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[104] Lubine, 30. Sept. 14.


Liebe Maria, heut sitz ich, matt wie eine Fliege, in der schönen Herbstsonne vor der Türe (nur leider nicht meines Hauses und nicht neben Euch!!). Meine Darmgeschichte ist recht übel. Durch eine Hungerkur von 48 Stunden (nur 3 weiche Eier u. paar Löffel Haferflocken) hab ich mich, glaube ich, etwas gebessert, aber man wird schwach wie ein Kind davon. Der Arzt ist gestern nicht mehr gekommen; ich erwarte ihn jetzt. Sobald man sich nicht ganz wohl fühlt, erscheint einem der Krieg doppelt furchtbar u. elend. Gestern traf hier bayr. Landsturm ein, Männer mit grauen Bärten; nachts mußten sie schon Schützengräben graben, heut seh ich sie den Berg bei Lubine ersteigen, auf dem sich bewaffnete Zivilisten gezeigt haben! Diese alten Leute kämpfen zu sehen ist schon traurig. Wie viele gesunder Männer mögt Ihr wohl noch in Deutschland haben! Wir halten uns hier nur mit Mühe; wir sind zur reinen Grenzschutztruppe umgewandelt; ob wir uns dauernd auf französ. Boden werden halten können, erscheint mir sehr zweifelhaft. Unsre meisten Pferde sind ungefähr im selben Zustand wie ich heute, matt und arbeitsuntüchtig. Heute habe ich auch keine andere Sehnsucht als Du, Maria; neben Dir in meiner Loggia in der Herbstsonne sitzen, die roten Blätter vom wilden Wein sehen und saftiges Obst essen, Badewanne u. ein reines Bett. Man ist hier natürlich überall von den miserabelsten Gerüchen umgeben u. kommt im Dreck halb um; das alles empfindet man dreifach, wenn man tagsüber zu Hause bleibt u. sich krank fühlt. Ich wollte eigentlich keinen Klagebrief schreiben, aber ich glaube, ich bin zu müde, um was Vernünftigeres zu berichten. Sorgen braucht Ihr Euch deswegen gar nicht um mich. Die Magengeschichte ist gar nicht kompliziert; ich hab kein Kopfweh, es[104] geht kein Blut ab; ich hab auch keine Krämpfe, viell. ein bißchen Fieber, da ich beständig Durst habe u. ihn natürlich mit nichts löschen darf. – Also Sâles brennt an allen Ecken. Die Post holen wir jetzt in Bowy-Bruche. Alles muß nachts gemacht werden oder auf riesigen Umwegen, um unsre Stellungen nicht zu verraten und der Beschießung durch franz. Fuß-artill. zu entgehen. Wo die kronprinzliche Armee steht, ist uns ganz schleierhaft. Es heißt immer, sie drücke auf St. Dié u. Épinal herunter, um den uns hier bedrängenden franz. Corps den Rückzug abzuschneiden, aber aus alledem scheint nichts zu werden, ebensowenig als aus der raschen Entscheidung vor Paris. Wie lange mag das noch dauern! – Meine Lektüre sind hier alte französ. Journale (Juli 14, ohne die leiseste Vorahnung des Krieges; – es ist tragisch, an das ahnungslose schöne Paris von damals zu denken u. jetzt nach 2 Monaten!), dann fand ich Teile von Eugénie Grandet v. Balzac, das ich wieder mit Vergnügen lese. So verlebt, verträumt man seinen Herbst, fern von dem Herbst, den man sich vorgestellt und der uns eigentlich gehört. Wie schön muß mein Herbst in Ried sein! Ich freu mich heut schon auf das nächste Jahr! Ich verzweifle schon, Weihnachten heimzukommen, ich glaub es nicht. Ist die Hanni nicht wieder ausgerissen? [...] Meine nächsten Nachrichten werden wieder heiterer werden, auch wohl interessanter, sobald ich wieder gesund bin.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 104-105.
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