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[123] M. 23.XII 14.


Liebste, gestern abend feierten wir unser Soldatenweihnachten, – Kasernweihnachten; es war recht nett arrangiert, Baum und Lichter, Freibier, Tabak und kleine Geschenke, mit denen der Leutnant sehr liberal die Kolonne versorgte. – Wir hatten gestern ein kleines Exerzieren in der Umgebung von Mühlh., Besichtigung durch den General F., der sehr entzückt schien über ›die Bayern‹. Es scheint mir sehr sicher, daß wir bei dieser Division dauernd bleiben. Mir ist's ganz recht, wenn die Sache nur nicht allzu dauernd ist! Es scheint doch, daß die Deutschen mit dem Durchbruch warten müssen, bis sie Verstärkungen aus dem Osten heranziehen können. Die Hartnäckigkeit der Franzosen wird mir – politisch gedacht – immer rätselhafter. Der selbstmörderische Drang ist stärker als die politische Überlegung. Es ist unheimlich zu sehen, wie staatliche Interessenpolitik, die ein Werkzeug eines tieferen Willens ist, sich gegen sich selbst wenden muß, wenn dieser tiefere Wille es will! Das sind die sogenannten ›Fehler‹ in der Politik. Wir wollen geduldig sein und kein vorzeitiges, halbes Ende wünschen, wenn auch unsere ›Interessen‹ ein schnelles Ende verlangen. Wie sehr ich's verlange! Habt Ihr etwas von Wilhelm gehört? Ich vermute und hoffe, daß er jetzt einen ruhigeren Grenzdienst hat, nachdem sich der fabelhafte Enscheidungskampf so tief südlich abgespielt hat. Am russischen Schauplatz spielt sich der Krieg, wie ich ihn träume und deute, zweifellos nicht so rein ab, wie zwischen Deutschland und Frankreich. Rußland hat zuviel uneuropäische Elemente, um ganz im Kriegstaumel aufzugehen. Wie mag nur der Krieg mit England gehen? Daran denk ich immer und kann mir kein Bild davon machen. Gutes Neues Jahr, allen und uns beiden. Spiel nur schön Klavier und denk an mich, an uns beide.

Gruß Maman

Dein Fz. M.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 123.
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