Mein Schwesterchen

[172] Da doch immer eine gewisse Reife dazu gehört, die Vorzüge eines fremden Ortes zu würdigen, so ist anzunehmen, daß meine kleine schwarzäugige Schwester nur geringen Vorteil von ihrem Ballenstedter Aufenthalte haben konnte. Es mochte ihr etwa wie den Leuten gehen, die ohne genügende Vorkenntnisse nach Italien reisen und dort im besten Falle nichts anderes finden, als was man überall fürs Geld hat, nämlich Nahrung, Obdach und gute Freunde.[172]

An alledem fehlte es denn auch nicht in Ballenstedt, und die anspruchslose Reisende schien ganz zufrieden. Sie war mit einigen gleichalterigen Knospen bekannt geworden, besuchte und wurde besucht, machte sich mit ihren Freundinnen kleine Kuchen von Milch und Semmel mit geringer Zutat von Zucker oder von Korinthen, küßte und stritt sich mit ihnen und trieb's wie andere Kinder. Doch war sie anders als die meisten anderen kleinen Mädchen. Gedankenvoll und ernst und voller Energie des Vorstellungsvermögens, war ihr Spiel in allen Fällen volle Wahrheit. Namentlich wenn sie allein war, konnte sie so wahrhaft mütterlich und innig mit ihrer dicken, einst vor den Franzosen geborgenen Puppe Sally verkehren, daß sie mir, obgleich ich selbst Phantast und Komödiant war, ebenso betört vorkam, wie etwa ich dem Hauptmann Voß erscheinen mochte. Allen Ernstes glaubte sie dann Mutter zu sein und wirtschaftete rastlos flüsternd in Ecken und Winkeln mit ihrem Kind, ganz unbekümmert um die Gesellschaft der Großen, wenn diese auch noch so angeregt und laut war.

An einem Novemberabende besprach man in dem kleinen Teezirkel der Eltern die traurige Lage des von den Franzosen immer noch besetzten Dresdens. Die Briefe des Bankiers Kaskel waren ausgeblieben, aber die Zeitungen berichteten Grausenvolles. Hungersnot und Elend aller Art hatten in der belagerten Stadt fast die Grenzen der Möglichkeit erreicht. Aus Düngerhaufen wühlte das arme verhungerte Volk Kartoffelschalen und anderen Wegwurf, und dazu wütete das Lazarettfieber in allen Klassen der Bevölkerung, wöchentlich an fünfhundert Menschen dahinraffend. Die Gesellschaft war in betrübter, sorgenvoller Stimmung, Madame Kaskel aufs äußerste beängstigt, und selbst wir Knaben waren einigermaßen betreten über das Schicksal unserer armen Heimatstadt.

Da flog die Türe auf, und herein trat ein Bekannter, der joviale Assistenzrat Gottschalk, der sich später durch sein Werkchen über die Harzburgen und durch sein Adelslexikon bekannt gemacht hat, hastig verkündend, daß Dresden über sei; die Garnison habe sich den Österreichern mit allem Kriegsgerät ergeben. Das war nun ganz was Prachtvolles. Mein Vater schickte nach Champagner, und Gottschalk wurde gefeiert und umhalst, als wenn er Dresden selbst befreit hätte. Da es inzwischen[173] an einem Stuhle für ihn fehlte, so entfernte Beckedorff die Puppe Sally, welche auf einem noch vakanten Sessel unter Schals und Tüchern begraben war, und rückte diesen an den Tisch.

In demselben Augenblicke aber schoß auch meine kleine Schwester schon aus irgendeinem entfernten Winkel herbei und barg, Zeter schreiend, ihr Gesicht im Schoß der Mutter. Die ganze Gesellschaft war erschrocken; alle fuhren auf und drängten sich, den Schaden zu besehen. Man war der Meinung, das Kind habe sich verletzt, vielleicht ein Auge ausgestoßen, und es dauerte lange, ehe es der Mutter gelang, die krampfhaft Weinende aufzurichten, zu besehen und zum Sprechen zu bewegen. Endlich wurde unter Schluchzen und Verschlucken der folgende Jammer offenbar: die am Scharlach schwer erkrankte Puppe Sally hatte im größten Schweiß gelegen, und während nun die arme Mutter, die niemanden zu schicken hatte, selbst nach der Apotheke gerannt war, hatte Beckedorff das todkranke Ding aus seinen Decken gerissen und es im bloßen Hemde aufs kalte Fensterbrett gelegt. »Und nun«, schloß die verzweifelte Mutter und erstickte fast an diesem Satze, »und nun hat Sally sich gewiß erkältet!«

So ernsthaft war die Szene, daß niemand lachte. Vielmehr war jedermann bemüht, zu trösten und Mittel anzugeben, wie die Erkältung unschädlich zu machen sei. Auch mag hier noch bemerkt werden, daß die Puppe von allen nachteiligen Folgen verschont blieb.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 172-174.
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