgabe zu der Abhandlung, die ich zuerst herausgab, aber es war nur eine Abschrift des Welserschen Druckes, dem Haupt besonders vertraute. Es ist mir nicht sicher, daß Rieses Textbehandlung das Richtige trifft. Außerdem fand sich eine Ausgabe der Bucolica des Calpurnius und Nemesianus vor, die mir die Vollendung zu verdienen schien, aber die Handschriften waren nicht genügend, zum Teil gar nicht verglichen. Ich war so leichtsinnig, die Ausgabe zu versprechen, bin darum 1876 nach Italien gereist, hatte das wichtigste Material, da erschien die Ausgabe von E. Bährens und brachte die volle Überlieferung. Das verbot die Herausgabe, so anfechtbar die Kritik von Bährens war. Es ist später durch Schenkel und eine reiche Rezension von Leo das Nötige für die Gedichte[175] geschehen, von denen ich Calpurnius einmal im Seminar vorgenommen habe. Das ist fruchtbar, da es in den neronischen Kunstbetrieb einen guten Einblick gewähren kann.

Als Dozent glückte es mir, zu den Studenten in das rechte Verhältnis zu kommen. Zwar in der ersten Privatvorlesung hatte ich nur drei Zuhörer, auch wohl zwei7, aber zweistündige Publika wurden sonst kaum gehalten, da war die Vorlesung voll, so daß wir mehrmals in ein größeres Auditorium ziehen mußten, und im Winter 1875 hörten so viele, daß Vahlen etwas gekniffen dazu gratulierte. Die Hauptsache aber war, daß ich in meiner Wohnung Übungen hielt, denn so etwas gab es gar nicht und wir hatten Freude aneinander. Die Philologen waren gerade zahlreich und unternehmend genug, einen Philologenball zu veranstalten, zu dem die Dozenten nebst ihren Damen geladen wurden und gern erschienen. Da mußte ich in das vorbereitende Komitee eintreten. Für den Ballsaal war meine Befähigung mehr als gering, aber es sollte für Mommsen eine lateinische, für Kirchhoff eine griechische Inschrifttafel aufgestellt werden. Dabei konnte ich helfen, für Kirchhoff an einem Psephisma, für die andere Tafel verfertigte ich Saturnier.


Triumpe Venerus gnate verginum custos

duonoru pilologorum maxume praisol usw.


So war alles im besten Gange, ich verlangte nicht nach einer Veränderung. Da bot mir Geheimrat Göppert, der Referent, ein Extraordinariat in Breslau an. Das habe ich ausgeschlagen; Mommsen wird wohl dafür gesorgt haben, daß die vorgesetzte Behörde nicht verstimmt ward; den Breslauer Kollegen kann ich es nicht verdenken, obgleich ich nichts gegen Breslau hatte, sondern nur noch lernen wollte. 1875 erreichte mich in Markowitz an meinem Geburtstage die entscheidende Nachricht, daß ich als Ordinarius nach Greifswald berufen würde. Da gab es kein Besinnen. Am 15. Januar 1876 hat Kaiser Wilhelm mein Patent unterschrieben.

1

Er hat noch über die Arvalen promoviert, aber im Doktorexamen schon Sanskrit als Nebenfach genommen. Bei der öffentlichen Disputation griff Mommsen eine seiner Thesen an, widerlegte sie, und Oldenberg gab seinen Irrtum zu. Sofort erklärte Mommsen sein Bedauern, daß er nun nicht promoviert werden könnte, weil auf dem Diplom stehen mußte postquam sententias controversas strenue defendit. Als sich das Gelächter gelegt hatte, fuhr er ernsthaft fort und sprach die Wahrheit aus, daß Oldenburg sich als Doktor gerade erst recht bewährt hätte, weil er einen Irrtum rasch erkannt und ohne Umschweife zugestanden hatte.

2

Hermes X. Kaibel hat mich immer wieder aufgefordert, die Schrift zu erklären, auch noch, als er den von unverantwortlichem Mangel an Stilgefühl zeugenden Einfall abwies, der sie dem Longin beilegen wollte. Immer wieder prophezeite er, du tust es doch noch. In der Tat würde ich es gern tun, denn die Schrift ist geeignet in die Frühzeit des Klassizismus einzuführen, wo die hellenistische Sprache noch einwirkt, der Anschluß an Platon überwiegt und freie Bewegung nicht erstarrt ist. Der Verfasser ist nicht gelehrt, scharf zu denken ist nicht seine Sache. Sehr verkehrt, wenn seine starken Anleihen bei dem Gegner Caecilius geleugnet werden. Aber der Geschmack ist sein Eigentum, er ist kein Pedant, kommt gar nicht von der Rhetorik her oder doch nur von einer, die unter der Philosophie steht, vermutlich rhodische Schule, Nachfolge des Poseidonios. Schön schreiben will er, daher er in seiner Behandlung oft eine Probe von dem ὑψηλόν gibt, das er gerade behandelt. Vahlen hat Jahns Ausgabe öfter erneuert, manches Falsche ausgeschieden, aber selbst auch nicht eine Verderbnis gehoben. Ein Textabdruck ist nicht nötig, wohl aber eine Erklärung, die tiefer gehen muß als die von Roberts, der das sprach- und stilhistorische Problem gar nicht erfaßt hat.

3

Diese Verse weiß ich noch; das Gedicht besitze ich nicht. In Rom versuchten sich die ragazzi daran, unsere Anteile zu unterscheiden, haben aber zu unserer Belustigung fast immer fehlgegriffen.

4

Als junges Ehepaar haben wir in Greifswald immer so viel Gäste geladen, daß wir 13 wurden, zunächst weil wir nur so viele Bestecke besaßen, aber uns machte es auch Spaß, dem Aberglauben entgegenzutreten, den ich durch die Erklärung beruhigte, ich wüßte bestimmt, daß der Wirt zuerst sterben müßte.

5

Als junger Mann war er Welcker auf seiner griechischen Reise begegnet, nach dessen Schilderung eben so berlinisch.

6

Hermes XI, 118.

7

Eine fatale Erfahrung war, daß einmal ein Strolch von der Straße sich in das Auditorium gesetzt hatte, um in warmer Stube seine Stullen zu verzehren. Ich habe ihn gewähren lassen. Es kamen manche Unbefugte in die Universität, wie das in Berlin unvermeidlich ist. Frauen war der Zutritt ganz verboten, und doch haben sich sehr bedenkliche in eine, ich glaube öffentliche Vorlesung von du Bois Reymond gedrängt, deren physiologisches Thema sie reizen konnte. Die Sprache der Anschläge war nur lateinisch. Auch Scholem nomine Brühl versicherte in gewählter Sprache, daß er für vestimenta vetusta die höchsten Preise zahlte. Ich würde mich dessen schwerlich erinnern, wenn der Anschlag nicht in einem lustigen Couplet des Wallnertheaters in Musik gesetzt erschienen wäre.

Quelle:
Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Erinnerungen 1848–1914. Leipzig 1928, S. 168-176.
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